15. Kapitel

 

Seamus sah ihn auf diese besondere, ruhige Art wie eine beleidigte Katze an, von der er ganz genau wusste, dass sie ihn mürbemachte und ein garantiert schlechtes Gewissen bereitete. Zwar lag er ganz still in seinem Schrankkoffer, doch Lucas wusste genau, dass er ganz und gar nicht mit seiner Entscheidung einverstanden war. Aber wann war er das schon? So gut wie nie. Nur diesmal konnte Lucas ihn wirklich verstehen.

Auch er selbst fühlte sich nicht besonders wohl dabei, Hals über Kopf sämtliche Verabredungen, die für die kommende Nacht anstanden, abzusagen und völlig überstürzt gleich nach Genf weiterzureisen. Und dazu noch am helllichten Tag. Seamus war nicht der Einzige, der sich Gedanken darüber machte, wie groß dieses Risiko war. Eigentlich führten sie diese Koffer nur für den absoluten Notfall mit. Diese auf ihren Fahrten mitzunehmen war Seamus Idee gewesen, der dabei eher an Probleme wie Verspätungen im Fahrplan oder ähnlich Unvorhersehbares, das sie davon abhielt, rechtzeitig einen Schlafplatz für den Tag zu finden, gedacht hatte. Nie war beabsichtigt gewesen, sie derart zweckentfremdet einzusetzen. Der Transport ihrer schlafenden Körper in zwei Schrankkoffern, aus so unerfindlichem Grunde wie einem bloßen Gefühl heraus, war ein geradezu wahnsinniges und waghalsiges Unterfangen. Natürlich konnte jemand auf die Idee kommen, einen der beiden Koffer zu öffnen, die er unter seinem Namen nach Genf schickte, und deren Inhalt sie beide waren. Auch war ein Unfall nicht auszuschließen, bei dem der Zug entgleiste oder ein Feuer ausbrach. All dessen war sich Lucas durchaus bewusst. Und dennoch konnte er nicht anders handeln. Was er spürte, war so dringend, dass er sich obendrein auf einen schlimmen Streit mit Seamus einließ, und schließlich sogar mit der dreisten Drohung, allein weiterzufahren, wenn er ihn nicht begleiten wolle, den Sieg erkämpfte.

Ausschlaggebend für den ganzen Aufstand war, was Blanche Seamus am Telefon erzählte. Sie erwähnte ihm gegenüber ein Mädchen, das mit Jarout in ihr Haus gekommen war und einige Tage zu bleiben plante. Sie sei ganz reizend, schwärmte Blanche, und so höflich. Man müsse sie einfach entzückend finden mit ihren langen roten Haaren und dem zarten, kleinen Elfengesichtchen.

«Mir gefällt das überhaupt nicht, dass Jarout eine seiner Freundinnen bei uns einquartiert, sagte ich Blanche», meinte Seamus, «aber sie ist ganz aus dem Häuschen wegen der Kleinen, von wegen gutem Umgang, den ihr lieber Sohn doch da hat und was weiß ich was. Egal, mir gefällt's nicht.»

Darin zumindest waren sie sich einig. Lucas gefiel das auch nicht. Ganz im Gegenteil. Allerdings weniger, weil Jarouts Verhalten womöglich wieder einmal Probleme bereiten könnte. Als er die Beschreibung des Mädchens hörte, wurde ihm ganz flau, und sofort stellte sich das irrationale Gefühl ein, dass sich etwas seit Langem Angekündigtes nun immer dichter zusammenzufügen begann. So, als nähme eine bloße Ahnung feste Form an. War ein solcher Zufall möglich? Je länger er darüber nachdachte, umso deutlicher zeichnete sich für ihn ein denkbarer Zusammenhang zwischen den plötzlich wieder so lebendigen Erinnerungen an Aimee und die Kinder und diesem unerwarteten Besuch ab.

Er mochte sich irren und sein Gefühl konnte ihn täuschen, doch in diesem Moment wusste er nur eines. Und zwar, dass er um jeden Preis und so schnell wie möglich nach Hause musste.

Mit einem energischen Ruck schob er den innen angebrachten Riegel seines Koffers zu. Sollte Seamus ihn hassen. Das war ihm egal. Er konnte ihn auch gern für völlig übergeschnappt halten, wenn sich seine Ahnung als Finte herausstellen sollte. Aber bis dahin und bis zu der Gewissheit, dass seine Erinnerungen und das gleichzeitige Auftauchen des Mädchens nichts weiter als seltsame Zufälle waren, konnte er ihn nicht davon abhalten, seiner Intuition zu folgen.