Prolog

 

Das eintönige und gleichmäßige Rattern der Räder ließ seine Augenlider schwer werden. Doch jede holprige Unebenheit in den Bahngleisen schreckte ihn auf, und unerbittlich begannen seine Gedanken erneut, die quälenden Erinnerungen heraufzubeschwören.

Gereizt lehnte sich Lucas in die weichen Polster des Zugabteils zurück, während sie Kilometer um Kilometer durch die sternenklare Nacht zurücklegten. Aus den Augenwinkeln blickte er zu Seamus, der ihm gegenübersaß.

Sein treuer Freund und Vertrauter, der ihn stets auf Geschäftsreisen wie dieser von Hamburg nach Berlin begleitete. Er gab vor, zu schlafen, was Lucas ihm nicht abnehmen konnte.

Seinen Kopf an das Zugfenster gelehnt, blinzelte er hin und wieder verstohlen zu ihm, so als wüsste er um Lucas aufgewühlte Seele.

Kurz flackerte die grelle Deckenbeleuchtung und ließ Lucas aus seinen schmerzhaften Gedanken schrecken. Er sehnte sich nach Ruhe, nach der Schwärze der Nacht. Und wie auf einen Fingerzeig hin verdunkelte die Deckenbeleuchtung. Das diffuse Licht des Nachthimmels erfüllte das Abteil. Seamus Atemzüge wurden ruhiger, regelmäßiger.

Er schläft, dachte er, ein wohlverdienter Schlaf nach dem gestrigen Abend.

Sein Blick glitt hoch zum Sternenhimmel. Prall und rund stand der Vollmond von einem schimmernden Halo umkränzt am Himmel. Sein silbernes Licht erhellte die Nacht und verlieh der vorüberziehenden Landschaft einen Hauch von Unwirklichkeit.

Wie damals bei Aimee. Bilder von Ereignissen und Erinnerungen an Emotionen, die er lange überwunden und vergessen glaubte, drängten sich in sein Bewusstsein. Zeit hatte für ihn begonnen, konturlos und abstrakt zu werden.

War das alles wirklich schon zwanzig Jahre her? fragte er sich und schloss die Augen, um die kommenden Bilder deutlicher zu sehen.

Er erinnerte sich an jene Nacht, als er die Treppe in Aimees Haus am Ende der Straße hinaufgeschlichen war. Er sah das graue Silberlicht des Mondes auf den abgenutzten Holzstufen und hörte die Blätter der Bäume im Wind am Fenster rascheln. Wehmütig dachte er daran, wie glücklich er hier nur wenige Wochen zuvor gewesen war.

Aimee gefiel dieses aschfahle Licht des Mondes, das die Nacht taghell erleuchtete. Sie war gern mit ihm in den Garten hinausgegangen, um in dem nebelfeuchten Gras nach seiner kalten Hand zu tauchen. Dann zum Fluss hinter ihrem Haus, auf dessen Wellen silbern das Mondlicht spiegelte. Nackt schwamm sie damals in den kalten Fluten und lockte ihn wie eine Nymphe, um seine Unsterblichkeit zu versuchen. Nur zu gut wusste sie, dass er nicht schwimmen konnte.

Ihre schwarzen Augen funkelten in diesem seltsamen Licht wie zwei nassglänzende Kieselsteine, nachdem sie aus dem Wasser gestiegen war und zärtlich ihre Wange an seine Brust schmiegte. Er spürte ihr Haar unter seinen streichelnden Händen. Wie feines, gekraustes Wurzelwerk.

Später dann auf der Treppe in ihrem Haus, in das er Monate, nachdem er sie zuletzt sah, zurückgekehrt war, um die Kinder zu nehmen, war ihm einen Moment lang, als hörte er ihr Atmen hinter sich. Er hatte sich sogar umgedreht und beinahe erwartet, sie am Fuß der Treppe stehen zu sehen. Doch da war nichts. Nichts, außer seiner Erinnerung und einem Wunsch, den er sich selber nicht eingestehen konnte.

Schnell streifte er den Gedanken an sie ab, um stattdessen seine Konzentration auf das zu richten, weshalb er zurückgekehrt war. Noch fünf Stufen und zwei Meter den schmalen Flur entlang. Er konnte sie riechen, fühlen. Seine Kinder. Ihr weiches Aroma lag wie schwacher Parfümhauch in der Luft.

Die Tür war auf seinen Befehl hin geräuschlos aufgeschwungen. Er betrat das Zimmer, in dem sie schliefen. Sie waren allein. Aimees Schwester schlief im Nebenzimmer und konnte von alledem nichts mitbekommen.

Die Wiege stand gleich neben dem Fenster. Ein Erbstück, Onkel Lawrence fertigte sie selber und Tante Hedra hatte die Spitzen genäht.

Leise hörte er Aimees Stimme in seiner Erinnerung. Dafür, dass sie so wenig für ihre Familie übrig hatte, wie sie immer behauptete, bewahrte sie sehr viele solcher Dinge auf. Sie stapelten sich auf dem Dachboden zu ineinander verkeilten Möbelbergen.

Fast geräuschlos trat er an die Wiege heran und zog vorsichtig die fein gesponnenen Schleier beiseite. Da lagen sie. Zwei atmende Nester aus rosig weicher Haut unter einer dicken Decke, die nur ihre kleinen Gesichter frei ließ. Die Münder im Schlaf leicht geöffnet - traumverloren. Dieses Wort, das er einst in einem Gedicht las, machte jetzt erst einen Sinn -Traumverloren. Entrückt in eine andere, für alle anderen Menschen unerreichbare, Welt.

Sie waren wunderschön. Seine Zweifel, warum er gekommen war, und ob er sein Vorhaben tatsächlich verwirklichen sollte, waren beim Anblick dieser beiden zu einem Nichts zerstoben. Sie waren alles, was ihm von seiner Zeit mit Aimee geblieben war. Sie waren alles, was ihn noch band, menschlich zu sein. Und der Gedanke, dass diese Kinder sein eigen Fleisch und Blut waren, verdrängten die Zweifel, sie mitzunehmen.

Ihre Mutter war weit fort, und von nun an für sie zu sorgen, schien ihm geradezu gerechtfertigt. Alles konnte er ihnen geben, was sie sich nur wünschten. Ein Leben, wie sie es an diesem Ort niemals haben konnten. Vor allem Leben wollte er ihnen geben. Ein unsterbliches Leben voller Wunder.

Er hätte sie einfach mitnehmen können, ohne minutenlang zu verweilen. Doch er sah sie an, und da waren ihre im Schlaf greifenden Hände, die sich ihm entgegenstreckten, als spürten sie seine Anwesenheit. In ihre rührende Zartheit verliebt, konnte er einfach nicht länger warten.

Vorsichtig, als sei sie aus zerbrechlichem Porzellan gemacht, schob er seine vor Aufregung zitternden Hände unter den kleinen Körper und unter das flaumbedeckte Köpfchen des Mädchens, um es aus dem warmen Bett zu heben. In ihren sich öffnenden, dunklen Augen war die Welt um ihn herum versunken, und er sah nur noch sie.

«Meine Tochter», flüsterte er und knöpfte im gleichen Atemzug sein Hemd auf. Mit den bloßen Fingernägeln riss er die Haut seiner Brust auf. Und wie die Knospe einer Blume öffnete sich ihr feuchter Mund, als er ihr Gesicht an die blutende Wunde führte. Nichts erschien ihm köstlicher, als der stille Schmerz ihres heftigen Saugens und das Kneifen ihrer Händchen, die sich in sein Fleisch gruben. Gierig sog sie ihr neues Leben in sich hinein. So unschuldig, und ohne zu hinterfragen, ob es rechtens war, es zu nehmen.

Nach einigen Minuten nahm er sie widerwillig von seiner Brust und legte sie zurück neben ihren Bruder, der geduldig darauf wartete, ihren Platz in den Armen des Vaters einzunehmen. Sie begann jedoch zu weinen. Erst leise, dann immer lauter. Mit erzürnten Schreien verlangte sie nach seiner Nähe und mehr von dem, was ihr zustand. Am liebsten hätte er sie gleich wieder in den Schutz seiner Arme genommen, sie beruhigt und ihr gezeigt, dass sie jetzt nichts mehr von ihm trennen konnte. Doch der Junge hatte ebenfalls ein Recht auf das Blut, das sie auf so unvergleichliche Art vereinen wird.

«Mein Sohn, komm mein Engel», flüsterte er und bestaunte die leuchtenden Augen des Kindes, in denen blass das Mondlicht spiegelte. Konnte es sein, dass er ...? Nein, sicher nicht.

Dieses Kind war ebenso menschlich wie seine Mutter und wie sein Samen, der es gezeugt hatte.

Doch als er ihn so selbstvergessen anblickte, konnte sich Lucas den Vergleich mit einem kleinen, gierigen Tier nicht erwehren. Das Kind zerrte sogar ganz von sich aus mit den Händen an der aufgerissenen Haut und zog die Ränder der blutenden Wunde noch weiter auseinander. Ob nun unbewusst oder nicht, erstaunlich war gewesen, ihn so zu spüren.

In seiner versonnenen Konzentration auf die Kinder vergaß er die Welt um sich herum und auch, wo er sich immer noch befand. Die Konsequenz traf ihn unerwartet und heftig.

Mit dem Kreischen einer Furie stürmte die Frau zur Tür herein und stürzte sich mit dem Löwenmut einer Mutter auf ihn, um das Kind seinen Armen zu entreißen.

Instinktiv schnellte sein Arm vor, und mit einem einzigen Hieb seiner Faust schleuderte er sie brutal gegen die Wand. Gleichzeitig setzte er zum Sprung durch das geschlossene Fenster an. Das Baby fest an sich gepresst und mit dem Stoff seines Mantels vor dem harten Aufprall schützend, landete er in einem nachfolgenden Scherbenregen fünf Meter tiefer sicher mit beiden Füßen auf festem Boden.

Die verzweifelten, wütenden Schreie der Frau hallten aus dem Zimmer hinaus auf die Straße und zerrissen die Stille der Nacht. Ihr Schmerz rührte ihn nicht. Er konnte nicht über ihren Verlust trauern, ließ er doch selber eines seiner Kinder, die kleine Tochter zurück, ohne zu wissen, was nun aus ihr werden sollte. Doch er dachte an seinen Sohn, der so still an seiner Brust lag, als wüsste er, dass dies der sicherste Ort auf der Welt war. Ihm blieb keine Zeit, noch einmal zurückzugehen, denn die ringsum aufleuchtenden Lichter in den Fenstern drängten ihn so schnell wie möglich zu verschwinden.

Mit einem letzten Blick zurück lief er die Straße hinunter. Doch nicht ohne das Versprechen zurückzukehren, um auch das zweite Kind zu holen. Sie beide mussten in seiner Familie unter ihresgleichen aufwachsen. Diese sterbliche Welt war nichts für sie, schwor er sich, und sie sollte es auch nicht werden.

Warum dann letztlich alles anders gekommen war? Er hatte so oft nach einem Grund, einer Entschuldigung für sich gesucht. Doch bei Licht betrachtet war jede Erklärung, die ihm einfiel, nur fadenscheinig. Einige Nächte später noch einmal zurückzukehren und das Mädchen zu holen, wäre so leicht für ihn gewesen. Doch er hatte sein Versprechen an sie nie eingelöst.

Zornig wandte er sich von seinem Spiegelbild in der Glasscheibe des Zugfensters ab.

Warum kamen diese Erinnerungen wieder zurück? fragte er sich, als er zu Seamus blickte, der jetzt tief und fest schlief. So lebendig waren sie, als wären sie erst gestern geschehen. Vor wenigen Tagen noch dachte er, dass ihn dieser Schmerz nicht mehr einholen konnte und dass es im Laufe der vergangenen Jahre gelungen war, Frieden mit seinem schlechten Gewissen zu schließen, und seine eigene Unzulänglichkeit zu akzeptieren. Sich einzureden, die Dinge stünden gut so und er habe sich nichts vorzuwerfen, war ihm doch so ausgezeichnet gelungen. Warum kamen die Erinnerungen jetzt zurück und quälten ihn?