5. Kapitel

 

«Warte! Bleib stehen! Ich will ... wissen ... ich will wissen, was du vorhast. Was willst du von mir?», japste Karen völlig außer Atem, doch Jarout reagierte überhaupt nicht auf sie. Er umklammerte ihre Hand mit eisenhartem Griff und zog sie im Laufschritt immer weiter die Straße hinunter. Weiter in eine schmale Gasse hinein und durch dunkle Gänge zwischen hohen Gebäuden hindurch. Wieder in eine andere Straße und immer noch weiter, sodass sie schon völlig die Orientierung verloren hatte. Er dagegen war ganz zielstrebig und schien genau zu wissen, wohin er sie führte. Karen konnte nur raten. Noch eine Bar? Eine Wohnung? Sie konnte einfach nicht mehr.

«Halt jetzt sofort an!» Mit einem einzigen, heftigen Ruck riss sie ihre Hand aus seiner. «Ich gehe keinen Schritt weiter, ehe du mir nicht gesagt hast, was hier gespielt wird.»

Im ersten Moment sah es aus, als würde er wütend werden. «Verdammt!» Doch dann beruhigte er sich sofort, und sein Gesicht bekam einen unschuldigen Ausdruck. Mit hochgezogenen Brauen sagte er: «Du kannst mir vertrauen. Ich werde dir nichts tun. Komm!» Das war eine Bitte, weder befehlend, noch grob. Doch sie war nicht bereit, sich noch einmal überrennen zu lassen. «Hey, du glaubst doch nicht, dass ich dich in die nächste Gasse zerre und verspeise? Du weißt, was ich bin, und du hast doch in mich rein gesehen. Wenn ich dich töten wollte, dann hätte ich's schon längst getan.»

Er wusste also, dass sie seine Gedanken gesehen hatte. Sie kam sich vor wie eine Diebin, die auf frischer Tat ertappt wurde. Doch wie konnte er sie bemerkt haben? Das passierte ihr noch nie.

Jarout lachte leise. «Keine Panik, ich beiße nicht.»

Karen wich einen weiteren Schritt zurück. Alles um sie herum schien ihr so unwirklich. Sie fürchtete, die Kontrolle zu verlieren. Wie in einem Fiebertraum dröhnte der Verkehrslärm in ihren Ohren, und die bunten Lichter schienen viel zu grell. Das alles musste ein Traum sein. Eine große Theatervorstellung nur für sie, und von ihrem eigenen, völlig übergeschnappten Verstand inszeniert.

«Hör auf damit! Hör sofort auf, mir so einen Blödsinn zu erzählen!»

«Was meinst du? Welchen Blödsinn? Karen, ich habe keine Zeit für irgendwelchen Blödsinn. Ich muss mit dir reden. Ja, und ich gebe zu, ich wollte dich kennenlernen. Aber ich kann dir unmöglich alles mitten auf der Straße sagen. Wir müssen ungestört reden.»

Er wollte sie kennenlernen? Das war geplant? Meinte er etwa ...?

«Dieser stinkende Kerl war von dir?!» Ihre Stimme überschlug sich vor Wut.

Mit den Händen machte er eine beschwichtigende Geste. «Nnjein, also gut, ja. Aber halt, warte, bevor du was Falsches denkst. Ich hatte keine andere Wahl. Ich dachte, du würdest mir nie und nimmer zuhören. Eine idiotische Idee und ...»

«Idiotisch? Der Kerl hätte mich beinahe zusammengeschlagen und du sagst, das war idiotisch? Na großartig. Ich glaub, ich spinne. Das darf doch alles nicht wahr sein. Du bist völlig irre!» Er versuchte, sie zu unterbrechen, doch Karen kam jetzt erst so richtig in Fahrt. «Ha! Und um ein Haar hätte ich an Vam ... Oh Gott, ich kann es nicht einmal aussprechen, so bescheuert ist das. Aber jetzt ist Schluss. Ich lass mich doch nicht von einem vollkommen Irren wer weiß wohin schleppen.»

Völlig außer sich vor Wut, stürzte sie sich auf ihn und versuchte ihm ins Gesicht zu greifen. «Wisch dir die Schminke ab und such dir eine von diesen Tussis, die auf so was wie dich stehen!»

«Hey, hey, hey, das reicht jetzt aber!»

In einer einzigen, gleitenden Bewegung duckte er sich, schnappte nach ihren Handgelenken und drehte ihr die Arme auf den Rücken. Ihr Schrei erstickte hinter seiner Handfläche. Hilflos, wehrlos und unfähig um Hilfe zu rufen, zappelte sie in seinen Armen und versuchte verzweifelt nach seinen Beinen zu treten. Doch nicht einmal das bekam sie hin, weil er sie hochhob und ihre Füße zwischen seinen Oberschenkeln einfing. Sie hing wie ein Fisch am Haken. Was hatte er vor? Panisch sah sie sich nach jemandem um, der sie vielleicht beobachtete und ihr helfen konnte. Doch da war niemand, und die Fenster der Häuser ringsum waren verschlossen und dunkel. Keine Menschenseele bekam mit, wenn er sie hier und jetzt einfach umbrachte. Dicht an ihrem Ohr hörte sie ihn leise lachen.

«Das hatte ich eigentlich nicht erwartet. Ehrlich gesagt, Karen, ich dachte, du wärst ein wenig umgänglicher.»

Gut, wenigstens hörte er sich an, als habe er doch einige Mühe, sie in Schach zu halten.

«Mhmhmh!?», machte sie.

«Schscht! Ich tu dir nichts. Halt still!» Sein Griff lockerte sich ein wenig, er ließ ihre Beine los, sodass sie wieder auf festem Boden stehen konnte. «Ich lass dich los, aber nur, wenn du versprichst, ruhig zu bleiben, mir einen Moment lang einfach nur zuhörst.» Er wartete kurz. «Versprichst du, nicht zu schreien oder wegzurennen?»

«Mhm?» Das sollte Ja heißen. Was blieb ihr anderes übrig, als darauf einzugehen und zu tun, was immer er verlangte? Doch sie hatte nicht einen Moment lang vor, ihm noch einmal Gelegenheit zu bieten, sie in die Finger zu bekommen.

Karen versuchte abzuschätzen, wie groß die Entfernung bis zur Straße war. Dreißig, vierzig Meter? Zugegeben, sie war keine besonders gute Läuferin, aber sie musste es wenigstens versuchen.

«Ich will dir helfen. Du suchst nach jemandem, den ich kenne, und wenn du ihn immer noch finden willst, dann solltest du diese Chance nutzen. Ich mache mein Angebot vielleicht nur einmal. Die anderen reißen mir den Kopf ab, wenn sie erfahren, was ich vorhabe. Vale ist ihre heilige Kuh. Also, was ist?»

Vale? Sagte er gerade Vale? Er wusste, dass sie nach Lucas suchte, und er kannte ihn? Sie glaubte zu spüren, wie der Boden unter ihren Füßen nachgab.

Sie wand sich in seinem Griff, der augenblicklich wieder fester wurde und ihr die Luft abschnürte.

 «Hier können wir nicht reden. Sie sind überall, und wenn einer von ihnen mitbekommt, was ich zu sagen habe, ist alles aus. Lass mich überlegen. Vielleicht? Hey, warte, ich weiß was, komm mit!»

Blieb ihr eine Wahl? Wenigstens durfte sie hoffen, dass er nicht nach ihrem Leben trachtete. Er hatte recht, wollte er ihr etwas antun, dann hätte er das schon längst gemacht. Kein beruhigender Gedanke, aber zumindest logisch.

Ohne sie loszulassen, schleppte er sie in eine belebtere, breite Straße, und schon wenige Schritte weiter, schien er gefunden zu haben, wonach er suchte. Vor der verspiegelten Auslage eines Juweliergeschäftes hielt er an.

 «Hier könnte es klappen!» Was meinte er? Wollte er einbrechen? Ein geschlossenes Juweliergeschäft, um ungestört zu reden? «Genau hier!», sagte er und ging zu der rechten Seite der Auslage, in der ein etwa fünfzig Zentimeter breiter und zwei Meter hoher Spiegel, anstelle einer Schaufensterscheibe eingesetzt war. «Mit richtigen Spiegeln ist es am leichtesten, weißt du. Und wenn ich dich mitnehmen möchte, dann könnte es woanders zu kompliziert werden.» Sie verstand kein Wort. Was redete er da über Spiegel?

«Ich möchte, dass du mir vertraust, Karen. Hab keine Angst, und vor allem darfst du mich nicht loslassen. Egal, was geschieht. Du darfst mich auf gar keinen Fall loslassen, verstanden!»

Langsam nahm er seine Hand von ihrem Mund. Erleichtert schnappte sie nach Luft. Endlich, sie hatte schon die ganze Zeit über das Gefühl, zu ersticken.

 «Wer zur Hölle bist du, dass du das alles weißt? Was bist du?» Ihre Stimme war kaum lauter als ein Flüstern, trotzdem legte er einen Finger an seine Lippen, um ihr zu bedeuten, still zu sein.

«Ich sagte dir, niemand darf uns hören. Kannst du jetzt bitte still sein und einfach nur tun, was ich dir sage! Bitte, ich bitte dich, mir zu vertrauen.»

Er ließ ihre Handgelenke los, sie drehte sich schnell um, ging zwei Schritte und hielt inne.

«Wenn du willst, kannst du gehen. Aber das hier ist vielleicht deine einzige Chance, ihn zu finden. Du hast die Wahl.»

Er schien jedes Wort ernst zu meinen. Aber, dass sie die Wahl hatte, glaubte sie immer noch nicht, auch wenn er sie nicht mehr festhielt. Aimee blieb auch keine Wahl. Letztlich behielt Peter wohl doch recht. Einmal mit Lucas Vale infiziert, erlag man unheilbar einer krankhaften Sehnsucht nach ihm. Was sollte sie machen? Wenn sie jetzt ging, könnte sie das vielleicht ihr Leben lang bereuen.

 «Gut, dann komm! Lass es uns versuchen!» Jarout machte einen Schritt auf sie zu. «Keine Angst, ich will nur ... Wir müssen dicht zusammenbleiben, sonst geht es nicht.»

Karen schluckte, als er seine Arme um sie legte. Sie war überrascht, wie vorsichtig diese Geste war. Jetzt wäre die Chance, sich loszureißen und wegzulaufen. Nur erschien er auf einmal wesentlich menschlicher, wärmer und sicherer. Sie versuchte sich zu entspannen. Unter der rauen Wolle seines Pullovers spürte sie ihn tief atmen und roch den leichten Duft seines Parfüms. Sie spürte keine Wärme unter seiner Kleidung. Ehe sie realisieren konnte, was geschah, tat er einen Schritt beiseite. Für einen Moment war ihr, als schiebe sich ein wirbelnder Wasserstrom zwischen sie und Jarout. Eiseskälte umhüllte sie, und obwohl sie ihn immer noch spürte, konnte sie Jarout nicht sehen.

«Was ist das? Halt mich fest!», rief sie verängstigt und klammerte sich mit aller Kraft an ihn. Ihrer Stimme klang dumpf und verzerrt in ihren eigenen Ohren. Doch schon im nächsten Augenblick war dieses seltsame Gefühl von Taubheit vorbei. Was immer das auch gewesen war, sie waren hindurch, und Jarout ließ sie vorsichtig los.

«Okay, da wären wir.»

Schwankend tastete sie nach seinem Arm. Ihr war schwindelig wie nach einer Karussellfahrt. Verwirrt sah sie zuerst nur ihn und dann erst, wo sie sich befanden.

Hinter ihnen lag eine dunkle Wand, nein, eher eine tiefschwarze Fläche. Kein Lichtstrahl, keine Reflexion. Sie schien alles zu verschlingen, was zu nah an sie herankam.

Auf der anderen Seite, gegenüber der schwarzen Wand, konnte sie die Straße sehen. Nur, etwas stimmte auch damit nicht. Erst dachte Karen an Milchglas, doch auf den zweiten Blick war ihr klar, dass sie ihre Umgebung so noch nie gesehen hatte. Das Licht der Laternen und Reklamen zerstob zu feinen Strahlen. Feste Konturen waren zu einem unwirklichen Wabern verwischt. Vorübergehende Passanten, selbst die Fahrzeuge zerbrachen in Einzelbilder und zogen meterlange Silhouettenschwänze hinter sich her.

«Mein Gott! Wo sind wir?», flüsterte sie verängstigt.

«Hier sind wir sicher. Niemand kann uns sehen oder belauschen. Außer meinem Vater bin ich der Einzige, der in die Spiegel gehen kann, und der ist so gut wie nie hier. Ich ... es ist schwierig, dir das zu erklären.»

«Aha!», war alles, was sie erwiderte.

«Vielleicht sollten wir es uns ein wenig bequemer machen? Komm, setz dich!» Jarout hockte sich mit unterschlagenen Beinen auf den Glasboden und klopfte mit der Hand neben sich. «Na! Was ist?»

So geschickt wie möglich, versuchte Karen seinem Beispiel zu folgen. Sie beschloss ganz bewusst, vorläufig nicht darüber nachzudenken, dass sie sich tatsächlich in einem Spiegel befanden. Zu ihrer Überraschung brach Jarout plötzlich in schallendes Gelächter aus.

«Oh, Karen! Du solltest dein Gesicht sehen!»

«Ach ja?»

«Ja!» Allmählich beruhigte er sich wieder. «Tut mir leid, ehrlich. Bitte, sei nicht beleidigt! Ich an deiner Stelle sähe vermutlich noch viel dämlicher aus. Du bist wenigstens ein Mädchen.»

Was um Himmels willen hatte das denn damit zu tun? Außerdem konnte sie sich überhaupt nicht vorstellen, dass er, in welcher Situation auch immer, dämlich aussah. Ein Privileg attraktiver Menschen war, dass sie immer gut aussahen, sogar wenn sie einen fahren ließen.

«Jetzt hör endlich auf damit. Verrate mir lieber, was dieser ganze Blödsinn soll. Erst hetzt du einen Kerl wie Schwarzenegger auf mich, erwürgst mich beinahe und versuchst mir anschließend weiszumachen, dass du Lucas kennst. Zum Schluss schleppst du mich auch noch hier rein. Und eins sage ich dir, mein Lieber! Glaub ja nicht, dass ich hier bin, weil ich auf Typen wie dich stehe.»

Seine Hände fuhren in abwehrender Geste hoch.

«Karen, das denke ich keinen Augenblick.»

Sein ironischer Ton ging ihr langsam aber sicher auf die Nerven. Noch nie traf sie in ihrem Leben einen derart arroganten Mann. Er musste ja mächtig von sich überzeugt sein. Dabei vergaß er nur, dass sie das nicht war. Ihre anfängliche Faszination jedenfalls reichte dafür schon lange nicht mehr aus.

 «Jedenfalls können wir hier ungestört reden», sagte er und machte einen tiefen Atemzug, «na schön, ich werde versuchen, es kurz zu machen und dir erklären, warum wir hier sind.»

«Na, da bin ich ja mal gespannt!» Karen rutschte auf dem harten, kalten Boden ein paar Mal hin und her, um eine bequemere Position zu finden.

«Okay, also von vorn!» Sein Blick wurde ernst und bekam einen verschwörerischen Ausdruck. Sehr theatralisch, fand sie, verkniff sich aber eine sarkastische Bemerkung und beschloss, ihn nicht zu unterbrechen. Sie war viel zu neugierig auf das Kommende. Besser, sie schraubte ihre Erwartungen nicht allzu hoch, denn sie misstraute seiner wichtigtuerischen Art und vermutete, dass mindestens achtzig Prozent davon reine Show waren.

«Ich weiß, du suchst Lucas Vale, richtig?»

Sie nickte. Soweit so gut. Das war nicht schwer herauszubekommen. Schließlich fragte sie seit Wochen ganz öffentlich alle möglichen Leuten nach ihm.

«Woher weißt du davon?»

«Oh, das ist nicht wichtig», wehrte er ab, «wichtig aber ist, dass ich weiß, dass du ihn für deinen Vater hältst.»

«Was heißt hier hältst, bitteschön? Er ist mein Vater!»

«Schon gut, schon gut! Alles klar, keine Panik! Er ist dein Vater, so besser? Das Problem ist, er ist ein Vampir. Er ist wie ich. Ein Blut trinkender, unsterblicher Angehöriger der Rasse der Hirudo. Und jetzt vergesse den ganzen Krempel von wegen Muttererde, Fledermaus und Nebel, in den wir uns angeblich verwandeln können. Denn genau das kann keiner von uns. Und es gibt noch etwas, was wir nicht können, nämlich Kinder zeugen. Das ist völlig unmöglich.» Er machte eine kurze Pause, doch ehe Karen ihn unterbrechen konnte fortzufahren, legte er einen Finger an seine Lippen. «Sekunde. Ich weiß, da bist du. Obwohl es dich eigentlich überhaupt nicht geben sollte, sitzt du vor mir, atmest und bist sehr wohl ausgesprochen lebendig.»

«Ja und? Bin ich jetzt die Sensation des Tages für dich oder was? Was willst du von mir? Soll ich bei einer Freakshow mitmachen?»

Jarout warf den Kopf zurück und lachte lauthals. «Keine Bange, daran dachte ich nun wirklich nicht.» Schnell wurde er wieder ernst.

«Die Sache ist die, bist du Lucas Tochter, dann ist er ein Lügner. Er behauptet, sehr alt zu sein. Auf jeden Fall bedeutend älter als du es bist. Und zu einem Vampir geworden ist er angeblich schon vor vielen Jahrhunderten. Seiner Version der Geschichte nach dürftest du überhaupt nicht existieren.»

«Also, entweder gibt es mich nicht ... oder Lucas Vale hat euch alle betrogen?»

Das ließ Jarouts Motivation in einem völlig anderen Licht erscheinen. Natürlich war Karen klar gewesen, dass er hier nicht den heiligen Samariter spielen und ihr aus reiner Selbstlosigkeit helfen wollte.

 «Ich fürchte, du wirst das nicht so ganz nachvollziehen können, was das für meine Leute bedeutet.»

Er ahnte ja nicht, was sie alles nachvollziehen konnte. Eines begriff sie zumindest sehr wohl. Und zwar, dass er sie nur aus einem Grund brauchte, nämlich um Lucas zu schaden.

«Versuch's einfach mal – wenn's mir zu hoch wird, schrei ich.»

«Na schön ... falls Lucas dich zeugte, dann war er zu dem betreffenden Zeitpunkt keiner von uns. Und stell dir vor, er behauptet, der Sohn einer der Ältesten zu sein, und zwar der leiblich gezeugte Sohn des ...»

«Lass mich raten», unterbrach sie, «Golan von Byzanz?»

Jetzt hätte Karen über sein Gesicht lachen können. Das Einzige was fehlte war, dass sein Mund nicht offen stand.

«Da staunst du, was? Ich kenne Lucas Geschichte. Er erzählte sie meiner Mutter und die erzählte sie mir.»

«Was für eine Geschichte?», fragte er.

«Was für eine Geschichte? Na seine Geschichte. Wie er Golan traf und sie nach Melacar gingen. Golan getötet wurde, Lucas sein Herz aß und so weiter. Jetzt sag bloß, du weißt davon nichts?»

Offensichtlich nicht, denn während sie sprach, gewann sie den Eindruck, dass sein Gesicht um mindestens zwei Schattierungen blasser wurde, sofern das überhaupt möglich war.

Doch anstatt etwas dazu zu sagen, nickte er einfach nur ein paar Mal. Jetzt schien er derjenige zu sein, dem es die Sprache verschlug.

«Moment mal, meinen wir beide denselben? Bist du sicher, dass Lucas Vale wirklich sein Name ist?», fragte er, nachdem er sie noch eine Weile anstarrte.

«Natürlich meinen wir denselben Lucas Vale. Ich meine, wie viele Lucas Vale gibt es, die denselben Vater haben?»

«Golan! Du hast recht. Wir meinen denselben.»

Karen verstand nicht, was denn so großartig schlimm daran sein sollte. Er sollte endlich mit der Sprache rausrücken und ihr seine Version verraten. Welche Geheimnisse hütete er noch, außer, dass Lucas in Bezug auf sein wahres Alter log.

 «Warum ist das alles so wichtig für dich? Warum ist es denn so wichtig, unbedingt zu beweisen, dass er nicht der ist, für den ihn alle halten?»

«Natürlich ist das wichtig. Das bedeutet, dass er gerade in der Umwandlung war, als er deine Mutter traf und noch Mensch genug, um dich zu zeugen. Das ist mehr als wichtig! Das ist sogar entscheidend. Versteh doch!» Er war so aufgeregt, dass er aufsprang und sich vor sie hinstellte.

«Die Familie der Hirudo wird von dem geführt, der alt und stark ist. Lucas hat vielleicht gewisse Talente, weil er von Golan abstammt, aber er ist nicht mal halb so alt wie die, an deren Spitze er steht. Mann, er dümpelt eigentlich zusammen mit mir in den untersten Rängen!» Vor lauter Ungeduld fing er an, ziellos umherzulaufen. Karen wurde ganz schwindelig davon, ihm zuzusehen. Doch es schien ganz so, als habe er völlig vergessen, dass sie überhaupt da war.

«Was geschieht, wenn seine Geschichte aufgedeckt wird?», fragte sie.

«Keine Ahnung.» Er stoppte abrupt, und ein verschlagenes Lächeln stahl sich auf seine Lippen. «Ich schätze, sie werden nicht sonderlich erfreut sein, davon zu hören, wie er sie jahrelang hinters Licht führte.»

In seinem Gesicht arbeitet es fieberhaft.

«Weißt du, Karen, wir sind uns wirklich ähnlicher, als man meinen sollte. Beinahe wie richtige Geschwister, findest du nicht auch?» Er lachte wieder. Ein bösartiges Lachen, das ihr nicht gefiel. «Ich werde dir noch was verraten, Karen. Lucas ist auch mein Vater.»

Sein Vater? Natürlich! Wieso war sie nicht eher darauf gekommen? Sie hätte sich mit der flachen Hand vor die Stirn schlagen können. Der Zorn in seiner Stimme, seine Aufregung, sein Hass auf Lucas, den er unbedingt entlarven wollte.

Vor ihr stand unbemerkt die ganze Zeit ein richtiges Prachtexemplar von einem Vater-Sohn-Komplex. Das machte ihr Jarout um einiges sympathischer.

Ihm ging es nicht um Macht oder einen Aufstieg in der Hierarchie seiner Familie. Genau wie sie, hatte er noch eine Rechnung mit Lucas Vale offen, der als anwesender Vater scheinbar genauso versagte, wie als Abwesender in ihrem Fall.

«Du willst, dass ich mit dir komme?», fragte sie vorsichtig. Das war geraten, aber wohl gar nicht so schlecht, denn sein Gesicht hellte sich auf, als er neben ihr in die Hocke ging.

«Karen, ich brauche dich. Als Beweis für seine Lüge.» Seine Finger drückten sanft ihre Schulter. «Wir beide könnten davon unseren Vorteil haben. Wir wollen doch dasselbe, oder nicht?»

 Sie nickte. «Einverstanden!», sagte sie, ohne weiter zu überlegen und sah Jarout offen und mit aller Entschlossenheit in die bernsteinfarbenen Augen, deren Farbe sie zwar immer noch irritierte, doch er sollte spüren, dass sie es ernst meinte.

«Bist du sicher? Vielleicht solltest du noch einmal darüber nachdenken. Ich habe keine Lust drauf, dass du es dir im letzten Moment doch noch anders überlegst. Wenn du jetzt zusagst und mit mir kommst, dann musst du die Sache auch durchziehen, klar?»

Karen schüttelte den Kopf. «Ich bin mir völlig sicher. Warum sollte ich Mitleid mit Lucas Vale haben? Schließlich hat er sich einen Dreck darum geschert, wie ich mich fühle. Er soll endlich anfangen, sich Gedanken über mich zu machen.»

Mit einer Hand zog er sie mit sich hoch. «Das wird er. Das verspreche ich dir», knurrte Jarout grimmig. Dann packte er sie unsanft an den Armen, und ihre gemeinsame Reise durch die Spiegel begann.