Epilog
Die Räder des schweren, schwarzen Wagens knirschten leise auf dem Kies, als der Fahrer ihn langsam die Auffahrt hinunterlenkte. Karen kniete, die Arme auf die Polster gestützt, auf dem Rücksitz und blickte durch das dunkel getönte Heckfenster zurück. Ein flammend orangeroter Sonnenaufgang tauchte das Dach des Hauses in leuchtendes Rot und verwandelte den Himmel darüber in eine irreale Landschaft mit purpurnen Wolkenbergen, durch die sich tiefblaue Streifen des weichenden Sternenhimmels wie Flussläufe zogen.
Hinter den Fenstern des Salons und auch an der Eingangstür brannte noch Licht. Sie sah Denis kleiner werdende Silhouette winken, bis das Auto um die erste Kurve bog und das Haus hinter einer dichten Baumreihe verschwand. Nur noch das Dach war wenige Sekunden lang zu sehen. Erst nachdem die dunklen Blätter sich vor diesen letzten Blick zurückschoben, drehte sich Karen um und setzte sich.
Sie fühlte sich erschöpft und müde, aber auch so zufrieden wie nie zuvor. Bis eine Stunde vor Morgengrauen hatten sie in Denis Turm gesessen und geredet. Das Schweigen dazwischen war nur für Außenstehende leise. Bei dem Gedanken daran musste sie unwillkürlich lächeln.
Einen leisen Seufzer ausstoßend nahm sie die schwarze Mappe auf, die Lucas ihr zum Abschied gab. Die brauchte nun keiner mehr von ihnen. Die Bilder und Berichte darin waren endgültig abgeschlossen. In stiller Gewissheit, bald schon zurückzukehren, verließ sie das Haus der Hirudo.
Sie musste und wollte zurück nach Hause, wo Peter wartete und vermutlich schon ganz krank vor Sorge war. Sie machte sich jetzt noch keine Gedanken darüber, wie sie ihm erklären sollte, was in den vergangenen drei Nächten mit und in ihr geschehen war. Sie hoffte nur, dass er verstand.
Eine irrwitzige Hoffnung, denn wie sollte er etwas verstehen, das sie selber kaum begreifen konnte.
Sie wusste nur, dass der Abschied von Lucas, Denis und den anderen, kein Abschied für lange Zeit war. Zu vieles blieb noch zu erkennen und zu lernen. Die Welt, die sich endlich vor ihr auftat, war so voll an Wundern, die sie ohne Furcht und von ganzen Herzen erfahren wollte. Allein bei dem Gedanken an das, was noch alles vor ihr lag, wurde ihr ganz schwindelig. Das Sehnen in ihrem Herzen war wie ein Band, das sich mit jedem Kilometer, der sich zwischen sie und das Haus legte, fester zuzog. Doch so voll süßer Vorfreude, dass sie diese Sehnsucht genoss.
Nicht einmal die Erinnerung an Jarouts Angriff, der sie beinahe das Leben gekostet hätte, konnte diese Freude trüben. Er war weit fort. Lucas hatte ihr versichert, dass er weder ihr noch jemand anderem eine Gefahr war. Nein, er war nicht tot. Ihn zu töten hätte ihr Vater niemals zugelassen. Doch einer der Alten kümmerte sich um ihn. Was »sich kümmern« bedeutete, verriet er nicht. Und um ehrlich zu sein, interessierte sie sich auch nicht sonderlich dafür. Dass damit irgendeine körperliche Strafe gemeint war, konnte sie sich nicht vorstellen. Das entsprach nicht Lucas Art. Außerdem war jemandem wie Jarout, unter Beobachtung und Bevormundung zu stehen, Strafe genug.
„Würden Sie bitte die Scheibe schließen!“, bat sie den Chauffeur, der sie in dem von Lucas gemieteten Wagen bis nach London fahren sollte.
Ganz Klischee antwortete er nicht, sondern betätigte einfach nur die elektrische Vorrichtung, die dafür sorgte, dass sich mit leisem Summen eine blickdichte Glasscheibe zwischen Cockpit und Rücksitz schob.
Auch gut, dachte Karen. Einen Moment lang fürchtete sie mit ihrer Bitte ein Gespräch heraufzubeschwören, auf das sie nicht die geringste Lust verspürte.
Viel lieber wollte sie die Augen schließen und sich von dem leisen Brummen des Motors einlullen lassen und erst wieder aufwachen, wenn sie zu Hause war.
Sie wollte an Lucas denken und wie schon einmal von Denis Sonne träumen. Bilder heraufbeschwören, die sie in eine fremde Welt mit Purpurhimmel und zwei Monden trug, ihr den Rausch der unbändigen Macht ihres Blutes ganz nahe brachten.
Einmal noch öffnete sie ihre Lider, blinzelte in die heller werdende Sonne und die vorbeiziehende Landschaft. Sie sah weiß gekrönte Berge, die weit entfernten Häuser einer Stadt und das glitzernde Funkeln von Wasser. Das Traumbild dunkler Fluten, die sie warm umspülten, und das schmeichelnde Streicheln murmelnder Stimmen verdrängte den hellen Tag. Karen lächelte, denn sie kannte diese Stimmen - jede Einzelne. Ihre Namen, ihre Gesichter, alle Facetten ihrer Emotionen und Gedanken. Sie spürte sie mit jeder Faser ihres Körpers. Jetzt endlich spürte sie sie. Ganz nah. Ein auf immerwährender Teil von ihr. Mit ihren willkommen heißenden Armen zogen sie sie mit sich. Immer tiefer, bis hinunter an jenen Ort, den kein Sterblicher jemals vor ihr betrat. Und leise, ganz leise sangen sie die uralte und unsterbliche Linie ihres Blutes.
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