~ 5. Kapitel ~
In dem Sonderwünsche diskutiert werden und
sich längst Vergessenes
wie ein unheiliger Geist erhebt
Würdest du uns wohl einen Augenblick entschuldigen, liebste Schwester?« Die groß gewachsene, langgliedrige Frau beantwortete Arweths Frage mit einem Nicken, zu dem sie großzügig lächelte. Hoheitsvoll saß Sappho auf dem samtbezogenen Sessel, die langen Bahnen ihres weißen Kleides wie Schneewehen um die sehnigen Beine drapiert. Ihr tiefschwarzer Blick ruhte auf Lucas. Sie wollte ihm seinen Trotz vergeben. War sein Starrsinn doch aus Unwissenheit geboren. Letztlich bekäme sie ihren Willen erfüllt und er eine Lektion erteilt, die ihm das Überleben in Zukunft erleichterte. Lucas spürte, dass sie ihn anstarrte. Nervös drängte er Arweth durch die Tür, die er hastig hinter sich schloss.
»Sag, was du willst. Sag, sie ist deine Schwester oder sag, dass sie die heilige Königin von Saba ist. Das ist mir egal. Ich werde auf gar keinen Fall zulassen, dass sie die oberste Regel dieses Hauses bricht.«
Arweths Blick blieb ruhig, doch Lucas spürte deutlich die Erregung des Ältesten, als er antwortete. Seine Stimme klang gepresst, was seine höflichen Worte Lüge strafte. »Ich verstehe dich. Doch ich fürchte, Sappho wird auf ihren Wunsch bestehen.«
»Wunsch? Dass ich nicht lache. Bisher hat sie nichts Anderes getan, als zu befehlen.«
»Sie ist unverzichtbar für ...«
»Jetzt vergiss doch diesen Mist. Da drin sitzt eine verwöhnte Ziege, die noch niemand gewagt hatte, in die Schranken zu weisen. Dabei wäre das genau, was sie dringend bräuchte. So wie sie sich jetzt benimmt, ist sie eher ein Grund, unsere Pläne zu vergessen. Wenn wir etwas erreichen wollen, müssen wir zusammenarbeiten und nicht die Befehle einer Diva befolgen. Wovor hast du eigentlich Angst? Dass sie dich in einen Frosch verwandelt?«
»Hör auf damit. Du klingst ja schon wie dein missratener Sohn«, entrüstete sich Arweth und stürmte durch das Musikzimmer in die Eingangshalle. »Wie lange bist du jetzt einer von uns? Zwanzig, dreißig Jahre? Du hast verdammt wenig begriffen in dieser Zeit«, schimpfte er.
»Oh, ich habe genug begriffen, Arweth. Zum Beispiel, dass ihr euch an völlig antiquierte Regeln einer selten dämlichen Hierarchie haltet, die dringend überdacht und den Bedingungen angepasst gehört. Du willst Sappho wegen ihrer Macht unbedingt in der Allianz gegen Maratos haben? Gut. Du glaubst, ohne ihre Autorität und ihre Talente haben wir keine Chance gegen ihn. Auch gut. Aber ist das ein Grund, sie so zu verhätscheln?«
Arweth blieb wie angewurzelt am Fuß der Treppe stehen. Mit zornig glühenden Augen wirbelte er herum. Er schämte sich für den respektlosen Gedanken, doch als er Lucas ansah, musste er an einen wütenden Kobold denken.
Dieser kleine, drahtige Mann mit den flammend roten Haaren und hellen Augen starrte ihn mit einem Blick an, der bereits Beryl und Eliane in die Schranken gewiesen hatte. Wie eine Stoffpuppe könnte er ihn mit der Wucht eines Grizzlys quer durchs Zimmer schleudern. Ein Gedanke wäre ausreichend. Nur zu gern hätte er ihn Sappho gegenübertreten lassen. Jedem ihrer Talente konnte Lucas zwei entgegensetzen. Doch der Respekt vor seiner Schwester saß einfach zu tief. Blieb er den Jahrtausende alten Ordnungen nicht treu, woran sollten die Hirudo dann noch glauben? Hirudo, die sie für ihre Allianz gegen Maratos brauchten. Jetzt etwas zu ändern, wäre falsch. Unsicherheit entstünde und Verwirrung wäre die direkte Folge. Das musste Lucas begreifen. Sein Einfluss definierte sich über sein Verhalten. Auch über sein Benehmen den Ältesten gegenüber.
»Ich habe es dir doch schon erklärt. Wir können jetzt nichts ändern, Lucas. Später vielleicht. Nur nicht zu diesem Zeitpunkt.« Erschöpft ließ er sich auf die unterste Treppenstufe fallen. Die müden Augen reibend, murmelte er: »Lass uns einen Kompromiss finden.«
»Und welchen?«, wollte Lucas wissen.
»Die Regel, kein Leben zu nehmen, gilt für das Haus der Familie, richtig?«, meinte Arweth. Lucas nickte mit grimmigem Blick. »Sie gilt nicht für den Garten, den umliegenden Wald oder das Gästehaus«, fuhr Arweth fort. Warnend verdunkelten sich Lucas Augen, doch Arweth ignorierte diesen stummen Appell und sprach weiter. »Ich bitte dich jetzt, es für heute Nacht so sein zu lassen.«
Verbissen starrten sie einander an. Lucas wusste nur zu gut, dass ein Ältester niemals eine Bitte äußerte. Sie befahlen nur. Und wurden ihre Befehle nicht ausgeführt, handelten sie. Handelten sie, bedeutete das den Tod eines Hirudo. Fürchtete Arweth ernsthaft, dass Sappho mich angreift? Dann wäre sie nicht nur arrogant, sondern auch noch dumm, dachte Lucas stirnrunzelnd.
»Ich werde Seamus bitten, ein passendes Opfer für sie zu suchen und hierher zu bringen. Und Sappho werde ich bitten, dieser Lösung zuzustimmen«, sprach Arweth mit fester Stimme. Er wandte den Blick erst von Lucas ab, als dieser beinahe unmerklich nickte.
»Arweth?« Seamus war unbemerkt herangetreten. Er hielt ein kleines, sorgfältig verschnürtes Päckchen in den Händen. Der Älteste sah ihn auffordernd an.
»Das hier kam vor ein paar Minuten hier an.« Er reichte ihm die braune Pappschachtel. »Scheint wichtig zu sein, ein Expressservice lieferte es.« Verwundert nahm Arweth die Sendung entgegen. »Ohne Absender, aber keine Sorge«, sagte Seamus. »Kein Ticken, kein auffälliger Geruch. Scheint sauber zu sein.«
Arweth lächelte ironisch. Wollte jemand tatsächlich einen Anschlag auf ihn verüben, dann sicher nicht auf eine dermaßen plumpe und zweifelsohne wenig effiziente Art. Neugierig machte er sich daran, das mehrmals verknotete Paketband aufzuschnüren. Lucas versuchte den Blick des Ältesten zu deuten, als er den Inhalt erblickte. Über Arweths Schoß gebeugt sah er ein kleines, glitzerndes Schmuckstück, gebettet auf blauem Stoff.
»Was ist das?«, fragte er.
Schwer atmend nahm Arweth das goldene Kleinod in seine zitternden Finger. Lucas erkannte eine geflügelte, goldgefasste Sonne aus rotem Edelstein mit blauen Lapisschwingen. Auf der Rückseite war eine Nadel wie bei einer Brosche angebracht. Das Schmuckstück erinnerte ihn an ein ägyptisches Motiv, aber er war nicht sicher. Ein Geschenk? Aber warum reagierte Arweth dann so seltsam? fragte sich Lucas verwundert.
Mit schreckgeweiteten Augen ließ der Älteste die Brosche zurück in die Schachtel fallen. Dann nahm er den beiliegenden Brief heraus, faltete das Papier auseinander und las schweigend. Mit steingrauem Gesicht sanken seine Hände nieder und krampften sich um den Brief.
»Arweth, nun sag schon. Was ist denn?«, forderte Lucas ihn auf.
Ausdruckslos wanderten Arweths Augen zu Lucas. »Er lebt«, flüsterte er. Seine sonst so kraftvolle Stimme klang dünn und matt. Lucas spürte, wie ihm Angst mit klammen Fingern den Rücken hochkroch.
»Dieser Satan ist noch am Leben«, donnerte Arweth, sprang auf und schleuderte mit aller Kraft das Päckchen von sich. Polternd krachte es gegen die Wand, wo es abprallte und mit lautem Krachen auf dem Boden landete. Die Brosche fiel heraus und sprang mit leisem Klirren über den Marmor. Aufgebracht reichte Arweth Lucas den Brief. »Hier, lies selbst. Dieser Mörder, diese Bestie. Erst bringt er Phoebe um und jetzt kommt er zurück, um unsere Rache an ihm zu vergelten. Doch damit kommt er nicht durch. Ich werde ihn umbringen. Sappho!«, brüllte Arweth und stürmte durch die Tür zum Musikzimmer.
Seamus, der das Paket und die Brosche eingesammelt hatte, kam zu Lucas. »Was um Gottes willen hat er denn nur?«
»Angst, Seamus, Arweth hat Angst. Und die hätte ich auch. Hast du gehört, was er sagte? Phoebe war doch eine seiner Töchter, nicht wahr? Er hat mir mal von ihr erzählt. Sie wurde ermordet, sagte er. Aber das ist Jahrhunderte her. Offenbar ist der Schreiber dieses Briefes auch der, der sie getötet hat. Und jetzt hat der Kerl Serena. Er schreibt, dass Arweth wisse, wo er ihn findet. Irgendwas mit einer Kirche. Genau verstehe ich das auch nicht.«
»Darf ich?« Seamus zupfte das Blatt aus Lucas Fingern. Nach kurzem Blick darauf reichte er es ihm schweigend zurück.
»Und, sagt dir der Kauderwelsch mehr?«
»Allerdings. Schätze, du musst dir jetzt nicht mehr allzu viel Gedanken um Sapphos Wünsche machen.«
»Lucas!« Arweth kehrte zurück. Mit wildem Blick stürzte er auf den Angesprochenen zu. »Wir müssen uns beeilen. Du musst mich begleiten. Ich weiß, wo Serena ist und wenn wir nicht so schnell wie möglich dorthin kommen, ist sie verloren.«
Verwirrt blickte Lucas abwechselnd zu Seamus und wieder zu Arweth. »Aber das ist mit Sicherheit eine Falle«, rief er aus.
»Natürlich ist das eine Falle, aber hast du den Auslieferungstermin gesehen. Das Paket sollte erst heute früh um sieben Uhr dreißig abgegeben werden. Der Lieferdienst muss etwas verwechselt oder gedacht haben, je eher es ankommt umso besser. Dieser Mistkerl rechnet folglich damit, uns erst morgen Nacht zu sehen. Aber diesen Gefallen werden wir ihm nicht tun.« Hastig warf Arweth seinen Mantel über.
»Da wird er eine nette Überraschung erleben. Los, komm, wir dürfen keine Sekunde verlieren!«
Vergessen schienen Sappho und die Allianz. Arweth zerrte Lucas mit sich zur Kellertür. Kaum dass er wusste, wie ihm geschah, waren sie bereits in den Spiegeln und unterwegs zu einer kleinen Kirche in einem Ort namens Lörringen.