3. Kapitel

 

So fühlt man sich also, wenn sich eine Hoffnung erfüllt, die so unwahrscheinlich war, dass man gar nicht wirklich damit rechnete, dachte Karen. Sie fühlte sich dabei einfach nur verwirrt und unfähig, ihre Empfindungen in klare Gedanken zu fassen. Sie wollte sich kein einziges Detail entgehen lassen und versuchte sich diesen Moment, und vor allem den Anblick des Mannes neben sich, so deutlich wie möglich einzuprägen. Sie wollte jedes Härchen, jede noch so feine Schattierung seiner Haut wahrnehmen, um sich später ganz genau daran zu erinnern. Die Augen, die hellbraun, beinahe gelb, in dem künstlichen Licht der Straßenlaternen leuchteten, als er sie ansah und die dichten Wimpern, sobald er blinzelte. Seine Art mit den Händen zu gestikulieren, wenn er sprach. Das konnte unmöglich wirklich passieren. Ging sie tatsächlich neben und mit ihm diese Straße entlang?

Die Bar, in die er sie brachte, sah auf den ersten Blick sehr vielversprechend aus. Aber selbst, wenn es nicht so gewesen wäre, Karen wäre ihm auch in einen Holzverschlag gefolgt.

The Porch, stand in schlichten, schwarzen Lettern auf dem goldfarbenen Schild über dem Eingang. The Porch - das Tor - das Tor zu was?

Der Türsteher schien ihren Retter zu kennen, und durch ein kaum sichtbares Nicken gab er zu verstehen, dass sie passieren durften.

Ohrenbetäubende Musik dröhnte aus den Lautsprechern, und in dem finsteren Zwielicht rannte sie um ein Haar gegen einen der Barhocker. Er führte sie an einen kleinen, runden Holztisch, der intim, in einer von hohen Trennwänden abgeschirmten Ecke, vor fremden Blick verborgen war. Hier war die Musik nicht ganz so laut, und sie konnten sich in Ruhe unterhalten, ohne zu schreien.

Die roten Samtpolster auf der Bank, die den Tisch halb umrundeten, sahen edel und gemütlich aus. Er deutete ihr, sich zu setzen. Karen sah sich kurz um. Der Laden war wirklich eigenartig. Auch wenn er sich nicht so sehr von anderen in dieser Gegend unterschied – irgendetwas war anders. Die Stimmung, das Licht. Sie konnte nicht genau sagen, was sie daran irritierte.

«Setz dich, bitte! Ich werde uns was zu trinken bestellen, ja? Was trinkst du?»

Karen hob die Schultern. Im Grunde war ihr nicht danach zumute, etwas zu trinken, aber abzulehnen wäre wohl doch unhöflich gewesen.

«Wie wär's mit einer Cola?»

Sie nickte, worauf er seine linke Hand hob und der Bedienung winkte; eine atemberaubend schöne Frau, die sich mit bedachtsam gesetzten Schritten ihrem Tisch näherte.

Sie trug ein knöchellanges, hochgeschlossenes Kleid aus glänzendem dunkelroten Satin. Ihr hellblondes Haar war zu einem modischen Kurzhaarschnitt gestutzt. Sie war mindestens einsachtzig groß, und ihre Körperhaltung und der Ausdruck auf ihrem Gesicht, verriet kühle Arroganz. Auch wollten die feinen Züge nicht so recht zu ihrer Körpergröße passen. War sie auch eine von ihnen? Karen sah jedoch nichts in ihr, was darauf hinwies. Eigentlich sah sie überhaupt nichts und das weckte sie zumindest halbwegs aus ihrer doch eher dümmlichen Faszination und machte sie misstrauisch.

«Jarout!», begrüßte ihn die Blonde.

Das war also sein Name ... ein merkwürdiger Name. Französisch?

«Schön, dich mal wieder hier zu haben. Was treibt dich her? Doch nicht etwa die liebe Familie, oder?» In vertraulicher Geste legte sie ihm eine Hand auf die Schulter und ließ sie dort ruhen, während sie weiter sprach. «Wenn du etwas loswerden möchtest, können wir uns später sehen.»

«Vielleicht.» Seine Antwort klang weder abweisend, noch zustimmend, was ihre Hand von seiner Schulter vertrieb.

«Wie geht es deinem Vater? Er war ewig nicht mehr hier.»

«Es geht ihm gut, danke.»

Jetzt bekam seine Stimme einen gereizten Unterton. Gleichzeitig warf er einen raschen Seitenblick auf Karen, um die Vorsicht der Blonden zu alarmieren.

«Bring uns etwas zu trinken! Wir reden später», meinte er.

«Gut!» Damit drehte sie sich um und stolzierte davon. Sie schien wütend zu sein, und Karen beschlich das unbestimmte Gefühl, dass es allein ihre Anwesenheit war, die diese Wut provozierte.

Karen sah ihr nach, wie sie an die Theke ging, wo sie mit dem Barkeeper einige Worte wechselte, worauf der zu ihrem Tisch herübersah und nickte. Leider konnte sie nichts weiter erkennen. Die Sicht wurde von einem der Stützpfeiler verdeckt.

«Wie gefällt es dir hier? Ich komme schon seit Jahren her. Warum weiß ich auch nicht. Die meisten Leute hier sind scheußlich.»

Im gedämpften Halbdunkel sah sie ihn lächeln. Das Kinn auf die Hände gestützt, taxierte er sie mit neugierigen Augen. Er irritierte sie. Sie war immer noch wie verzaubert. Sie ängstigte sich, war neugierig und verliebt. Er war wunderschön.

Er war dunkel und gefährlich. Auch wenn er nicht das sein sollte, was sie sah, reichte sein bloßer menschlicher Körper aus, um ihn schlicht unwiderstehlich sein zu lassen. Und er hatte ihr geholfen und sie eingeladen, sie auserwählt ... Karen! Also, jetzt reicht's! rief sie sich zur Vernunft. Das fehlte gerade noch, dass sie anfing, sich wie eine dieser albernen Hühner zu benehmen.

«Na ja, nicht gerade herzlich. Neue Mitglieder im noblen Privatclub nicht erwünscht.»

Jarout warf lachend den Kopf zurück. Herrlich, sie hatte ihn tatsächlich zum Lachen gebracht.

«Ich weiß, was du meinst.»

Hatte sie vorhin durch seine Augen wirklich gesehen, was sie glaubte? Sie war überrascht, wie schnell und gründlich seine Abwehr gekommen war. Ganz so, als habe er schon Jahre Erfahrung sich vor derartigen Zugriffen in seine Gedanken und Emotionen zu schützen. Oder war es eine Art Instinkt?

Sie tat nur kurz einen Schritt in ihn, bevor er sich verschloss. Aber das reichte vollkommen aus, um ihr zu verraten, dass sie gefunden hatte, wonach sie in den letzten Wochen so verzweifelt suchte.

Gedanken zu Bildern und Emotionen geformt zeigten ihr wer und was er war – eine Kreatur! Unglaublich! Erschreckend! Noch vor wenigen Minuten hatte er gierig getötet. Ein Mädchen, schwarzes Haar. In schnappschussartigen Bildern konnte sie diese noch frische Erinnerung wahrnehmen. Sie konnte immer noch fühlen, wie großartig das Töten für ihn gewesen war. Karen musste ein Würgen unterdrücken, denn einen Moment lang glaubte sie sogar, den salzigen Eisengeschmack von Blut zu schmecken.

Ihre Mutter hatte beschrieben, wie Lucas tötete, aber nun erlebte sie es selbst. Einen flüchtigen Moment lang war sie versucht, aufzuspringen und davonzulaufen. Nach Hause, zu Peter, in Sicherheit. Doch dann wäre alles um sonst gewesen. Nein, jetzt wo sie endlich einen von ihnen gefunden hatte, konnte sie ihn nicht wieder gehen lassen.

Doch irrte sie sich auch nicht? War er wirklich eines dieser Ungeheuer aus den vielen Märchen. Rumänische Fledermaus in schwarzem Umhang? All dieser Blödsinn, wie im Sarg in kalter Gruft und Muttererde schlafen? Oder war er wie Lucas, der diesem abergläubischen Klischee laut ihrer Mutter auf gar keinen Fall entsprach. Normalerweise war sie nicht so leichtsinnig. Sich in die Welt eines anderen zu begeben, ohne die Regeln zu kennen, war immer gefährlich.

Während sie auf ihre Bestellung warteten, gewöhnten sich ihre Augen allmählich an das Zwielicht. Jetzt konnte sie erkennen, dass ihr Tisch neben dem Durchgang zu einem höhlenartigen Saal mit Tanzfläche stand. Karen beugte sich zur Seite, um mehr zu sehen. Gefärbtes Licht schwamm in bunten Wellen über wogende Körper. Eine Gesellschaft der exotischsten Modekreationen, die Londons Subkultur zu bieten hatte. Während ihrer Suche war sie häufig an Leute aus der Gothicszene geraten. Hier war augenscheinlich die Creme de la creme in aufwendigen und teuren Kostümen vertreten. Der hypnotische Rhythmus und die pulsierenden Klänge von Gesang und Instrumenten beschwor eine übertrieben apokalyptisch anmutende Atmosphäre herauf. Sie wusste nicht, was gespielt wurde, dafür kannte sie die bevorzugten Bands nicht, aber die Musik klang gut, und wieder einmal machte sich ihr Hang zur Dramatik bemerkbar.

«Karen!» Sie drehte sich um. Jarout legte seine Hand auf ihren Arm. Sie konnte sich gar nicht daran erinnern, ihm ihren Namen genannt zu haben, oder hatte sie es zwischendurch so beiläufig getan, dass es ihr selbst nicht aufgefallen war? «Kannst du bitte einen Moment auf mich warten? Ich bin sofort wieder da. Dauert nur 'ne Minute.» Sein Blick war eindringlich, und ein bittendes Lächeln umspielte seine Lippen. «Ja? Du wartest?»

«Ist okay, kein Problem.» Sie versuchte locker zu klingen, konnte sie doch kein Getue um ein paar Minuten machen. Aber sie war ganz und gar nicht einverstanden. Der Gedanke, ihn aus den Augen zu lassen, gefiel ihr überhaupt nicht. Vielleicht verdrückte er sich heimlich durch eine Hintertür oder durch das Toilettenfenster, und dann sähe sie ihn niemals wieder.

Das war albern. Wozu die Angst? War er etwa unfreiwillig mit ihr hier? Er war es doch, der sie einlud. Ebenso gut konnte er schon vor einer halben Stunde verschwunden sein. Dennoch kroch Furcht in ihr hoch, als sie ihn in der nebeligen Dunkelheit verschwinden sah. Einen Atemzug später tauchte seine Silhouette flüchtig vor hellem Neonlicht auf, als er eine Tür neben der Theke öffnete. Dann war er verschwunden, und die einzige Rauchwolke, die dabei zu sehen war, war die vom Trockennebel auf der Tanzfläche.

Dass es tatsächlich Vampire geben sollte, war absolut nicht auszudenken. Zu viel von diesem lächerlichen Schwachsinn über Dracula haftete ihnen an, und ließ allein schon die Vorstellung, sie könnten tatsächlich existieren, absurd erscheinen. Seltsam, doch sie glaubte nicht an sie. Karen musste sich eingestehen, dass ein gewaltiger Unterschied zwischen glauben wollen und tatsächlich zu glauben bestand. Dass sie in dem Bewusstsein groß geworden war, die Geister von Verstorbenen und die Gedanken der Lebenden zu sehen, änderte auch nichts. Das war etwas völlig anderes. Die waren schließlich mal Menschen gewesen. Aber Vampire? Verrückt, aber erst jetzt begriff sie, dass sich ihr Verstand vehement dagegen wehrte, eine nichtmenschliche Art auf Erden zu akzeptieren. Und da predigten weniger Begabte als sie, das Übernatürliche anzuerkennen. An Werwölfe, Elfen und Außerirdische zu glauben, sahen sie ganz selbstverständlich als Teil ihres Lebens.

Doch sie musste wohl oder übel zugeben, dass sie wach und Jarout sehr real war. Sie hatte gefühlt, was er getan hatte und konnte sich hundertprozentig auf ihre Sinne verlassen. Dennoch glaubte sie nicht an ihn. Nicht wirklich. Außerdem sah er nicht aus wie ein Vampir.

Er wirkte viel zu menschlich, und bis auf die auffallende Farbe seiner Augen war nichts Ungewöhnliches an ihm. Schwarzes Haar, eine beinahe kränklich wirkende, schlanke Figur, ein ausgesprochen hübsches Gesicht; sehr feminin, wie es ganz der Mode und zugegeben, auch ihrem Geschmack entsprach. Ein, wenn auch außergewöhnlich gut aussehender Mann Mitte zwanzig. Nichts, was ihn von anderen attraktiven Männern seines Alters nun so großartig abgezeichnet hätte.

Deutete sie ihre Eindrücke vielleicht nur falsch? Womöglich hatte sie nur eine Szene aus einem Film aufgeschnappt, den er gerade gesehen hatte, oder seine Fantasie glitt ein wenig ins Morbide.

Was war mit den anderen hier? Der Türsteher, die Bedienung? Beide benahmen sich, als wären sie seit Jahren mit Jarout vertraut. Die Frau erwähnte sogar seinen Vater. Karen blickte zur Bar. Dort stand ein blonder, junger Mann, der sich mit dem Barkeeper unterhielt. Ein gemütlich, vertrauter Plausch, wie ihn der typische Barmann dem Klischee nach zu halten pflegte. Sie versuchte in ihn hineinzusehen. Aber egal, wie sehr sie sich anstrengte, weder bei ihm, noch bei einem der Gäste, konnte sie auch nur die kleinste Emotion, geschweige denn, einen vollständigen Gedanken ausmachen. Merkwürdig, aber sie war blockiert, als läge eine unsichtbare Sperre zwischen ihr und ihnen. Sie konnte sich nicht erklären, woran das lag. Vielleicht an der Lautstärke der Musik? Das war durchaus möglich.

Die Bedienung kam an ihren Tisch und stellte zwei Gläser vor Karen ab. Sie ging ohne ein weiteres Wort, jedoch nicht, ohne ihr einen weiteren missbilligenden Blick zuzuwerfen.

Ziege, dachte Karen. Schließlich tat sie nichts weiter, als hier zu sitzen. Wenn das ausreichte, um sie für diese arrogante Schnepfe unsympathisch zu machen, bitte, dann soll es eben so sein.

Sie griff nach einem der Gläser und hielt es ins Licht.

Misstrauisch beäugte sie die dunkle Flüssigkeit, in der kleine Kohlensäurebläschen aufstiegen. Beinahe hätte sie laut gelacht. Was zum Henker erwartest du? fragte sie sich. Blut? Gott! Sie hätte sich ohrfeigen können. Jetzt geht deine Fantasie aber gehörig mit dir durch.

Sie wollte das Glas zu ihren Lippen führen, um einen Schluck zu nehmen, als ein Schatten über den Tisch fiel. Als sie aufsah, stand Jarout neben ihr.

Auf den ersten Blick bemerkte sie die Veränderung an ihm nicht. Erst als er den Kopf ein wenig schief legte, sodass das Licht von der Bar auf die linke Seite seines Gesichts fiel, erkannte sie, was er getan hatte.

Seine feinen, bleichen Gesichtszüge reflektierten das wenige Licht und leuchteten wie von innen heraus. Er hatte diese glatte, übernatürliche Blässe unter dunklem Make-up verborgen, und jetzt hatte er es abgewaschen, um das, was darunter zum Vorschein kam, wie einen Zaubertrick vorzuführen. Und dieser Trick funktionierte. Besser als jede ausgefeilte Bühnenshow. Sie war mehr als beeindruckt. Er sah jetzt auf gar keinen Fall mehr menschlich aus. Sprachlos bestaunte sie seinen Auftritt, und das ließ ihn erfreut lächeln.

«Weißt du, eigentlich hasse ich diese Maskerade», meinte er, und sein Lächeln nahm einen Zug an, der ihr um einiges zu überheblich erschien, als dass er ihr vorbehaltlos gefiel, «aber manchmal muss es einfach sein. Zu auffällig?» Dabei deutete er mit einer fahrigen Geste auf sein Gesicht. Dann streckte er seine linke Hand auffordernd in ihre Richtung und ließ aus der anderen einige Geldstücke auf die Tischplatte klimpern. «Wenn du willst, können wir jetzt gehen.»

Karen versuchte zu antworten, doch ihr zugeschnürter Hals brachte keinen Ton heraus. Sie nickte nur stumm und wehrte sich auch nicht, als er einfach ihre Hand ergriff und sie hinter sich herzog. Unbeholfen stolperte sie in Richtung Ausgang hinter ihm her.