13. Kapitel
Wieder einmal war Jarout ohne ein Wort der Erklärung verschwunden. Nein, er war nicht einfach nur verschwunden. Sein plötzlicher Abgang glich schon eher einer Flucht. Vermutlich war er ebenso erschrocken über die unerwartete körperliche Anziehung zwischen ihnen, wie Karen auch.
Mein Gott! dachte sie, wie kurz waren sie wirklich davor gewesen, einen unverzeihlichen Fehler zu begehen? Jetzt war sie schon eher erleichtert darüber, dass er für sie beide entschied, dass ihre Beziehung auf gar keinen Fall eine andere Richtung nehmen durfte, als die zu Anfang beabsichtigte. Sie hatten ein Abkommen miteinander, ein Geschäft und sonst nichts! Gefühle konnten die Sache nur komplizierter machen, als sie ohnehin schon war. Außer der Tatsache, dass sie beide Kinder desselben Mannes und somit Halbgeschwister waren.
Sie fühlte sich schrecklich ernüchtert und schämte sich fürchterlich. Wie konnte sie ihm nur so leichtfertig ihre Schwäche zeigen? Dazu kam noch, dass sie sich ärgerte, überhaupt so etwas wie Zuneigung für Jarout zu empfinden. Eigentlich war ihr völlig klar, dass sie ihn nicht im Geringsten leiden konnte.
Und dann, noch bevor sie auch nur einen klaren Gedanken fassen konnte, stand das vierte Familienmitglied an diesem Abend in der Tür. Schüchtern wagte er sich kaum zur Tür herein. Ein merkwürdiger Junge. Dem äußeren Anschein nach konnte er kaum älter als siebzehn Jahre sein. Sein Gesicht war so glatt und weich wie das eines Kindes, ohne die Spur eines Bartschattens. Seidige, hellbraune Locken rahmten sein porzellanweißes Gesicht und schimmerten golden im weichen Kerzenlicht.
In seinen leuchtenden Augen, die wie schimmernde Seeopale funkelten, tanzten grüne und blaue Lichter. Sein ganzes Wesen strahlte Unschuld und stille Neugierde aus, auch wenn sich in den Zügen um Mund und Augen bereits eine erste Härte abzeichnete. Wäre er noch ein oder zwei Jahre älter geworden, hätten sich daraus die ernsten Konturen eines Erwachsenengesichts entwickelt. Doch so verband sich Weichheit auf unvergleichliche Art mit der darunter gerade eben erkennbaren Männlichkeit und die verlieh ihm eine zarte Unbestimmtheit. Seine Kleidung wirkte altmodisch. Über dem weißen Hemd trug er eine Weste und dazu eine dunkle Hose aus weichem Stoff, die gerade so lang war, dass sie den Blick auf braune Halbschuhe freigab, die alt und ausgetreten wirkten.
Zu lange stand er da in der Tür und war so in Gedanken versunken, dass er gar nicht wahrnahm, dass ihr Blick dem seinen begegnete, den er erwiderte. Er betrachtete sie mit seltsam in sich gekehrtem Blick, und einen Moment lang beschlich sie das unangenehme Gefühl, ein studiertes Objekt zu sein. Doch als er erkannte, dass sie ihn genauso musterte wie er sie, senkten sich seine Lider erschrocken und ließen die Lichter seiner Augen hinter dunklen Wimpern verschwinden.
Um seine vollen Lippen zuckte ein nervöses Lächeln, und als sie ihn ansprach, unwirscher als beabsichtigt, sah er beinahe wie ein kleiner, verschreckter Junge aus, der gleich in Tränen ausbrach.
«Den ... Denis», brachte er schüchtern hervor und trat einen Schritt auf sie zu, «ich bin Jarouts Halbbruder. Du brauchst keine Angst vor mir zu haben.»
Doch so scheu er auch auf den ersten Blick wirkte, so überraschte er sie umso mehr, als er sie bat, sie malen zu dürfen. Um Gottes willen! Wie verzweifelt musste jemand sein, um ausgerechnet sie das zu fragen. Oder konnte es sein, dass dieses Kleid Wunder bewirkte?
Sie wusste nicht, was sie von ihm halten sollte. Aber warum nicht? Jarout war über alle Berge und kam vermutlich in dieser Nacht ohnehin nicht mehr zurück. Lucas war, wer weiß wo, und die Zeit des Wartens ließ sich sicherlich besser ertragen, wenn es jemanden gab, mit dem sie reden konnte. Über dieses und jenes und vor allem über die Familie. Sie war schließlich immer noch darauf aus, so viele Informationen wie möglich zu bekommen, bevor sie Lucas gegenübertrat.
Also sagte sie ja und fand heraus, wie man Denis glücklich machen konnte, sodass er richtiggehend strahlte. Für einen Moment trafen sich ihre Blicke wieder, und wie aus einem Instinkt heraus »griff« sie zu. Die übliche Schwelle war nicht vorhanden und so leicht zu überwinden, als betrete sie ein Zimmer durch eine weit geöffnete Tür. Mehr noch. Einen Moment lang spürte sie, wie sie geradezu hineingezogen wurde. Erschrocken fuhr sie zurück. Auf einen Geist, der nicht die geringste Gegenwehr übte, war sie noch nie gestoßen. Sein bereitwilliges Nachgeben war etwas, das sie nicht kannte.
«Du hast mich berührt», flüsterte er, und so etwas wie Ehrfurcht lag in seiner Stimme.
«Es tut mir leid. Das wollte ich eigentlich gar nicht.»
«Nein, es ist gut. Du hast mich berührt, und deine Gedanken waren in meinem Kopf. Ich spürte das ganz deutlich.» Er schien begeistert zu sein.
«Ich, äh, es passiert mir manchmal, ohne dass ich es darauf anlege.»
«Das ist schon in Ordnung. Lucas, mein Stiefvater, das heißt, der Gefährte meine Mutter, macht das auch manchmal. Aber nur, wenn er in Sorge um mich ist, oder etwas sagen möchte, das nur für mich allein gedacht ist.»
«Lucas, hm? Das ist doch Jarouts Vater, oder?», fragte sie Unwissenheit heuchelnd. Jetzt verstand sie, warum er ihr so unverhohlen Einlass in seine Gedanken gewährte. Das war wie ein Reflex. Klopfte jemand an die Tür, öffnete er sie, ohne zu zögern. Da bringt Lucas ihm ja ein paar hübsche Tricks bei, dachte sie grimmig. Er schwächt seinen ohnehin schon von Natur aus nicht unbedingt mit einem starken Selbstvertrauen gesegneten Schützling noch zusätzlich, indem er ihn lehrt, jeden der wollte, seine Gedanken lesen zu lassen.
«Jaa», antwortete Denis gedehnt, als sei ihm diese Frage unangenehm, «er, ich meine, wir gehören alle zu ihm. Er ist das Haupt dieser Familie.»
«Und wie ist er so? Ist er nett, oder ...?»
«Oh, er ist großartig. Er ist der Einzige hier, der mich behandelt, als wäre ich völlig normal. Ich meine, natürlich abgesehen von meiner Mutter, die liebt mich auch. Aber sonst ... zum Beispiel Jarout, der kann mich meistens nicht ausstehen. Und Beryl und Eliane auch nicht. Nur, weil ich nicht wie sie bin.»
«Du bist nicht wie sie? Was meinst du damit?»
Er wollte schon antworten, doch dann zögerte er. Ein hässliches Misstrauen verdunkelte jäh seine unschuldigen Züge.
«Keine Sorge, Denis! Du kannst mir vertrauen. Ich weiß, was ihr alle hier gemein habt.»
«Aha! Ja, dann, also du weißt, was und wer wir sind? Ich bin aber kein richtiger Hirudo, verstehst du?»
Sie schüttelte den Kopf. Kein richtiger Hirudo? Konnte es sein, dass er ihr ähnlich war? War er womöglich auch ein Mensch? Aber nein! Jarout sagte, Hirudo seien unfruchtbar und Blanche konnte ihn demnach nur während der Zeit geboren haben, als sie selber noch menschlich war. Jesus, Denis musste wirklich alt sein.
«Na ja, ich habe keines dieser Talente, die alle anderen haben. Du weißt schon, fliegen, durch Spiegel, reisen wie Jarout oder die Leute Sachen sehen lassen, die gar nicht da sind. Ich weiß nicht, was Lucas alles kann, aber er vermag eine Menge Dinge mehr zu tun, als die anderen. Ich besitze kein Talent. Deshalb bin ich Jarout lästig. Er sagt immer, ich sei wie ein Klotz, der ihm am Bein hängt, weil er mir helfen muss. Ich gehe nicht gern auf die Jagd.»
Die Jagd – das klang ja grauenvoll. Karen erinnerte sich an die Bilder, die sie in Jarout sah.
«Aha!», flüsterte sie und schluckte.
Er nickte bedauernd. «Ja, aber Lucas meint, das alles wäre nicht so schlimm. Er meint, ich habe schließlich andere Talente. Ich male so schöne Bilder, sagt er und ich ... ich schreibe Gedichte. Aber das sind doch keine richtigen Talente. Das habe ich schon getan, als ich noch ein Mensch war. Es sind menschliche Talente und die nützen mir gar nichts.»
Seine Art sich auszudrücken, erschien ihr mindestens so altmodisch und rührend, wie sein jungenhaftes Äußeres und seine schon lange aus der Mode gekommene Kleidung. Auch was er über Lucas zu sagen hatte, war ein wenig überraschend. Das Bild, das Jarout ihr von ihm malte, war ein völlig anderes. Denis vermittelte in seinen Worten vielmehr den Eindruck, dass Lucas sehr wohl ein Vater sein konnte, wenn er seinem Sohn nur ein Vater sein durfte.
«Karen?»
«Ja, was denn?»
«Wir sollten gehen. Die Nächte im Sommer sind so kurz.»
«Wie? Ach so, natürlich.»
Er nickte erfreut und eilte zur Tür.
«Warte, nicht so schnell. Ich kann nicht so gut laufen in diesem Kleid. Es ist mir zu lang. Es gehört Blanche.»
Er blieb einen kurzen Moment stehen und sah sie mit einem plötzlichen Ausdruck von Schmerz in den Augen an.
«Ich weiß, sie trug es in der Nacht, in der mein Vater getötet wurde.»
Mit diesen trauernd klingenden Worten verschwand er durch die Tür. Erstaunt blickte sie ihm einen Augenblick nach, dann raffte sie ihr Kleid auf und folgte ihm.
«Ich habe selber nichts zum Anziehen dabei, und sie sagte, ich könne ihre Sachen nehmen.»
Das schien ihn überhaupt nicht zu überraschen.
«Vermutlich erinnert sie sich gar nicht mehr, was sie wo aufbewahrt.» Dann überlegte er einen Moment. «Aber vielleicht solltest du das Kleid nicht unbedingt anziehen, wenn sie dich darin sehen kann», fügte er hinzu. Das hätte sie ohnehin nicht gewagt, nachdem sie jetzt wusste, welche Erinnerungen der bloße Anblick auslöste.
Sollte sie ihn fragen, was damals geschehen war? Besser nicht, entschied sie. Sonst hält er mich noch für allzu neugierig. Außerdem ließ er ihr keine Zeit, weiter darüber nachzudenken. Vielmehr musste sie sich anstrengen, nicht auf das Kleid zu treten und hinzufallen. Im Laufschritt eilte er voran. Die langen Flure entlang und um unzählig viele Ecken. Kurze Treppen hinauf und wieder hinunter. Sie seufzte, und letztendlich gab sie es auf, sich vorzustellen, wo im Haus sie gerade waren.
Allmählich war sie überzeugt, dass sie sich nur in einem dieser verwunschenen Häuser befinden konnte, über die mal was in einer von diesen einschlägigen Zeitschriften geschrieben stand, die sie ein oder zweimal, in der Hoffnung mehr über ihre Begabungen zu erfahren, kaufte. Bislang hielt sie das für den größten Blödsinn in Gottes schöner Welt. Häuser, in denen die Zimmer absichtlich völlig absurd angeordnet waren. Türen, die ins Leere führten, Treppen, die an einer Wand endeten. Und das alles nur, um Geister und sogenannte »kosmische Energien« anzulocken. So ein Schwachsinn. Und dann erst die Geschichten über verfluchte Bauwerke. Jetzt allerdings kamen ihr doch Zweifel, zumindest was diese beabsichtigte Bauweise betraf. Hier schienen die verrückten Ideen des Architekten hervorragend zu funktionieren. Kein normales Haus konnte so konstruiert sein, dass sich seine Bewohner nur noch mit einem Lageplan zurechtfanden. Unweigerlich gewann sie den Eindruck, dass dieses Haus innen mindestens doppelt so groß war, wie es von außen schien.
Wieder einmal verlor Karen vollständig jegliche Orientierung und als ahne Denis, wie verwirrt sie war, blieb er kurz stehen.
«Wir sind gleich da», erklärte er mit entschuldigendem Lächeln, «Golan hat den Grundriss für das Haus entworfen. Zu Anfang hatte ich auch Schwierigkeiten, mich zurechtzufinden.»
Karen nickte erleichtert. Dann war sie wenigstens nicht die Einzige. Doch was um Gottes willen mochte in einem Verstand vor sich gegangen sein, der einen derart verrückten Bauplan ausbrütete? Die Anordnung der Räume schien vollkommen willkürlich erdacht. Wenn man überhaupt von einer Ordnung sprechen konnte, dann nur von der des Chaos. Die vielen Winkel zu erforschen und immer wieder ein neues Zimmer zu entdecken, mochte ja aufregend sein, solange man nicht unterwegs verhungerte, weil man nicht mehr zurückfand. Seine Zimmer, erklärte Denis, lagen besonders gut versteckt, und außer ihm und Lucas kannte sie niemand.
«Ich nenne sie meinen geheimen Garten», verkündete er stolz, «wie in der Geschichte, wo sich diese Kinder einen Garten anlegen und niemand außer ihnen davon weiß.»
Er führte sie um die nächste Korridorecke, und im Halbdunkel vor ihnen konnte sie eine weitere Treppe entdecken, die diesmal, jedoch im Gegensatz zu den anderen, an einer Tür endete.
Denis blieb stehen und sie sah, wie er an dem Kragen seines Hemdes herumfummelte und schließlich eine Kette mit einem Schlüssel daran zum Vorschein brachte.
Er stapfte die Treppe hinauf und sie konnte hören, wie er mit dem Schlüssel vergeblich versuchte, das Schloss zu öffnen.
«Hier ist es wirklich sehr finster», murmelte er, «aber jetzt hab ich's gleich, nur einen Augenblick.»
Endlich stieß er die Tür auf. Sie knarrte leise in den Angeln. Dahinter war wieder nur Dunkelheit.
«Warte, ich mach erst Licht!»
Damit verschwand er in der undurchsichtigen Schwärze. Doch kurz darauf flammten mit dem Klicken eines Schalters die Lichter eines sechsarmigen Leuchters an der Zimmerdecke auf. Zögernd betrat sie Denis kleines Reich. Das Chaos war erdrückend und ungleich schlimmer dem, das sie zuvor unten im Salon sah.
Am meisten irritierten sie die runden Wände. Denis »Garten« war offensichtlich in einem Turm angelegt. Karen erinnerte sich. Gestern, bei ihrer Ankunft sah sie ein spitz zulaufendes, rundes Dach auf der linken Seite hinter dem Haus. Verrückt, sie konnte sich nicht daran erinnern, den Turm gesehen zu haben, als sie vorhin im Garten war. War er womöglich in das Haus gebaut? Wie sonst war zu erklären, dass seine Außenwände weder von der einen, noch von der anderen Seite aus sichtbar waren. Aber nein, dort war ja ein Fenster. Also musste wenigstens eine Hälfte des Turmes freiliegen.
Wie dem auch sein mochte, jedenfalls war dieser Ort ein herrliches Versteck für jemanden wie Denis, denn nur vor den neugierigen Blicken anderer verborgen, schien er seine Persönlichkeit frei und ohne Scham entfalten zu können.
Das runde Zimmer war angefüllt mit Leinwänden. Verwirrend farbenprächtige Gemälde leuchteten wie in ein eigenes, magisches Licht getaucht. Da waren Landschaften voller Leben, dass man glauben konnte, durch ein Fenster ins taghelle Außen zu blicken. Und Porträts von Gesichtern, die so lebensecht wirkten, als wollten sie jeden Augenblick zu lachen, reden und zu weinen anfangen. Frauen, Männer und Kinder, die in vergessenen Legenden lebten und unter ihrer Aufmerksamkeit zu neuem Leben erwacht, ihr entgegenkamen, um sie zu begrüßen.
Und überall auf dem Boden verteilt lagen verschmierte Farbpaletten, auf denen Ölfarben trockneten, deren Geruch wie nach rohem Fisch sich mit dem beißenden Aroma des Terpentins in den vielen Töpfchen und Schalen vermischte. Sie erschrak, als Denis ein kleines Sofa neben dem rußigen Kamin, mit dem noch rußigeren Teppich, davor freischaufelte und dabei ein Dutzend Papierseiten wie übergroße, viereckige Schneeflocken zu Boden segelten.
«Bitte, wenn du magst, kannst du dich setzen», bot er an, doch sie war noch viel zu sehr damit beschäftigt, diese Vielfalt zu erfassen. Neben dem Sofa konnte sie unter gestapelten Papierstößen noch zwei Sessel und einen ungemütlich kleinen Stuhl als Sitzmöbel ausmachen. Außerdem stand mitten im Zimmer ein runder Tisch mit einem Durchmesser von nicht mehr als vierzig Zentimetern, dessen einzige Aufgabe war, einen fünfarmigen Kandelaber zu tragen, unter dessen Gewicht er jeden Augenblick zusammenzubrechen drohte.
Drei Staffeleien unterschiedlicher Größe und Konstruktion lehnten an der Wand. Eine einzelne stand frei im Raum, als bilde sie das Zentrum dieses außergewöhnlichen Mandalas, das Möbel, Papier, Leinwandgesichter und Nippes woben.
Von jener Staffelei lächelte Denis jüngstes Projekt in das Durcheinander. Das noch etwas blasse und erst halb fertige Porträt einer Greisin.
Neugierig sah sie zu der Treppe hinüber, die sie erst jetzt bemerkte, weil sie halb von der geöffneten Tür verdeckt war.
Die schmale Stiege wirkte derart windschief, dass Karen sich unwillkürlich fragte, ob man überhaupt wagen durfte, sie zu benutzen.
«Wenn du magst, können wir raufgehen», meinte Denis, der sie die ganze Zeit über aufmerksam beobachtete.
«Was ist dort oben?», fragte sie und erhielt eine ausgesprochen merkwürdige Antwort.
«Die Sonne», sagte er, begeistert vom Interesse, das sie ihm entgegenbrachte.
Eilig kletterte er die steile Treppe hinauf. Karen folgte ihm, wobei sie kaum wagte, sich an dem wackeligen Geländer festzuhalten. So neu das Holz auch aussah, die ganze Konstruktion schien ihr eher abbruchreif zu sein. Für so etwas wie Reparaturen besaß Denis offenbar kein Talent.
Oben angekommen hielt er kurz an und tippte auf einen weiteren Lichtschalter, daraufhin leuchteten zwei Stehlampen auf. Sie blieb stehen und staunte einmal mehr.
Der meiste Raum wurde von einem großen Messingbett, über das eine weiche Decke aus violettem Samt ausgebreitet war, in Anspruch genommen.
Regale, in denen Hunderte von Büchern neben-, über- und untereinander gestapelt waren, säumten das halbe Rund der Wände. Die andere Hälfte bot einen Anblick, der ihr tatsächlich für einen Moment den Atem verschlug.
Die Sonne hatte er gesagt, und jetzt sah sie, dass das nicht zu viel versprochen war.
In die gewölbte Mauer war vom Boden, bis direkt unter das unverkleidete Spitzdach des Turmes, ein Panoramafenster aus buntem Bleiglas eingelassen. Feinste Mosaiksplitter fügten sich zu einem Bildnis zusammen, dessen Farben selbst jetzt bei Nacht in ihrer vollen Pracht leuchteten.
Das Bild zeigte einen zweirädrigen Wagen, den vier Pferde, zwei Schimmel und zwei Rappen, über einen strahlend blauen Himmel zogen. Gelenkt wurde das Viergespann von einem Mann in weitem, wehenden Gewand. Sein majestätisch lodernder Blick schien ihr zu folgen, als sie langsam durch das Zimmer zu Denis ging. Hinter dem grimmigen Wagenführer erstrahlte eine gigantische, flammende Sonne, deren blendend helles Licht sich wie flüssiges Gold über den gläsernen Himmel ergoss.
«Mein Gott, ist das schön», flüsterte sie, als sie endlich die Sprache wiederfand.
«Ja, nicht wahr. Das ist Helios, der griechische Gott, der die Sonne jeden Tag in seinem Wagen über den Himmel zieht», erläuterte er und zog sie mit sich näher an das über vier Meter hohe Kunstwerk heran, «ich fand das arme Ding vor einigen Jahren in einem Abbruchhaus und brachte es hierher. Damals war nur noch ein jämmerliches Gerippe davon übrig geblieben», erklärte Denis, «sieh mal, hier! Die Rahmen der fehlenden Glasstücke waren noch da, aber außer den beiden Pferden und dem halben Wagen war alles herausgebrochen.»
«Und du hast das alles allein gemacht?»
Er nickte und seine bleichen Wangen röteten vor Stolz.
«Es war schwierig, die Farben richtig hinzubekommen. Die Plättchen, kaum ohne Blasen anzufertigen, war erst schwierig, aber nach einiger Übung war es dann ganz leicht.»
«Wie hast du das nur geschafft? Es ist so riesig.»
«Nein, sieh doch mal hier! An einigen Stellen sind die Nähte noch zu sehen, aber besser ging es nicht. Siehst du dort?» Er nahm Karens Hand und presste ihre Fingerspitzen mit sanftem Druck gegen einen der kalten Metallstränge, in welche die kleinen Glasplatten eingepasst waren.
«Meine Güte, Denis, und du glaubst, kein Talent zu haben? Sieh dich doch nur mal um. Du erschaffst Dinge, Bilder, Welten, die so unglaublich sind, dass der begabteste Künstler der Welt in Ohnmacht fiele, könnte er das hier sehen.»
Doch er schüttelte traurig den Kopf.
«Karen, ich sehe das doch alles, aber du scheinst nicht zu sehen.» Mit den beiden Armen vollführte er eine Geste, die den ganzen Raum umspannte. «Das, was du hier siehst, hat nicht den geringsten Nutzen in der Welt, in der ich lebe. Du glaubst, jeder müsse mich um meine Talente beneiden? Dann frag doch mal, ob sie dafür auch mit mir tauschen wollen. Was nützen mir Talente, die mich weder befähigen mich zu ernähren, noch zu verteidigen? Was ich besitze, sind menschliche Talente, aber ich bin kein Mensch! Ich bin das, wozu meine Mutter mich gemacht hat. Du beneidest mich um meine Gaben? Dann nimm sie, nimm sie hin, und gib mir dafür deine Fähigkeit, die Gedanken der Menschen zu berühren. Das wäre etwas, mit dem ich was anfangen könnte. Mir nützt es nichts, diese Welten, wie du sie nennst, zu schaffen und die dann nur stumm und starr in die Gegend glotzen.»
Sie war völlig perplex über seinen unerwarteten Gefühlsausbruch. Er musste sehr verzweifelt sein. Wie tief mussten die Wunden sein, die Jarout und alle anderen ihm immer wieder zufügten? Immer wieder und wieder auf die eigene Unzulänglichkeit gestoßen zu werden, solange bis man selber daran glaubte, das musste auf Dauer unerträglich sein.
«Tut mir Leid, Denis», hauchte sie. Wie traurig er aussah. Doch ihr fielen keine Worte ein, mit denen sie ihm wirklichen Trost geben könnte.
«Nein, ich verstehe ja, was du meinst und ich weiß auch, was du siehst. Ich erinnere mich an die Blicke und Worte der Menschen, die mir vor langer Zeit großen Ruhm und Bewunderung prophezeit haben. Für eine Weile hatte ich ja auch tatsächlich so etwas wie Erfolg. Ich schätze, in einigen Häusern und vielleicht sogar Museen, wird man heute noch zeitgenössische Werke des begabten Anonymus finden. Doch das ist lange vorbei.»
«Aber wieso? Du könntest doch wieder ausstellen und ganz schrecklich berühmt werden.» Sie versuchte ihrer Stimme einen leichten Klang zu geben, doch sie wusste bereits im Voraus, was sie zur Antwort bekam.
«Du verstehst das nicht. Ich kann das nicht. Glaube mir, ich malte mir oft genug aus, wie es wäre, diesen Ort zu verlassen. Ich stelle es mir manchmal vor, und in meinen Träumen sehe ich alles ganz genau vor mir. Weil alle Welt Künstler nun einmal für exzentrisch hält, wäre es nicht weiter verwunderlich, warum ich nur nachts zu sprechen wäre. Ich könnte mir durch meinen Status und mein Geld jemanden suchen, der mir bei der Jagd hilft und mich liebend gern durchfüttert, und ich könnte mir von Lucas sogar beibringen lassen, wie man in der Welt dort draußen mit ihren modernen Menschen, den Alarmanlagen, den hermetisch abgedichteten Fenstern und den anderen Merkwürdigkeiten überlebt. Aber ich schaffe das nicht. Ich bringe die Kraft für einen Anfang einfach nicht auf. Du ahnst nicht, wie schwer es mir fällt, sogar in Jarouts oder Seamus Begleitung nachts hinauszugehen und all diese Menschen zu sehen.»
Sprachlos blickte sie zu ihm. Denis sah so hilflos aus. Mutlos und mit hängenden Schultern stand er vor ihr. Tränen legten einen roten Schleier vor seinen zuvor so strahlenden Blick. Verzweifelt wünschte sie, sie hätte die Macht, ihm all seine Angst zu nehmen, sodass er wie ein Schmetterling aus der zerbrochenen Puppe hervorkriechen könnte, um allen zu zeigen, was sich hinter all den Gespinsten und trockenen Hüllen verbarg.
Hier hatte er sich eine Bühne für seine weit schweifenden Träume geschaffen. Diese Räume schienen mit ganzer Kraft zu sagen: Seht her, seht alles an. Das hier ist Denis. Er ist so fein und weich wie die Muster auf den orientalischen Teppichen unter euren Füßen. So geistreich wie die vielen klugen Bücher in den Regalen und so strahlend wie dieses Fenster.
All das war er, und nur hier konnte er seine ganze Persönlichkeit herauslassen. Wie sehr musste er sich nach jemandem sehnen, der die vielen kleinen Details sah, der ihn sah? Konnte sie das?
Intuitiv breitete sie ihre Arme aus und zog seinen schmalen Körper zu sich heran. Erst versteifte er sich und wollte sich aus ihrer Umarmung befreien, doch dann spürte sie, wie seine Arme sich um ihre Mitte schlangen und er sich ganz weich an sie lehnte.
Sie kannte ihn erst wenige Minuten und dennoch war er ihr auf erstaunliche Weise vertrauter und näher, als je ein Mensch vor ihm. Sie wusste, was es heißt, nicht die Liebe und Aufmerksamkeit von gerade demjenigen zu bekommen, von dem man sie sich am meisten wünscht. Bei ihm war das Jarout und bei ihr ... Lucas. Gott, wäre er jetzt hier, sie könnte ihn umbringen. Verdammt sollst du sein, du Miststück von einem Vater! dachte sie und presste fest die Lippen aufeinander, um nicht laut herauszufluchen. Sogar einem Wildfremden wie Denis, der nicht einmal Lucas Fleisch und Blut ist, war er ein Vater. Er war für Jarout da, für diese ganze verdammte Familie war er ein treu sorgendes Oberhaupt. Und die ganzen Jahre über war er nicht ein einziges Mal auf die Idee gekommen, dass seine Tochter sich nach ihm sehnte, und dass diese Sehnsucht nicht einfach mit der Zeit nachließ und starb wie ein sieches Tier. Sie war doch ein Teil von ihm. Wie konnte er sie einfach vergessen und jemand anderem die Zuneigung geben, die doch nur ihr gebührte. Ihr kam ein scheußlicher Gedanke - Denis verdiente ihn doch gar nicht! Sie war sein Kind und nicht er!
Oh nein, Denis konnte ja nichts dafür. Ihn traf keine Schuld. Schuldig war einzig und allein Lucas Vale und sogar jetzt noch zog er sich aus der Verantwortung, indem er durch das Einzige glänzte, was ihm wirklich zu liegen schien - Abwesenheit. Fahr zur Hölle Lucas! Und gnade dir Gott, wenn ich dich in die Finger bekomme! Nein, Denis konnte wirklich nichts dafür, was zwischen ihr und Lucas war oder vielmehr nicht war. Er war unschuldig - vielleicht als Einziger in diesem Haus. Denis war einfach nur ein süßer, naiver Kerl, der dasselbe wie sie auch suchte - Verständnis und Zuneigung.
Der warme Duft seiner Haare hüllte sie ein, und ganz leicht spürte sie seine zaghaft tastenden Hände auf ihrem Gesicht. Seinen Kopf wie schutzsuchend in ihrem Haar vergraben, tastete er nach ihren Wangen. Die schlanken, kalten Fingern erkundeten jeden Zug, jeden Bogen, und schienen sogar noch die Beschaffenheit der Haut selbst erfühlen zu wollen.
Dann löste er sich auf einmal energisch aus ihren Armen und zog sie zu dem großen Bett.
«Setz dich, bitte!», flüsterte er mit ernstem Gesicht und drückte sie sanft an den Schultern nieder. «Ich bin sofort wieder bei dir.»
Er lief die Treppe hinunter und Karen hörte ihn ein Stockwerk tiefer mit lautem Geklapper herumhantieren und raschelnd in den Papierbergen wühlen. Mehrere Minuten ging das so. Als er endlich wieder in der Öffnung der Luke auftauchte, schleppte er eine der Staffeleien über der rechten Schulter herauf. Unter den linken Arm geklemmt trug er einen dicken Skizzenblock und in der linken Hand einen Holzkasten, dessen Inhalt bei jedem Schritt geheimnisvoll klapperte.
Das Holzgestell postierte er zunächst wahllos mitten im Raum und die anderen Utensilien warf er neben sie auf die weiche Decke.
Immer noch sagte er kein Wort, und auch Karen wollte die Stille nicht durch völlig unnötige Bemerkungen oder Fragen zerstören. Ihrem gemeinsamen Schweigen haftete beinahe etwas Heiliges an. Seine Hände arbeiteten geschickt und bar jeder Unsicherheit. Wie in einem Ritual, währenddem nur das Rascheln und Schaben der benötigten Sakramentalien zu vernehmen war, legte er zurecht, was er zum Malen brauchte.
Und während Denis seinen Altar aufbaute, versuchte Karen eine Position auf dem Bett zu finden, welche bequem genug war, um sie solange wie nötig beizubehalten.
Als Denis erkannte, dass sie bereit war, huschte er beinahe geräuschlos einmal um das Bett herum, verharrte mehrmals einige Sekunden lang und stellte seine Staffelei schließlich in einiger Entfernung rechts neben dem Bett auf.
Das leise Hauchen des Windes in den Dachziegeln und das Kratzen der Kohle auf dem rauen Papier waren von hypnotischer Gleichmäßigkeit. Karen schloss die Augen und ließ ihren Gedanken freien Lauf. Doch anstatt gleich einzuschlafen, verharrte sie lange Zeit in diesem herrlich schwebenden Dämmerzustand, in dem Traum und Realität nicht mehr länger zu unterscheiden waren. Bilder kamen zu ihr, flossen hinter ihren geschlossenen Lidern vorüber, wurden zu ineinander verflochtenen sinn- und handlungslosen Strängen, die sie unmerklich immer tiefer in den Schlaf zogen.
Und dann träumte sie von der Sonne, die vom Himmel herab auf die Erde kam, und ihr goldenes Strahlen hell und unendlich sanft in jeden Winkel der Nacht verströmte.