~ 4. Kapitel ~
In dem Malcolm den Kopf verliert
Ihr Eintreten wurde von dem leisen Klingeln der Windspielglöckchen begleitet. Stumm blieben die beiden Gestalten am Eingang stehen. Vermutlich fragten sie sich immer noch, warum er diesen seltsamen Ort für ein Treffen ausgewählt hatte. Verwirrte sie das merkwürdige Ambiente im Inneren des alten, finsteren Gebäudes im miesesten Teil der Stadt? Flackerndes Kerzenlicht, staubige Luft und der eindeutige Geruch ranzigen Blutes. Ja, er konnte sich lebhaft vorstellen, was hinter ihren hin und her huschenden Augenpaaren vor sich ging, während sie zögernden Schrittes weitergingen.
Wie eine lauernde Spinne saß Dorian Prior in einem Sessel auf der Bühne, inmitten seiner Wachsfiguren. Von den leblosen Puppen kaum zu unterscheiden. Geduldig und ohne sich zu regen, wartete er, bis seine Besucher schließlich die Raummitte erreichten. Erst dann schlug er langsam und ohne Eile das rechte Bein über das linke Knie und stützte sich vom linken Ellbogen auf den rechten.
Eine Gelassenheit demonstrierende Geste, dachte er und verzog innerlich das Gesicht. Wie der weißhaarige Bastard zu denken, zu handeln und sogar wie er zu riechen, widerte ihn an. Einfach ekelhaft.
Aber da waren sie, seine Schwester und sein Bruder, seine Henker. Sie waren ohne den Hauch einer Ahnung, wer sich in Wirklichkeit hinter der Maske, die für sie wie ihr geliebter Arweth aussah, verbarg. Für sie war Dorian Prior schon seit vielen Jahren tot. Aus ihrer Erinnerung war er längst verschwunden. Verfügt man über eine derart hohe Lebenserwartung und kann auf ein Jahrhunderte währendes Leben zurückblicken, mag ein solcher Umgang mit unangenehmen Erinnerungen sehr nützlich sein. Unter Umständen war das Vergessen sogar notwendig. Keine Erinnerung bedeutete keine Qual, kein Schmerz und keine Albträume.
Er selbst hätte nur zu gern einige unschöne Dinge vergessen. Doch so einfach machte er sich das Leben nicht. Er gedachte seiner Sünden. Und diesmal kamen auch diese beiden nicht so einfach davon. Die Zeit war gekommen, dass sie sich mit seiner Hilfe erinnerten.
Mit großer Zufriedenheit erkannte er das Erstaunen in ihren Gesichtern. Gierig sog er den Anblick ihrer leuchtenden Augen in sich ein. Wie kostbare Edelsteine fingen sie das gelbliche Licht der Kerzen und reflektierten den matten Schimmer. Serenas Augen funkelten in elektrischem Blau, die Malcolms strahlten beinahe weiß. Dämonische Juwelen, deren Glanz weder das Grauen noch der Tod, den ihre Besitzer über die Menschheit brachten, zu trüben vermochte. Vielmehr schienen Leid und Schmerz ihr Leuchten zu verstärken.
Mit nadelfeinem Lächeln flüsterte Dorian Prior grimmig: »Du hast deinen Bruder mitgebracht?«
Erschrocken senkte Serena den Blick und wich einen Schritt zurück, als fürchte sie eine Strafe. Doch er wusste, dass Arweth seine Tochter niemals für eine solche Lappalie, wenn überhaupt jemals zur Ordnung rief. Prior ließ sein Lächeln milder erscheinen und beugte sich leicht vor.
»Nun, dann werde ich meine Überraschung eben vorziehen müssen. Ihr beide bringt meine Pläne wirklich durcheinander. Doch das ist nicht so wichtig.«
Malcolm unternahm den halbherzigen Versuch, seinen Ungehorsam zu erklären: »Arweth, du weißt doch, dass ich Serena nicht allein gehen lasse. Egal wohin. Ich bitte dich, mir zu verzeihen, aber gibt es eine bessere Rechtfertigung als ihre Sicherheit?«
»Schon gut, Malcolm.« Mit einem leichten Winken seiner langgliedrigen Hand unterstrich er die Belanglosigkeit des vermeintlichen Vergehens.
»Wir konnten schließlich nicht wissen, ob du wirklich diesen ... Mann geschickt hast. Dein Siegel war nicht unter der Botschaft, also ...«
Ein strenger Blick ließ Malcolm verstummen.
»Dieser Mensch, ist er dein ...«
»Ja, Serena, er war mein Wächter. War, weil er es nun nicht mehr ist. Er war ein überflüssiger Versuch, mir das Leben zu erleichtern, aber er wird nun niemanden mehr belästigen. Vergiss den Idioten.«
Serena lachte erheitert. Dorian Prior wusste, dass sie den Sterblichen eine beinahe instinktive Verachtung entgegenbrachte. Zumindest verhielt sich das bei älteren Sterblichen so. Arweths Tochter entwickelte ein Übermaß an geradezu verliebter Fantasie, wenn sie junge männliche Exemplare darauf vorbereitete, bis auf den letzten Tropfen von ihr geleert zu werden.
Einige ihrer Vorlieben kamen ihm erstaunlich vertraut vor. Er selber wandte vor vielen Jahren derartige Methoden an. Allerdings nicht um seines eigenen Vergnügens, sondern um der Wahrheitsfindung willen.
»Die Sache ist erledigt, Malcolm. Das sagte ich doch bereits. Kommt jetzt! Es ist Zeit für die Überraschung.«
Prior stand auf. Er bewegte sich vorsichtig, denn immer noch fühlte sich sein neues Äußeres wie eine fremde Hülle an. Sie schien um seinen eigenen Körper zu wabern und zu flattern wie ein zu weiter Mantel. Lächelnd trat Serena zu ihm in den Kreis seiner Puppen.
»Noch mehr Überraschungen, Vater? Wir sind ja schon überwältigt davon, dass du es geschafft hast, diesen wundervollen Ort vor uns zu verbergen. Da entdeckt man ja ganz neue Seiten an dir.«
Mit strahlendem Blick und ausgebreiteten Armen drehte sie sich zweimal im Kreis. Dieses Luder. Sie spielte das kleine Mädchen für Arweth.
»Ich finde das hier einfach entzückend. Diese Puppen. Das sind Menschen, nicht wahr?« Sie klatschte begeistert in die Hände und Malcolm verdrehte die Augen als wäre ihr albernes Gehabe mehr als er ertragen konnte.
Dorian Prior empfand dies betreffend eine gewisse Verbundenheit mit ihm. Aber nur keine Sorge. Bald schon wird sie notgedrungen den Ernst fürs Leben aufbringen, dachte er.
Impulsiv griff Serena Priors Arm. Kurz war er versucht, ihrem Griff auszuweichen, doch er unterdrückte diesen Impuls. Arweth ließ jede ihrer Berührungen zu. Mehr noch, er genoss diese sogar. In einer Mischung aus Faszination und Abscheu sah er ihre feuchten Lippen sich bewegen, als sie sagte: »Ich wusste, dass du nicht wirklich Lucas‘ Ansichten teilst. Jarout wird sich freuen, davon zu hören. Auch wenn er jetzt wieder bei der Familie ist und den braven Sohn spielt, hat er sich bestimmt nicht so sehr verändert, dass aus ihm ein zimperlicher Menschenfreund geworden ist.«
»Nein, mein Schatz, sicher nicht. Und ich habe noch etwas Besseres für euch. Etwas ganz Besonderes«, verkündete er und ließ seine Hand durch ihr weiches, kurz geschnittenes Haar gleiten. »Etwas Einmaliges. Nur für euch beide.«
»Wo ist es? Schnell. Ich kann es kaum erwarten«, drängelte sie und schmiegte ihr weiches Katzengesicht in seine kalte Hand.
Malcolm blieb zurückhaltend. Er war ganz eindeutig der rationalere von ihnen. Oft hatte Prior ihn während seiner Beobachtungen dabei ertappt, dass er sich benahm, als laste nicht nur seine eigene Ernsthaftigkeit auf seinem Herzen, sondern ebenfalls Serenas Mangel daran.
Beide waren geradezu perfekt aufeinander abgestimmt. Arweth traf eine gute Wahl, als er sie zu seinen Kindern erkor. Was Serena an Besonnenheit und Zurückhaltung fehlte, glich Malcolm aus, während sie seinen Mangel an Charme, Entschlossenheit und Herrschsucht ersetzte.
Zärtlich umschloss Prior Serenas zierliche Hand mit Arweths langgliedrigen Fingern und führte sie mit liebenswert väterlichem Lächeln durch den schmalen Durchgang in seine Werkstatt. Auch hier flackerten Kerzen. Doch lange nicht so viele wie im Vorraum. Erst wollte er ganz auf die Beleuchtung verzichten, doch so erzielten die finsteren Schatten die notwendige, dramatische Wirkung.
Wozu das Unvermeidbare hinauszögern, dachte er und bat beide, ihre Augen zu schließen und auf ihn zu warten. Er begebe sich nur rasch ins Nebenzimmer, um die Überraschung zu holen.
Sie vertrauten ihm. Und warum sollten sie das auch nicht? Schließlich war er ihr Vater. Ihr Vater, den sie liebten und verehrten. Arweth, dem sie gehorchten und mit Leib und Seele angehörten bis zu dem Tag ihres Todes.
Dorian Prior gestattete sich einen kurzen Blick zurück und sah sie dort stehen. Schemenhafte Gestalten in der Mitte des Raumes. Das Zwielicht der Kerzen warf zuckende Schatten. Zartes Abbild des reinen Schimmers lodernder Flammen. Seelenfeuer, in dem einst die unheiligen Leiber der Sünder auf sein Geheiß hin brannten. Niemals hätten diese Feuer verlöschen dürfen. Erst, als die Menschen aufhörten zu glauben und zu erkennen, vermochten Geschöpfe wie die Hirudo sich ungehindert zu vermehren.
Und was war aus Dorian Prior geworden? Er selbst war nun einer von diesen Teufeln. Aber ich bin nicht wie sie. Ich werde meinen Fluch nutzen, um Gerechtigkeit und Strafe in ihre unbehelligte Welt zu bringen. Die Zeiten des Friedens waren vorüber. Endgültig.
Er fühlte eine seltsame Zufriedenheit in seinen Geist einkehren. Ein Hochgefühl reinen Wissens und Zuversicht breitete sich wie ein warmer, goldener Teppich in ihm aus, als er zu dem Schrank ging, in dem er das Werkzeug seiner Sühne verwahrt hatte.
Feierlich zog er die scharfe, blitzende Klinge aus ihrer schmucklosen Scheide. Als der gleißende Stahl aus dem geölten Leder glitt, spürte Prior die vibrierende Macht, welche darin eingeschlossen war und nur darauf wartete, befreit zu werden. Der Stahl schien ebenso ungeduldig wie Prior selbst.
Dieses Schwert ward geschaffen, um Unfrieden zu bringen. Wie die Waffen, die Gottes Engel führten. Und genau so wie jene war auch diese Klinge nicht von dieser Welt. Geschmiedet von reinweißen Händen unter purpurnem Himmel. Von goldenen Augen betrachtet und gemessen. Gehoben und geschlagen mit erhabener Magie.
Ein Meister der Saharad, jenen Wesen, die von jeher in Feindschaft zu den Vampiren standen, fertigte diese Klinge nur für diesen einen Zweck. Und jetzt war die Zeit gekommen. Die heilige Waffe sollte endlich ihre Aufgabe erfüllen.
Wohlgefällig schwang Dorian Prior die Klinge einige Male in kurzen Aufwärtsstößen. Sie lag ausgezeichnet in der Hand und erinnerte ihn sofort wieder an seine Jugend. Unzählige Stunden hatte er im Hof des Anwesens seines Vaters verbracht und sich an weniger wertvollen Waffen geübt. Schon damals wusste er, dass der Tod die einzig gerechte Strafe für die Unreinen und Gottlosen dieser Welt war.
Hoch über seinem Haupt glühte jetzt die schwere Schneide in reinstem Blau und erhellte Serenas und Malcolms Gesichter. Sie sahen so unschuldig aus, so rein. Ein leichtes Lächeln lag auf ihren Lippen. Sie wirkten wie im Traum. Ihre Augen waren fest und voller Vertrauen geschlossen. Dass er den Raum betreten hatte, war ihnen nicht bewusst. Und auch nicht, was jetzt folgen sollte.
Komm, mein Freund, wir wollen sie nicht länger an ihrer Ungeduld leiden lassen, dachte Prior und die sehnigen Muskeln seiner Arme spannten sich, als er die breite Klinge noch höher hob und zur Seite schwang. Freudige Euphorie brannte in seiner Seele. Er wollte laut herauslachen, doch Erkenntnis verschlug ihm den Atem. Schon einige Male zuvor hatte er wie jetzt die Antwort auf alle Geheimnisse der Welten in seinem Inneren gespürt. Wie eine wohl vertraute und dennoch befremdliche Melodie war sie durch seine Gedanken geraunt. Momente, die keinen Atemzug währten, doch von unglaublicher Intensität waren.
Eine laute, alles verdrängende und endgültige Offenbarung, durchflutete sein Denken. Nie hatte er die flüchtige Wahrheit festhalten und in seinen Mund zwingen können, um sie tatsächlich auszusprechen. So auch jetzt nicht.
Wie ein sterbender Stern glühte sie auf. Nur, um dann umso endgültiger zu vergehen, brannte sie mit jedem Mal schmerzhafter in sein Bewusstsein. Durch ihr Erscheinen erst machte sie ihm die Leere dieser Welt bewusst.
Die Epiphanie des Wissens und der Weisheit. Ein flüchtiges Erkennen des Großen Musters, das Gott über die Welten der Menschen und der Dämonen einst gelegt hatte. Ein Netz, das diese Dimensionen untrennbar und zu einem höheren Zweck verwob.
Sie quälte ihn mit der Gewissheit, dass dieses Wissen selbst für ein dämonisches, übermenschliches Wesen wie einen Hirudo unerreichbar blieb. Und eben dieses Gefühl ließ seinen Leib jäh erbeben, als er die Klinge zum Schlag gegen Arweths Sohn erhob. Gewissheit blendete Priors Geist. Das Netz Gottes fuhr mit gleißendem Stahl auf Malcolms Nacken nieder und trennte seinen Schädel ohne spürbaren Widerstand vom Rumpf.
Dorian Prior sank überwältigt neben dem gefallenen Körper nieder. Sinnestrunken versenkte er seine fremden Hände in den See fließenden Blutes, das in kräftigen Strömen aus dem glatten Halsstumpf sprudelte. Versonnen starrte er in die Hitze des verlöschenden Lebens. Ihm war, als stünde die Zeit still. Um ihn herum herrschte vollkommenes, glückseliges Schweigen.
Benommen sah er Serenas zum Schrei verzerrten Mund. Ihre Brust hob und senkte sich. Augen, die das Gesehene verleugnen wollten, quollen grotesk aus ihren Höhlen und verschlossen sich vor der einzigen Wahrheit. Serena war nunmehr Klang. Doch Prior hörte sie nicht. Ihre Schreie vermochten seine Ruhe nicht zu stören. In ihm wohnte nun das sichere Wissen, dass der erste Knoten jener Bande, welche die Welten umschlangen, gelöst war. Absolution lag am Ende seines Weges.