9. Kapitel
Benommen blinzelte Karen in das blasse Licht der Abenddämmerung, das in staubigen Tentakeln durch das große Fenster bis zu dem Chaiselongue gekrochen kam, auf dem sie in eine Decke gerollt lag. Einen Moment lang konnte sie sich nicht erinnern, wo sie war, doch dann fiel es ihr wieder ein.
Heiße Tränen der Verzweiflung schossen ihr in die Augen. Gerade eben noch in ihrem Traum war sie Lucas so nahe. Ihr war, als bräuchte sie nur die Hand auszustrecken und schon ... doch ehe sie ihn erreichte, war er schon wieder weiter gelaufen und zu einem unkenntlichen Zerrbild verblasst. Sie war ihm nachgelaufen. Durch die unendlichen, lichtlosen Gänge des oberen Stockwerkes, in das sie sich am Tag zuvor nur soweit vorgewagt hatte, wie sie das Geländer der Empore sehen konnte, aus Angst sich zu verlaufen.
Auch im Traum waren die dunklen Korridore von unzähligen Türen gesäumt, doch vergeblich versuchte sie, eine von ihnen zu öffnen. Da entdeckte sie, am Ende des längsten Ganges, eine Tür. Aus irgendeinem unbestimmten Grund wusste sie, dass sich dahinter etwas sehr Wichtiges verbarg. Nur was, konnte sie nicht sagen. Neben jener Tür stand eine Kerze, deren schwache Flamme im leichten Windzug flackerte. Hoffnungsvoll war sie auch noch zu dieser letzten Tür gelaufen. Und je näher sie ihr kam, desto größer wurde die Flamme. Sie breitete sich aus und strahlte immer heller, bis sie sich geblendet abwenden musste. Als sie sich, trotz des grellen Lichts, zwang, die Augen wieder zu öffnen, entdeckte sie, dass zu ihren Füßen, anstelle der Kerze, Lucas Buch lag.
Dieses Buch mit seinen verrückten Aufzeichnungen. Von der ersten Seite an war ihr jedes einzelne Wort unverständlich. Egal, wie sehr sie sich auch bemühte, einen Sinn in den verwirrenden Notizen und den hastig hingeworfenen Skizzen zu erkennen, ihr wollte einfach nicht gelingen, sie auch nur ansatzweise zu verstehen. Schließlich gab sie völlig frustriert auf. Die Einzelheiten, die sie wenigstens halbwegs entziffern konnte, waren scheinbar ohne jeden Zusammenhang. Die einzig erkennbare Verbindung zwischen diesen geheimnisvollen Worten und Zeichnungen war, das Porträt eines Mannes, das auf nahezu jeder Seite auftauchte und ein Name, Ion.
Obwohl nichts davon einen Sinn ergab, versuchte sie sich dennoch so viele Informationen wie möglich einzuprägen. Vielleicht lagen in all den mittelalterlich wirkenden Stadtsilhouetten, Häuserfassaden, Straßen, freie Plätze, Schiffe und hunderte Gesichter von Männern, Frauen und Kindern doch irgendwelche Hinweise versteckt, die ihr zu gegebener Zeit von Nutzen waren?
Trotzdem war sie sehr enttäuscht. Der ganze Tag war verstrichen, war nutzlos verstrichen, und jetzt brach die Nacht herein, und mit jeder Minute wuchs auch ihre Angst. Bald erwachten die Hirudo und mit ihnen natürlich auch Lucas. Sie war doch überhaupt nicht auf die Begegnung mit ihm vorbereitet. Wie sollte sie nur mit dem, was da auf sie zukam, fertig werden? Jarout mochte die Situation ja ganz klar vor sich sehen - für Karen jedoch, gab es nunmehr eine Verwirrung nach der anderen.
Plötzlich hörte sie ein Geräusch vom anderen Ende des Zimmers. Gedämpftes Lachen, wispernde Stimmen, raschelnde Schritte, die schnell näher kamen, dann eine Bewegung, die sie nur aus den Augenwinkeln als Schatten wahrnahm. Zwei Frauen traten an das hohe Fenster direkt vor der Couch, auf der sie lag. Das heller werdende Licht des Mondes schimmerte durch den weißen Stoff ihrer seidig fließenden Kleider und enthüllte die schmalen Silhouetten ihrer beinahe grotesk schlanken Körper. Stumm hielten sie einander an den Händen und sahen hinaus in den Garten, als warteten sie auf etwas Bestimmtes.
Karens Herz hämmerte panisch und ihr stockte der Atem. Wo verdammt noch mal war Jarout? fluchte sie in Gedanken. Wo verdammt ist der Kerl, wenn sie ihn brauchte? Der Schreck, über das plötzliche Erscheinen dieser bizarren Gestalten, lähmte sie einen Augenblick, doch dann setzte ihr Atem ein, stoßweise, unregelmäßig. Angespannt versuchte sie so leise und flach wie möglich zu atmen.
»Die Schwestern« nannte sie Jarout, jagte es durch ihren Kopf. Unberechenbar und bedrohlich. Geh ihnen aus dem Weg! Danke Jarout! Vielen Dank! Besser, du hättest mir noch verraten, wie ich das anstelle.
Sie war froh, dass sie noch nicht aufgestanden war und ihnen irgendwo im Haus in die Hände gelaufen war. Jetzt konnte sie sich wenigstens verstecken und hoffen, dass sie verschwanden, ohne sie zu entdecken.
Und dann, wie auf ein geheimes Zeichen hin, als habe jemand Karens stummes Gebet gehört, rafften sie gleichzeitig den Stoff ihrer Kleider über die Schultern nach vorn und enthüllten jeweils ein lederartiges, braunes Paar Flügel. Fassungslos starrte Karen ihnen nach, als sie das Fenster weit aufstießen und hinaus in den Garten gingen.
Bei ihrem Anblick verkrampfte sich Karens Magen. Was waren das für Geschöpfe, die menschlich aussahen, aber Flügel auf ihrem Rücken trugen? Sie standen jetzt einfach nur mitten im Garten und rührten sich nicht. So still im grauen Zwielicht des Mondes hätte man sie leicht für zwei steinerne Figuren halten können, wäre nicht ab und an ein leichtes Zucken durch die dünne Haut ihrer Flügel gefahren. Minutenlang verharrten sie so. Die Flügel, wie anmutig gebogene Baldachine über ihre Köpfe gereckt, bis sie sich schließlich beide kerzengerade aufrichteten, ihre Schwingen zur Seite ausbreiteten und blitzschnell, mit peitschenden Flügelschlägen, hinauf in die mondhelle Nacht stießen. Mit fest zusammengekniffenen Augen lauschte Karen dem leiser werdenden Geräusch ihrer Flügel. Erst, als es gänzlich verklungen war, wagte sie sie wieder zu öffnen.
Das große Fenster war wieder verschlossen, als wäre nichts geschehen. Nur der milde Blumenduft des Gartens hing noch im Zimmer.
Tief atmete sie erleichtert ein, sie waren tatsächlich fort. Hastig sprang sie auf und stolperte zum Fenster. Mit beiden Händen krallte sie nach dem altmodischen Metallgriff, der mit einem leisen Knacken nachgab, dann riss sie, noch am ganzen Leib zitternd, weit das Fenster auf.
Verdammt! Wie kann Jarout mich nur nach Anbruch der Nacht allein lassen? fluchte sie in Gedanken. In einem Haus, in dem geflügelte Dämonen umherschlichen und Vampire in den Kellergewölben schliefen. Wie konnte er nur! Gierig sog sie die kühle Nachtluft ein, und wartete darauf, dass ihre Panik nachließ. Schließlich streifte sie sich die Schuhe von den Füßen und lief hinaus.
In der Mitte des Gartens stand ein großer Baum, und erst dort angekommen blieb Karen stehen und sah zurück zu dem Haus. Wie konnte sie sich nur sicher genug fühlen und einschlafen? Bei Tag, ja, da mochte es ungefährlich sein, doch jetzt ...
Fröstelnd rieb sie heftig mit den Händen über ihre Arme. Niemals hätte sie hier herkommen sollen. Dieser Ort war nicht von dieser Welt. Er täuschte jene, die ihn am Tag betraten, und erwachte erst bei Nacht. Unter den nackten Füßen meinte sie zu fühlen, wie sich die Erde warm und feucht zwischen den Wurzeln des Baumes hob und senkte. Die üppigen Büsche und die wispernden Bäume des Waldes, der wild und unbeschnitten in den Garten wucherte, atmeten den Wind. Sogar das Haus war ganz deutlich von dieser neuen Lebendigkeit durchdrungen. Die Fenster waren nicht länger nur einfache Fenster, sondern unergründlich schwarze Seen, und der Efeu über dem dunklen Mauerwerk flüsterte und wogte wie ein Algenwald auf dem Grunde des Meeres.
Vor ihren Augen zerflossen die festen Steine darunter wie schmelzendes Glas und verschwammen zu einer lebendigen Masse, die ihre feinen Arme dem Nachthimmel entgegenstreckte.
Jäh verblasste der Eindruck von Lebendigkeit, als sich eine Wolkenbank vor den Mond schob und beinahe gleichzeitig im Haus mehrere Lampen angingen und gelbes Licht durch die acht großen Fenster auf das dunkle Gras fiel.
Eine Frau erschien in dem offenen Fenster. Sie wendete ein paar Mal den Kopf, als halte sie nach etwas oder jemanden Ausschau. Sie trug ein dunkelgrünes, sehr elegantes Abendkleid, mit einem atemberaubend tiefen Dekolleté. Lose Strähnen ihrer hochgesteckten, schwarzen Haare kringelten sich in feinen, dunklen Locken über ihre weißen Schultern, bis zur Hüfte hinunter.
Oh, nein, nicht schon wieder! dachte Karen und sah sich verzweifelt nach einem geeigneten Versteck um. Der Baum, fiel ihr ein. Rasch schlich sie zwei Schritte zurück.
Doch trotzdem sie im Schatten des Baumes stand und das Licht aus dem Haus sie nicht erreichte, huschten die kohlschwarzen Augen der Frau zielstrebig in ihre Richtung. Karen erstarrte, doch zu spät. Sie war entdeckt.
Karen erwiderte ihren dunklen Blick mit angehaltenem Atem. Diese Haare, die dunklen Augen, die Konturen von Wangen und Kinn ... sie hätte die Schwester ihrer Mutter sein können, so groß war die Ähnlichkeit. Blanche, dachte sie, Jarouts Mutter, Lucas Frau. Sie musste Blanche sein. Obwohl Jarout ihr das Aussehen seiner Mutter nicht beschrieb, war sie sich sicher.
«Guten Abend.»
Die freundliche Stimme der Frau riss Karen aus ihrer Starre. Sie schien weder überrascht noch wütend darüber zu sein, einen Eindringling in ihrem Garten zu sehen. Ihre Stimme war so warm und angenehm. Ein leichter Akzent verlieh ihr noch zusätzlichen Reiz.
Unsicher überlegte Karen, was sie tun sollte. Sekunden verstrichen, ohne dass sie antwortete.
«Bitte, Sie müssen nicht da draußen stehen bleiben. Kommen Sie doch herein!»
Sie lächelte so liebenswürdig und einladend. Drinnen war es hell und gemütlich. Warum sollte Karen ihrer Aufforderung nicht einfach nachkommen? Geduldig wartete sie neben dem Fenster. Erst als Karen eingetreten war, verriegelte sie es.
«Was verschafft uns denn die Ehre Ihres Besuches, meine Liebe?» Da war es wieder, dieses sanfte Raunen aus ihrer Kehle, das Karen anzog wie ein flackerndes Feuer, das Wärme und Leben versprach inmitten der Unsicherheit eines dunklen Waldes.
Ihr schwarzer Blick musterte sie ruhig. Wie dunkel ihre Augen sind, dachte Karen. Reines, tiefes Schwarz, ohne eine die Pupille umgebende hellere Iris. Ihr wurde ganz schwindelig davon, sie anzusehen. Einen schrecklichen Moment lang fürchtete sie, zu fallen.
Werde jetzt bloß nicht ohnmächtig oder so was! dachte sie. Reiß dich zusammen, Karen! Ihr Kopf war wie benebelt, als läge ein dichter, weißer Schleier zwischen ihr und auch nur einem einzigen klaren Gedanken. Was um alles in der Welt sollte sie ihr erzählen. Sie musste Lügen und hoffte nur, dass die Frau nicht erkannte, was sie wirklich dachte.
«Ich bin mit Jarout hier.» Ihr klopfte das Herz bis zum Hals. Sie musste sich räuspern, ehe sie weitersprechen konnte. «Wir kamen heute Morgen an, und er sagte mir, ich solle hier auf ihn warten, weil er dringend fort müsse. Ich wusste nicht, dass ... es tut mir leid. Wenn Sie wollen, werde ich gehen.»
«Aber nein! Ich freue mich, dass Sie geblieben sind. Jarout war sehr ungezogen, Sie den ganzen Tag hier allein zu lassen. Setzen Sie sich doch, mein Kind. Ich bin sicher, dass er jeden Moment hier sein wird. Bis dahin könnten wir uns ein wenig miteinander unterhalten.»
Sie nahm Karen am Arm und führte sie zu der Sitzgruppe, auf deren Couch Karen vorhin geschlafen hatte. Karen war restlos fasziniert von ihrer Art, sich zu bewegen. Vom samtigen Stoff ihres grünen Kleides, das sich ganz natürlich in perfekten, weichen Falten um ihre Beine legte, als sie sich in vollendeter Anmut auf dem Ohrensessel neben der Couch setzte. So sah eine Königin aus. So elegant, so selbstsicher und makellos.
«Bitte, setzen Sie sich zu mir.»
Karen gehorchte zögernd. Wo um alles in der Welt blieb nur Jarout?
«Sie sind eine Freundin meines Sohnes?», fragte die Frau und nahm eine Zigarette aus der Jadeschatulle, die auf einem der überladenen Tischchen neben dem Sessel stand. «Sie brauchen nicht schüchtern sein. Und es gibt auch keinen Grund, sich zu fürchten.»
Sie zündete ihre Zigarette an und atmete blaue Rauchwolken in das gelbe Licht der sechs Stehlampen, die vergeblich gegen die höhlenartige Finsternis des Zimmers kämpften.
«Ich weiß natürlich, dass ihr jungen Leute eine grundsätzliche Abneigung gegen Eltern hegt. Nein, streiten Sie es nicht ab, ich weiß das. Schließlich war ich selber einmal jung, auch wenn das lange her ist. Jarout bringt nur sehr selten Freunde hierher. Deshalb muss ich jede Gelegenheit nutzen, um mal zu sehen, mit wem er die vielen Abende außer Haus verbringt. Ich weiß nicht, ob Sie das verstehen, aber als seine Mutter mache ich mir natürlich so meine Gedanken. Allerdings, wie ich jetzt sehe, scheint er ein glückliches Händchen zu haben.»
Ihre schwarzen Augen blitzten vergnügt. Karen zwang sich, ihr Lächeln zu erwidern. Warum sagte sie solche Dinge? Das klang so normal. So menschlich. Dasselbe könnte ebenso gut die Mutter eines Bekannten, in der Küche beim Abwasch nach dem Mittagessen, zu ihr sagen. Verlegen wandte sie den Blick ab und nestelte mit zitternden Fingern am Saum ihres Pullovers.
«Ich kenne Jarout noch nicht so lange.»
«Oh, und da lässt er Sie gleich hier stehen. Das ist ein unglücklicher Anfang für eine Freundschaft. Aber so ist er, und ich fürchte, man kann gar nichts tun, um ihn zu ändern. Man muss schon sehr viel Geduld und Großzügigkeit aufbringen, um ihn auch weiterhin zu mögen. Er kann froh sein, dass Sie nicht einfach gegangen sind. Sie haben mir noch gar nicht Ihren Namen genannt.»
«Ich heiße Karen Gr ... Greene.» Gerade noch rechtzeitig verschluckte sie ihren richtigen Namen. Sicher war sicher. Den Namen Grant zu erwähnen, ohne zu wissen, ob Lucas seiner Frau nicht vielleicht von früheren Affären erzählt hat, hielt Karen für keine gute Idee. Was, wenn sie von Aimee wusste? Das war durchaus möglich, oder?
«Nett, Sie kennenzulernen, Karen. Mein Name ist Blanche Rodin.»
Sie reichte ihr ihre Hand, und Karen zwang sich, sie zu nehmen. Die Haut war kühl, aber nicht so kalt, wie sie erwartet hatte.
«Darf ich Ihnen vielleicht etwas anbieten, während Sie warten? Wir haben uns angewöhnt, immer etwas für besondere Gäste im Haus zu haben, wenn Sie verstehen, was ich meine.»
Natürlich konnte Karen sich vorstellen, welche Art besondere Gäste sie meinte. Nämlich solche, die normale Nahrungsmittel, statt menschliches Blut bevorzugten. Trotzdem schüttelte sie den Kopf, und das brachte Blanche zum Lachen. Ein leises, perlendes Lachen, das ihr charmante Fältchen um Mund und Augen zauberte und Karen zeigte, dass die Hirudo auf mehr als nur eine Art seine Opfer einfing. Jarout verließ sich ganz auf seinen Instinkt und den Überraschungsmoment.
Ein Vampir von Blanches Art lullte sie ein, umgarnte sie und nahm sich sanft das zum Leben notwendige, ohne dass der Bestohlene merkt, wie ihm geschieht.
«Nein, natürlich wissen Sie das nicht. Wie sollten Sie auch», meinte Blanche leichthin. Karen fuhr erschrocken zusammen. Im ersten Moment dachte sie, Blanche habe ihre Gedanken gelesen. Doch gleich darauf wurde ihr klar, dass Blanche noch immer von den »besonderen« Gästen sprach.
Blanche drückte ihre Zigarette in dem Aschenbecher vor ihr auf dem Tisch aus und stand auf.
«Warten Sie bitte hier! Ich werde sehen, was ich für uns zaubern kann», sagte sie, stand auf und verließ lautlos das Zimmer durch den roten Vorhang, der sich mit leisem Rascheln hinter ihr schloss. Erleichtert atmete Karen auf. Für den Moment war sie froh, allein zu sein.
Doch noch ehe sie ernsthaft erwägen konnte, einfach zu verschwinden und sich irgendwo im Haus zu verstecken und solange zu warten, bis Jarout nach ihr suchte, hörte sie von der Halle her gedämpfte Schritte näher kommen. Auf das Schlimmste gefasst, sprang sie auf. Sie rechnete fest damit, dass nun Lucas den Raum betrat. Was sollte sie sagen? Wie sollte sie sich verhalten?
Ihr Herz klopfte wie rasend. Der Vorhang wurde zur Seite geschoben. Erkannte er sie? Eine Hand tauchte auf, ein Arm, ein Gesicht. Jarouts Gesicht. Bleich, mit zerwühltem Haar, und herzhaft gähnend stopfte er sich das Hemd in die Hose und schlenderte zu ihr herüber.
«Hey, Karen, alles klar?» Er ließ sich auf die Couch plumpsen und gähnte nochmals.
Völlig entgeistert sah sie auf ihn herunter und wusste mit einem Mal absolut nicht mehr, was sie hier eigentlich verloren hatte.
«Du bist das absolut Letzte!», zischte sie leise, so wütend und enttäuscht war sie.
«Hey, was ist denn?»
«Das fragst du allen Ernstes? Dann werde ich dir mal was sagen, mein Lieber. Ich denke, du bist das Allerletzte! Du kannst froh sein, dass es deine Mutter und nicht Lucas war, die mich hier eben gefunden hat. Ist dir in deiner Laufbahn als intrigantes Arschloch schon mal der Gedanke gekommen, dass man auf sein Ass im Ärmel aufpassen sollte. Du, du ...» Sie schnappte nach Luft. «Du kannst mich doch nicht einfach allein lassen!» Damit drehte sie sich um und stapfte schimpfend in Richtung Vorhang. «Ich weiß gar nicht, warum ich das alles mitmache. Jeder normale Mensch wäre schon längst abgehauen und hätte dich zum Teufel geschickt. Ja, vielleicht sollte ich das tun. Welchen Grund habe ich denn noch, hier zu bleiben? Schließlich könnte ich Lucas jetzt ganz allein besuchen. Schließlich weiß ich ja, wo er wohnt, und außerdem ...»
«Lucas ist nicht hier», unterbrach er in dem Moment, als sie zornig nach dem glänzenden Vorhangstoff griff. Wie angewurzelt blieb sie stehen und drehte sich wieder herum.
«Er ist was? Lucas ist nicht hier?»
Jarout schüttelte den Kopf.
«Ich fasse es einfach nicht! Moment! Wusstest du das etwa?»
«Nein, ich hatte keine Ahnung, ehrlich. Und dass ich dich so lange allein ließ, tut mir auch leid.» Er kam zu ihr und setzte den sprichwörtlichen Hundeblick auf, um sie versöhnlich zu stimmen.
Jarout benahm sich, als wäre alles nur ein Spiel. Andererseits konnte sie ja durch einen neuen Wutausbruch auch nichts mehr ändern. Was konnte sie außerdem tun? Sollte sie etwa mit nicht mal einem Zehner zum Telefonieren durch ein Land irren, dessen Sprache, den Gerüchten nach, nicht einmal die Einheimischen einwandfrei verstanden. Entmutigt stieß sie einen ärgerlichen Seufzer aus.
«Gut, aber ich bleibe ganz sicher nicht wegen dir!», fauchte sie und rauschte an ihm vorbei zurück zur Couch. «Noch mehr hättest du bedauert, wenn mich diese beiden geflügelten Bestien entdeckt hätten.»
Jarouts amüsierter Blick verriet ihr, dass er sofort wusste, wen sie meinte.
«Du hast Beryl und Eliane gesehen?»
«Allerdings.»
«Und du lebst noch?»
«Toll, danke! Wie viele außer mir gibt es, die das geschafft haben?»
Er zuckte mit den Schultern.
«Nein, aber im Ernst, Karen, es tut mir leid.»
Sie schnaubte verächtlich. «Als ob ich dir das glaube. Also gut, ich vergebe dir. Aber nur, wenn du mir versprichst, dafür zu sorgen, dass ich hier von nun an in Sicherheit bin. Und vor allem, mich nicht noch einmal mit ihnen alleine zu lassen!»
«Aber, du bist hier sicher, Karen. Es ist Gesetz, dass in diesem Haus kein menschliches Blut vergossen werden darf, und glaube mir, niemand wagt es, dieses Gesetz zu brechen. Auch Beryl und Eliane nicht.»
«Also, ich weiß nicht ...» Im ersten Moment zweifelte sie an seinen Worte. Doch dann fiel ihr ein, wie leicht ihre Gedanken gestern Zugang zur Stimmung des Hauses fanden, und dass sie bisher ihren Eindrücken immer trauen konnte.
«Jarout hat recht, meine Liebe. Unsere Gäste unterstehen dem besonderen Schutz eines jeden Familienmitgliedes, und nicht alle hier sind darin so nachlässig wie mein Sohn.»
Mit einem schwer beladenen Tablett in den Händen betrat Blanche das Zimmer und musterte beide mit ernstem Blick.
«Wärst du wohl so freundlich, unseren Gast zu Tisch zu bitten, Jarout?»
Eilfertig sprang Jarout auf, um seiner Mutter das voll beladene Tablett abzunehmen. Er stellte es auf den langen Esstisch vor dem Kamin ab und half ihr sogar, die beiden Gedecke aufzulegen. Zwei Gedecke? Wollte Blanche etwa auch essen?
«Darf ich bitten, Madame?» Jarout hielt Karen in gespielt vornehmer Geste seinen Arm hin, und als sie nicht sofort reagierte, nahm er ihre Hand und schob sie unter seinem Ellbogen durch. «So wird das gemacht. Tsts, hat dich etwa noch nie jemand zu Tisch geleitet?», feixte er übermütig.
«Ich hoffe, dass es Ihnen schmecken wird, trotz des misslichen Auftaktes, mit dem dieser Abend für Sie begann.»
«Schon gut, Mutter. Ich habe verstanden. Du brauchst nicht darauf herumzureiten.»
Blanche warf ihrem Spross ein strahlendes Lächeln zu - sie hatte gewonnen, auch wenn sie vermutlich längst wusste, dass jede Erziehungsmaßnahme zu spät kam.
«Was darf ich Ihnen zuerst anbieten?», erkundigte sich Blanche höflich und hob die Hauben der drei Servierplatten eine nach der anderen an. Bei den köstlichen Düften zog sich Karens Magen mit lautem Knurren zusammen. Kein Wunder, ihre letzte Mahlzeit lag beinahe vierundzwanzig Stunden zurück. Sie war hungrig. Gut, dachte sie, das lenkt mich wenigstens eine Zeit lang ab. Dabei hoffte sie inständig, dass Blanche keine weiteren unangenehmen Fragen stellte.
«Ah, maman. Du hast dich selbst übertroffen!», lobte Jarout. »Ist es das, was ich rieche und sehe, oder ...?»
«Garnelen, Gemüse und Wein, mein Sohn. Und hier ist Brot, siehst du!» In Blanches Stimme schwang jetzt ein leichter Anflug von Gereiztheit mit, und Karen wünschte, Jarout würde aufhören, sie zu reizen. Warum sagte er solche Sachen zu ihr?
«Hören Sie nicht auf ihn! Er versucht nur amüsant zu sein.» Sie raffte ihr Kleid und setzte sich Karen gegenüber. «Vermutlich nur, um Ihnen zu imponieren ... Trinken Sie Wein?»
Als Karen ablehnte, schenkte sie ihr aus der Karaffe mit dem Wasser und sich selber von dem Rotwein ein. Prüfend nippte sie an ihrem Glas. «Mhm, er ist wirklich hervorragend. Sie sollten es sich noch einmal überlegen.»
Damit wurde die Legende vom Vampir, der sich nach dem Genuss menschlicher Nahrungsmittel in Krämpfen windet, als bloßes Gerücht enttarnt.
«Bitte, essen Sie, Karen.»
Das ließ sie sich nicht zweimal sagen. Blanche legte ihr von den Garnelen und der Gemüseplatte auf und reichte ihr den Korb mit dem in Scheiben geschnittenen Weißbrot, das sogar noch warm war.
«Sie müssen das Fleisch aus der Schale herausholen. Genau so, sehen Sie!» Mit zwei geübten Handgriffen brach Blanche die rosige Kruste der Krabbentiere auf und zog das weiße Fleisch heraus. Karen versuchte es ihr nachzumachen, doch die harte Schale war unnachgiebiger als sie erwartete. Mit bittendem Blick wandte sie sich an Jarout.
«Na gut, warte, ich mach's.» Er nahm ihr das hartnäckige Tier aus den Fingern, und genauso geschickt wie Blanche, knackte er es auf und legte das zarte Innere zurück auf Karens Teller. Gleich nach dem ersten Bissen war sie überzeugt, nie zuvor etwas Köstlicheres gegessen zu haben. Natürlich aß sie nicht zum ersten Mal in ihrem Leben Shrimps, aber die waren geschält, tiefgefroren und fad im Vergleich.
Sie merkte, dass Blanche sie unauffällig, aber sehr aufmerksam während des Essens beobachtete.
«Die sind wunderbar, wirklich! So etwas Köstliches habe ich noch nie gegessen», nuschelte sie mit vollem Mund.
Blanche schenkte ihr für dieses Lob ein zufriedenes Lächeln, das irgendwie aussah, als habe sie nichts anderes erwartet. Karen vermutete, dass sie wohl kaum etwas anderes als Begeisterung erntete.
«Nun, was werdet ihr zwei heute unternehmen?», fragte Blanche und sah sie beide erwartungsvoll an.
Karen warf Jarout einen fragenden Blick zu.
«Mit deiner Erlaubnis, maman, werde ich Karen eines der oberen Zimmer zeigen. Ich meine, es ist so, dass sie, nun ja, ich dachte, sie könnte doch eine Weile bei uns bleiben, oder? Nur solange, bis sich etwas anderes ergibt. Sie hat da ein Problem mit ihrer Wohnung und ...»
Schnell lächelte Karen so verlegen, wie es jemand tun sollte, der bei Fremden unterkommt. «Rohrbruch!», warf sie entschuldigend ein.
Doch Blanche winkte ab. «Kein Grund, sich schlaflose Nächte zu machen. Natürlich sind Sie herzlich willkommen. Jarout sollte das zwar besser mit seinem Vater besprechen, aber es wird auch so gehen. Er hat sicher nichts dagegen.»
Karen staunte. Nicht nur, dass Blanche sie im Namen der ganzen Familie freundlich aufnahm, sondern ihre Anwesenheit nicht einmal als Bedrohung empfand.
«Du kannst ihr das Grüne Zimmer geben, Jarout. Das dürfte ihr gefallen», schlug Blanche vor und an Karen gewandt: «Dort sind auch Sachen zum Anziehen. Wenn ich es richtig sehe, reisen Sie mit leichtem Gepäck.»
Jarout räusperte sich leise. «Es war ein - ehm - etwas überstürzter Aufbruch.»
«Nun, das tut mir leid. Ich hoffe, dass sich bald wieder alles zum Besseren wenden wird. Und kommen Sie nicht auf die Idee, in jemandes Schuld zu stehen. Ich glaube immer noch daran, dass man Menschen wie Sie, die in Not sind, helfen sollte, ohne eine Gegenleistung dafür zu erwarten.» Sie warf Jarout einen sehr ernsten Blick zu. «Alles, was wir von Ihnen verlangen ist, dass Sie unsere Gastfreundschaft respektieren.» Ihr Blick wanderte weiter zu Karen.
«Ich ... Sie wissen gar nicht, wie dankbar ich Ihnen bin. Ohne Jarouts und Ihre Hilfe ... ich wüsste nicht, wo ich sonst ...», stotterte sie. War das zu dick aufgetragen?
«Wie gesagt, es ist in Ordnung», wiegelte Blanche ab, «so, ich werde jetzt abräumen, und ihr beide geht nach oben und Jarout zeigt Ihnen Ihr Zimmer.»
Karen bot ihre Hilfe an, doch Blanche bestand darauf, dass sie ein Gast war. Auf gar keinen Fall erlaubte sie, einem Gast in der Küche zu helfen. Sie war so aufmerksam, so höflich. Einen Moment lang wünschte Karen wirklich das bedauernswerte, obdachlose Mädchen zu sein, als das Jarout sie vor seiner Mutter ausgab.