14. Kapitel

 

Denis lag zusammengerollt am Fußende des Bettes und beobachtete sie stumm. Verängstigt stand Karen am Fenster und blickte hinaus in die Schwärze der Nacht. Ein greller Blitz zerriss die dunklen Wolken. Erschrocken kniff sie die Augen zu. Kurz flackerte das elektrische Licht, dann folgte ein heftiger Donnerschlag mit lautem Krachen. Dumpf grollte er über dem wolkenverhangenen Himmel und verlor sich in der Ferne. Karen schauderte. Gewitter jagten ihr jedes Mal eine panische Angst ein.

 «Es wird Tag», flüsterte Denis und setzte sich auf, «ich muss gleich gehen.»

Seine Stimme klang müde und doch konnte sie seine Unruhe ganz deutlich spüren. Er durfte jetzt nicht gehen. Sie wollte nicht schon wieder allein sein und schon gar nicht bei einem derartigen Unwetter. Außerdem war er ihr noch Antworten auf ihre Fragen nach Lucas schuldig. Während der vergangenen Stunden war er ganz in die Arbeit an ihrem Bild vertieft gewesen, und sie konnte kein vernünftiges Wort aus ihm herausbekommen. Doch sie wusste, dass er nicht bleiben konnte. Auch wenn die dichten, grauen Gewitterwolken die Sonne verbargen, musste er vor dem Tageslicht Schutz suchen.

 «Ich denke, es wird jetzt wirklich Zeit. Entschuldige bitte.»

«Ja, schon gut», meinte sie, doch ihr ängstlicher Blick zum Fenster, das jetzt in einer Reihe greller Blitze hell aufleuchtete, strafte sie Lüge.

«Du kannst hier bleiben und lesen, wenn du magst», bot er an und schlurfte langsam zu der Bodenluke. Von unten warf das helle Licht der Deckenlampe bizarre Schatten auf sein Gesicht, als er noch einmal innehielt und zurückblickte, bevor er die oberste Stufe betrat.

«Fühl dich ganz wie zu Hause.» Er lächelte unsicher und machte eine unbestimmte Geste zu den Regalen hinüber. «Du kannst meine Bücher lesen, oder was immer du magst.»

Sie sollte sich wie zu Hause fühlen? Panik kroch ihr mit kalten Fingern den Rücken hoch und stellte die kurzen Nackenhärchen auf. Verdammt! Wie sollte sie sich an diesem Ort zu Hause fühlen?

«Wir sehen uns heute Abend?», fragte er hoffnungsvoll.

 Oh, Denis! dachte sie, geh nicht! Sie wollte nicht allein sein. Nicht hier, nicht heute. Auch wenn er in den vergangenen Stunden überhaupt nichts sprach und auch nichts über Lucas verraten wollte, sondern nur mit einem Stück Kohle auf seiner Leinwand kratzte, das war egal. Hauptsache sie war nicht allein. Sie brauchte jemanden, der sie davon ablenkte völlig durchzudrehen, während sie noch einen quälend langen Tag damit verbrachte, auf Lucas Vale zu warten. Was sollte sie jetzt nur tun?

«Du bleibst doch noch, oder?», fragte Denis und sah sie besorgt an.

«Ja, für eine Weile.»

«Das ist gut!», meinte er und lächelte matt. «Wenn du raus willst, dann geh unten durch die andere Tür und die Treppe runter. Du kommst dann in den Garten. Ich muss leider abschließen, sonst könnte ja jeder hier rein, wenn ich weg bin.»

Er wandte sich endgültig ab und stapfte die Stufen hinunter. Karen sprang auf und rannte hinter ihm her. «Warte, bitte», rief sie, «ich komme mit!»

Er blieb stehen und drehte sich um, antwortete aber nicht, sondern blinzelte sie nur mit glasigen Augen an. «Aber nur bis zur Kellertür. Mit runter darfst du nicht.»

Leicht verärgert runzelte sie die Augenbrauen. Dachte er etwa, sie erwartete eine exklusive Einladung in Daddys Club, oder was? Ihr war schon längst klar geworden, dass Lucas Leben nicht gerade von der Sorge um seine geliebte Tochter bestimmt wurde. Schließlich war er vollauf damit beschäftigt durch die Weltgeschichte zu düsen und Reichtümer anzuhäufen, wichtige Vampirangelegenheiten zu regeln und sich um anderer Leute Kinder zu kümmern.

Dabei verschwendete er nicht einen einzigen Gedanken an sie oder an ihre Mutter. Was aus ihnen geworden war, scherte ihm anscheinend einen Dreck. Seine Ignoranz stank zum Himmel. Warum war ihr das nicht schon viel früher klar geworden, dass sie von Anfang an alleine stand? Allein gegen Lucas, allein gegen diese Familie und allein gegen dieses verfluchte Haus, das ihr wie ein kaltes, dunkles Grab erschien, in dem sie mit jeder Stunde die sie hier war, mehr und mehr das Gefühl bekam, zu ersticken. Jarout konnte sie getrost vergessen. Was immer sie auch in ihrer Naivität von ihm erhoffte, war doch nichts weiter als eine Illusion und sein hinterhältiger Versuch, sie zu manipulieren. Aber da täuschte er sich. Wenn er glaubte, sie fiel noch einmal auf seine Schmeicheleien und Zärtlichkeiten herein, dann war er verdammt noch mal auf dem Holzweg. Bei ihr funktionierte das alte Du-musst-nur-auf-den-richtigen-Knopf-drücken-Spiel nicht. Nein, bei mir nicht mehr, aber vielleicht bei anderen.

Du musst dafür sorgen, dass dieses Spiel nach deinen Regeln gespielt wird! dachte sie grimmig. Sie musste sich etwas einfallen lassen, wenn sie das Blatt zu ihren Gunsten wenden wollte. Bisher war nur sie die Betroffene. Jarout brachte sie her, Lucas Buch verwirrte sie, das Haus lenkte sie ab, Blanche fütterte und lullte sie mit ihrer Freundlichkeit ein, und Jarout verführte sie mit seiner gespielten Zuneigung. Und die liebe Karen ließ all das völlig apathisch über sich ergehen. Damit war ein für alle Mal Schluss! Sie brauchte einen Trick, um Denis zum Reden zu bringen. Und wenn sie dabei zu einer gemeinen Lüge greifen musste, dann sollte das wohl so sein, sonst stand sie nächste Nacht noch immer mit leeren Händen da und ängstigte sich vor geflügelten Vampiren.

«Denis!» Sie waren an der Treppe zur Eingangshalle angekommen, Karen packte ihn am Arm und zwang ihn, stehen zubleiben. «Wann kommt Lucas zurück? Du musst es mir sagen!»

Verständnislos blickte er in ihr Gesicht. In ihren Augen spiegelte für einen Augenblick die Wut, die ihr Innerstes aufgewühlt hatte.

«Warum fragst du?»

«Weil, weil, nun ja ... Ich muss ihn unbedingt sehen, bitte, wann kommt er zurück?»

Er überlegte einen Moment - was wohl der Herr des Hauses darüber denken mochte, wenn er mit einem fremden Mädchen über ihn sprach? «Ich weiß nicht – vielleicht heute oder morgen Nacht. Was willst du denn von ihm?»

«Ich muss mit ihm sprechen, mehr kann ich dir nicht verraten. Keine Angst, das ist nichts Schlimmes, aber es ist sehr wichtig.»

«Hm», war alles, was er darauf antwortete. Ihr schien, als überlegte er in Zeitlupe, so müde, wie er war. «Ich dachte, du wärst mit Jarout hier ...»

«Sicher, aber er weiß nichts von meinem Geheimnis», raunte sie leise.

«Was für ein Geheimnis denn?», fragte Denis mit weit aufgerissenen Augen. Für einen flüchtigen Moment war er wieder hellwach.

«Eine geheime Botschaft, nur für ihn. Von der Bedienung im Porch.» Sie war entsetzt über ihre unverschämte List. Den naiven Denis so kaltschnäuzig anzulügen, entsprach eher Jarout. Aber sie war stolz darauf, dass ihr eine so geschickte Lüge eingefallen war.

«Von Serena?»

Karen frohlockte, und Denis schluckte den Köder.

«Ja, genau», antwortete sie und warf einen verschwörerischen Blick über die Schulter, als fürchte sie, jemand könne sie belauschen.

«Doch nicht etwa eine Nachricht von Arweth? Oh je, dann ist es wirklich wichtig.»

Wer zur Hölle war Arweth? Egal - er war offenbar jemand Wichtiges, der nicht zum ersten Mal dringende Nachrichten überbringen ließ.

«Ja, von Arweth», bestätigte sie auf gut Glück und hoffte, mit ihrer dreisten Behauptung richtig zu liegen.

Genau das war der Fall, denn ein Ausdruck echter Bestürzung lag in Denis Gesicht. Nervös knibbelte er an einem Knopf seines Hemdes. «Oh Mann, eine Nachricht von Arweth!», wisperte er verstört. «Dann musst du unbedingt mit ihm reden. Ich werde ... maman ...»

«Nein! Niemand!», rief sie unwirsch und packte ihn mit beiden Händen an den schlaffen Schultern. «Denis, hör mir bitte zu, niemand, nicht einmal Blanche oder Jarout dürfen was davon erfahren! Ich darf nur mit Lucas reden. Hast du verstanden?»

«Aber sie können doch ...»

«Nein, niemand darf davon etwas wissen, klar?»

Erst zögerte er, doch dann nickte er; immer noch unsicher, aber er verstand.

«Ich weiß nicht, wann er wieder hier ist - ehrlich.»

So kam sie nicht weiter. Nach einer Telefonnummer konnte sie ihn nicht fragen, schließlich wollte sie nicht mit Lucas telefonieren.

«Denis, du musst mir helfen!», bat sie eindringlich. «Wo kann ich auf ihn warten, ohne dass die anderen etwas davon mitbekommen? Ich meine ... es ist mit zu gefährlich, noch einmal eine Nacht hier zubleiben, und gestern wäre ich beinahe den Schwestern über den Weg gelaufen, und wenn die etwas über Arweths Botschaft herausfinden ...»

«Du hast recht, das wäre gar nicht gut, wenn du nur mit Lucas darüber sprechen sollst.»

«Genau! Also, sage mir bitte, gibt es in diesem Haus einen solchen Ort?»

«Da bin ich mir nicht sicher. Wenn Lucas mit Leuten über wichtige Sache redet, dann gehen sie meistens in sein Arbeitszimmer. Das ist das zweite, wenn du dort rechts durch die Tür und dann durch das Musikzimmer gehst.» Wieder überlegte er einen Moment angestrengt, wobei er fiebrig die Innenseite seiner Wangen mit den Zähnen bearbeitete. «Aber Lucas hat auch noch ein anderes Zimmer, in das er immer geht, wenn er allein sein will. Jeder von uns hat so ein Zimmer hier, außer den Schwestern, die haben keines.»

«Gut, Denis! Das wäre perfekt. Und wo ist dieses Zimmer?»

«Karen ich weiß nicht ... ich muss jetzt wirklich runter.» Denis Blick huschte unruhig hin und her. «Die Sonne! Bitte, ich ...»

«Ich weiß, aber du musst es mir unbedingt sagen. Ich flehe dich an!», bettelte sie.

Lucas Zimmer - sein privates Reich. Das war wie die Gunst des Schicksals. Dort konnte sie endlich etwas über ihn in Erfahrung bringen und sich auf die Begegnung mit ihm vorbereiten.

«Also gut, den Gang dort runter und dann rechts die Treppe rauf. Du kommst dann nach drei Türen zu einer, die gleich wieder zu einer Treppe nach unten aufgeht. Dort lang, und wenn du dann ans Ende des Korridors kommst, gehst du links und dann noch einmal links. Die Tür ganz am Ende ist es dann. Das Zimmer ist aber abgeschlossen, das sage ich dir gleich, und ich habe keine Ahnung, wo der Schlüssel ist. Wenn du es so willst, dann musst du vor der Tür warten.»

Großartig! Armer Denis, ich danke dir, dachte sie. «Danke, Denis, das war wirklich lieb von dir.»

«Ich werde Ärger bekommen, nicht wahr?» Er sah sie mit dem entsetzten Blick eines schuldbewussten, kleinen Jungen an, dessen Ball, trotz strenger Mahnung seiner Eltern damit ja nicht im Haus herumzukicken, gerade in einer teuren Fensterscheibe gelandet war.

«Nein, das wirst du nicht. Aber wenn du Angst hast, dann verspreche ich dir, niemandem zu verraten, wie ich das Zimmer gefunden habe. Ich werde einfach sagen, dass ich gut im Suchen bin.»

Aufmunternd lächelte sie. Für einen kurzen Augenblick kam es ihr vor, als wäre er ein wenig erleichtert. Sie wunderte sich nur, dass er sich überhaupt so sehr vor einer möglichen Strafe ängstigte. War Lucas denn nicht der verständnisvollste und beste Vater der Welt, als den er ihn beschrieb? Igitt, so weit war sie also schon, dass sie schadenfroh über die idealisierten Gefühle anderer feixte.

«Nun geh schon! Und mach dir keine Sorgen, ja? Lucas wird nicht böse sein. Ich verrate nichts, und wenn er die Nachricht hat, bin ich so gut wie weg», rief sie hinterher, als er schon die Treppe hinunter gelaufen und aus ihrer Sicht verschwunden war. Er antwortete nicht mehr. Stattdessen hörte sie die Kellertür dumpf hinter ihm ins Schloss fallen. Sie schloss erleichtert die Augen. Jetzt schliefen sie alle und die nächste Nacht lag noch in weiter Ferne. Ihr blieben Stunden, um in aller Ruhe jeden Winkel in Lucas Haus zu durchwühlen. Und diesmal wollte sie das richtig anstellen und sich nicht wieder durch ihre Angst vor dunklen Gängen abschrecken lassen. Entschlossenen Schritts stapfte sie die Treppe hinunter. Denis sagte, die Tür zu Lucas Zimmer wäre abgeschlossen. Also brauchte sie entweder den Schlüssel oder Werkzeug, um sie aufzubrechen. Selbst für so einen Akt roher Gewalt fühlte sie sich bereit. Diesmal konnte sie nichts abschrecken. Auch so ein albernes Gewitter nicht. Ist ja lächerlich! Das hier ist schließlich nicht Draculas Schloss! dachte sie und ertappte sich gleich darauf, wie sie mit angehaltenem Atem auf das Ende eines weiteren, ohrenbetäubenden Donnergrollens lauschte, unter dessen Ansturm die Fensterscheiben erzitterten.