~ 5. Kapitel ~

 

In dem ein Toter aufersteht und nicht ganz er selber ist,

Serena verwirrt wird

und in Dorian Prior Hoffnung keimt

 

Verdammte Arschlöcher. Müsst ihr denn schon in aller Herrgottsfrühe mit der Schreierei anfangen? Sarah und Nick Devore lasst euch scheiden, verdammt! Und zwar zum Wohl der ganzen Welt.

Mitten in der Nacht dieses gottverfluchte Geplärr. Warum warteten diese Idioten nicht wenigstens solange, bis er aus dem Haus war. Aber da war ja noch nicht mal das kleinste bisschen Dämmerlicht zu sehen. Also blieb ihm noch reichlich Zeit bis zum Aufstehen. Im Halbschlaf suchten seine Augen die Leuchtziffern seines Digitalweckers. Wo ist das Scheißteil? Mist, ist das finster heute.

Dort, wo normalerweise die helleren Vierecke der beiden Fenster sein sollten, sah er tintenschwarze Dunkelheit. Und diese Schwärze mochte alles bedeuten. Wo war er? War er eingeschlossen in ein feuchtes, vergessenes Loch, in dem er jämmerlich verhungern, ersticken, erfrieren konnte? Sein Herz flatterte als wollte es jeden Augenblick stehen bleiben. Allerdings bedeutete das auch, dass er noch am Leben war. Gut, tot war er jedenfalls nicht. Ein geringer Trost. Denn ein Teil von ihm, für den er noch keinen Namen wusste, ahnte, dass in lichtlosem Dunkel weitaus Schlimmeres lauern konnte.

Vielleicht sollte er die Benommenheit in seinem schmerzenden Kopf nutzen und versuchen, wieder einzuschlafen? Dann könnte er einfach vergessen, in was für einer miserablen Lage er sich befand. Ja, schlafen war gut und er konnte sich nicht daran erinnern, in seinem Leben jemals etwas Anderes getan zu haben.

Doch durch einen Spalt in der äußeren Hülle seines Aufenthaltsortes drangen laute Stimmen, Schreie, das Poltern von Möbeln. Die übliche Geräuschkulisse seiner Nachbarn. Mit einem bemerkenswerten Unterschied: Das hier war nicht sein Zuhause und ganz sicher auch nicht sein Bett.

Zusammengekrümmt lag er auf hartem Boden, den Rücken gegen eine Wand gelehnt. Seine Beine waren taub und sein Nacken schmerzte höllisch, als er versuchte, den Kopf zu heben.

Sein Schädel fühlte sich an, als habe jemand darin eine Horde Nagetiere ausgesetzt, die nun mit ihren kleinen, spitzen Nadelzähnen sein Hirn bearbeiteten. Unbeholfen versuchte er sich zu bewegen und seine Beine in ihre natürliche Position zu bringen.

Blind tastete er den Raum um sich ab. Das muss Holz sein, dachte er. Für Stein war die Oberfläche zu warm und glatt. Und da, was war das? Die Wand vor ihm war durch einen kleinen Spalt in zwei Hälften geteilt. Eine Tür? Oben trafen seine Fingerspitzen auf eine Platte, die sich hochdrücken ließ.

Etwas fiel um und stieß mit leisem Klirren gegen etwas Anderes, das wie ein schweres Glas klang. Soll ich raten? dachte er. Vor mir die Tür, über mir ein Regalbrett und um mich herum verleimte Holzfurnierplatten. Ich bin in einem scheißverdammten Schrank. Ha, nicht sehr stabil die Kiste!

Sobald die beiden, wer auch immer sie waren, weg waren, konnte er problemlos die Wände eintreten und abhauen.

Und dann musste er verdammt noch mal darüber nachdenken, wie er hierher gekommen war. Dann fiele ihm bestimmt auch sein Name wieder ein. Gott, diese Partys waren wirklich nichts für ihn.

 

Eben noch tobte und schrie sie wie eine Furie. Jetzt lag sie in seinen Armen und schluchzte wie ein kleines Kind gegen seine starke Brust.

Er war ihr Vater und wusste, was gut für sein kleines Mädchen war. Die Rolle fing an, ihm wirklich zu gefallen. Schließlich war er tatsächlich einst der Vater einer Tochter. Er wusste, was kleine Mädchen brauchten.

In erster Linie brauchten sie jemanden, der ihnen sagte, welche Richtung für sie die Beste ist. Jemanden, der sie lenkt und ihnen anzeigt, wohin sie gehen und was sie tun sollen. Jemanden, dem sie vertrauten und der ihnen notfalls dumme Gedanken austreibt. Darin kannte er sich aus.

Bei Gott, vielleicht bestand ja noch Hoffnung für dieses Geschöpf? Warum auch nicht. Man brauchte sich nur ihre großen, unschuldig blickenden Augen ansehen. Tränenverschleiert und angstvoll suchten sie seinen Blick. Ihre reine, weiße Haut, das helle Haar. Sie erinnerte ihn tatsächlich an sein eigenes kleines Mädchen, das vor so vielen Jahren gestorben war.

Gab das Schicksal ihm ein Zeichen? Sollte er diese Frau als ein Omen sehen? Womöglich war sie ein Omen dafür, dass in der Verderbtheit seiner Rachsucht Erhabenheit lag.

Während er die weinende Frau in seinen Armen hielt und sah, dass sie sich allein beim Klang seiner Stimme beruhigte, kam ihm ein wunderbar klarer Gedanke in den Sinn. Diese verdorbene Seele lechzte danach, von ihm bei der Hand genommen und auf seine gerechte Seite geleitet zu werden. Das war großartig. Erst Reue gab der anschließenden Erlösung wahrhaftige Größe. Einen kurzen Moment lang flackerte Zweifel wie eine verlöschende Flamme in seinem Herzen. Wäre der Junge vielleicht auch bereit gewesen, Buße zu tun? Doch schnell verwarf er diesen Gedanken wieder. Erst durch seinen Tod war Serena einsichtig. Manchmal ist ein Donnerschlag erforderlich, um die Schlafenden zu wecken. Er durfte zufrieden mit sich sein. Was er tat, war gerecht. Mit verständnisvoller Stimme erklärte er auch Serena, warum Malcolms Tod unvermeidbar war.

 »Er wollte uns verraten?«, murmelte sie in den Stoff seines Hemdes.

Er lächelte sanft. »Aber ja, wenn ich es dir doch sage. Es gab keinen anderen Weg. Malcolm war ein Spion, ein Judas. Er hielt bereits seit langer Zeit Kontakt mit Maratos und du weißt, was der Herrscher von T’ael denen von uns angetan hat, die nach Melacar gegangen sind, nicht wahr? Er hat sie alle getötet. Judica, Charis, Garon, Aglaia, Duncan, Ion, Medea, Nabor, Raffael, Delia, Zoe, Golan – muss ich fortfahren?«

Sie schüttelte den Kopf. Nein. Die Liste der Toten war unendlich. Sie wusste genau, was ihrer aller Stammvater Maratos den Hirudo angetan hatte.

»Und Malcolm hat uns alle und unsere Toten an den Mörder verraten. Er wollte ihm helfen, auch mich und Calman zu töten. Erst die Ältesten und dann euch. Einen nach dem anderen. Ich weiß, mein Schatz«, sanft ließ er seine Hand ihren Nacken streicheln, »ich weiß. Ich wollte das auch nicht glauben. Aber es gibt noch mehr von seiner Sorte.«

Sie schniefte ganz undamenhaft. »Noch mehr? Wen denn? Wer noch?«

»Oh, das werde ich dir sagen, ganz bestimmt, aber ich denke, für eine Nacht hast du genug mit ansehen müssen. Weißt du, wir haben noch einiges zu tun. Aber zu allererst müssen wir jetzt von hier verschwinden.«

»Verschwinden? Ja, aber wohin denn?«

»Sie werden natürlich versuchen, mich zu finden und so schnell wie möglich loszuwerden. Bald werden sie wissen, dass ich sie entlarvt habe. Wir müssen aus London fort. Ja, wir müssen England verlassen. Ich habe schon alles vorbereitet. Verlass dich nur auf mich. Ich werde dich beschützen.« Er machte eine kurze, bedeutungsvolle Pause. »Du wirst mich doch nie verraten, oder?«

Empörung, wie sie nur ein unschuldiges Gemüt hervorzubringen vermochte, ließ ihre Züge aufflammen. »Nein! Ganz gewiss nicht.«

»Gut, das ist gut. Dann darfst du auf gar keinen Fall zulassen, dass sie uns finden. Du darfst mit niemand in Kontakt treten. Weder im Wachen noch im Schlaf hörst du. Das ist sehr wichtig. Niemand darf wissen, wo wir sind. Nicht einmal diejenigen, die nichts mit den Kollaborateuren gemein haben. Sie könnten unwissentlich etwas verraten und dann werden sie uns finden und umbringen. Hast du verstanden?«

»Ja.« Ihre Ergebenheit war überwältigend und er legte seine langen Arwetharme um sie und hielt sie ganz fest.

»Sehr schön. Dann schließ jetzt die Augen und komm mit! Ich möchte nicht, dass du Malcolm dort liegen siehst. Es ist schon schlimm genug, dass du ihn nicht in guter Erinnerung behalten kannst.«

Dorian Prior zog Serena mit sanftem Nachdruck aus dem Zimmer und wies sie an, im Ausstellungsraum auf ihn zu warten.

»Ich bin gleich wieder bei dir, mein Engel. Dann können wir gehen. Wir nehmen den Wagen.«

Serena nickte und ihr benommener Blick ging wie blind durch ihn hindurch. Ihr Zustand machte ihm etwas Sorge. Doch sicher erholte sie sich rasch. Eine der wenigen Tugenden ihrer Rasse lag in der schnellen physischen und auch psychischen Regeneration.

»Jetzt warte hier! Ich brauche nicht lange.«

Damit eilte er zurück in das Hinterzimmer und nahm den unangenehmen Teil des Abends in Angriff.