6. Kapitel

 

«Peter schläft», flüsterte Karen und sah dabei aus, als lausche sie auf ein leises Geräusch, das ihm entgangen war. Jarout vermutete, dass sie genau wie Lucas die Anwesenheit und den Zustand von Menschen spüren konnte. Schon wieder eines der Talente, die er gern für sich beansprucht hätte, doch das Einzige, worüber er verfügte, war die von seinem Vater geerbte Fähigkeit, in den Spiegeln zu reisen. Gut, das war auch praktisch. Aber oft wünschte er sich, einige nützlichere Begabungen, wie zum Beispiel, die Gedanken der Menschen lesen zu können, oder ihnen, wie seine Mutter, den eigenen Willen aufzuzwingen.

 «Warte hier! Ich brauche nicht lange», bat sie schnell und schlüpfte durch die Tür, die sie gleich wieder hinter sich schloss, ehe er protestieren konnte.

Eigentlich wollte er ohne großes Hin und Her sofort in Richtung Genf aufbrechen, doch sie sagte, sie müsse erst noch nach Hause. Zu Aimees Haus. Das Haus dieser Frau, bei der Lucas jene schicksalhaften Tage verbracht hatte, stand in einem kleinen Kaff außerhalb der Stadt, dessen Name er noch nie gehört hatte. Der Kasten, klobiger Altbau am Ende einer Straße, sah aus, als fiele er jeden Moment in sich zusammen. Vielleicht stand es deshalb auch so abseits von den anderen Häusern. Keiner traute sich, ein neues Haus in seine Nähe zu stellen.

Er hatte keine Lust zu warten. Lautlos zog er die Haustür auf und folgte ihr. Karen war irgendwo im oberen Stockwerk. Er hörte sie herumstapfen. Wahrscheinlich war sie noch eine Weile dort oben beschäftigt. Auch gut. Das gab ihm Gelegenheit, sich hier unten in aller Ruhe umzusehen.

Da war die Tür zum Keller. Was für ein Loch. Bestimmt waren dort unten lauter ekelhafte Insekten oder sogar Ratten. Widerlich. Was um alles in der Welt fand Lucas nur an diesen Menschen? Sie konnten nicht einmal ihre Behausung in Ordnung halten.

Die Küche kannte er schon von damals, als er zum ersten Mal hier gewesen war.

Im Wohnzimmer gähnte ein mickriger, verrußter Kamin und eine langweilige Mittelstandsmöblierung noch aus den frühen Sechzigern. Ein völlig durchschnittliches Haus, in dem völlig durchschnittliche Sterbliche leben und sterben, dachte er und lächelte zufrieden, als er vorsichtig eine weitere Tür öffnete und das dunkle Zimmer dahinter betrat. Lautes Schnarchen kam vom Bett her, in dem der alte Mann lag.

Peter, Peter, weißt du denn nicht, dass man sein Zimmer abschließt, wenn man so gefährliche Verwandte hat? fuhr es durch sein Hirn, als er sich über ihn beugte. In einem Zug durchtrennte er mit den scharfen Spitzen seiner Ringe den faltigen, dürren Hals des alten Mannes. Das Schnarchen wurde kurz zum Röcheln, und dann war er still. Jarout ließ sich Zeit und trank in langsamen, tiefen Zügen, bis die Haut unter seinen Lippen sich wie nasses Papier kräuselte und sich schließlich trocken und faltig vom darunter gelegenen Gewebe ablöste. Er wusste, für die nächsten Stunden brauchte er sich um seinen Appetit keine Sorgen mehr zu machen. Erst das Mädchen vorhin und dann der alte Mann, das reichte noch für morgen.

Jetzt würde sich niemand mehr einmischen. Dieser Peter war Karens einziger Angehöriger. Außer ihm gab es niemanden, der sich um sie sorgte. Das machte die Sache auf jeden Fall einfacher. Wäre er jetzt doch gezwungen, sie aus irgendeinem Grund loszuwerden, entstünden keine unnötigen Verwicklungen. Schließlich kannte Peter Lucas Namen und wer konnte schon wissen, ob er sich nicht cleverer als seine Stieftochter auf der Suche nach deren Erzeuger anstellte. Sorgfältig verschloss Jarout die Schlafzimmertür und steckte vorsichtshalber den Schlüssel ein. Falls Karen auf die Idee kommen sollte, einen letzten Abschiedsblick auf ihn zu werfen, wird sie ihn bestimmt nicht wecken wollen, damit er aufschließt.

Dann ging er nach oben, um zu sehen, was sie so lange trieb. Er fand sie auf dem Dachboden, wo sie sich an einem Stapel Umzugskarton zu schaffen machte. Bis zu den Knien hockte sie in einem Berg aus Büchern, Schallplatten und Fotoalben. Offensichtlich war ihr genügend Zeit geblieben, um ein völliges Chaos anzurichten.

«Gibt es einen vernünftigen Grund das zu tun, oder verschwendest du nur meine Zeit, um Andenken mitzunehmen?»

«Ah!», schrie sie und sprang erschrocken auf. «Du ...? Um Gottes willen! Was machst du denn hier? Du sollst doch draußen warten. Peter kann aufwachen und uns erwischen.»

Achtlos zuckte er mit den Schultern.

«Hier, das ist der Grund!», sagte sie, warf ihm die vergilbte Ausgabe eines Taschenbuchs zu und ruckte trotzig eine Haarsträhne aus ihrer Stirn.

«Was soll das sein?» Noch bevor sie antwortete, war er schon allein drauf gekommen und winkte ab. Von dem Cover blickten ihn Lucas geheimnisvolle, blasse Augen an. Unglaublich, wie gut er auf diesem gemalten Bild aussah. Jarout konnte sich nicht erinnern, jemals eine derart abgründige Schönheit in dem Gesicht seines Vaters gesehen zu haben. Eigentlich konnte er sich nicht einmal vorstellen, dass Lucas überhaupt zu einem so teuflischen Blick fähig war. Anstelle des echten Lucas musste das reine Wunschdenken dem Künstler für dieses Bild Modell gestanden haben. Wahllos schlug Jarout eine Seite in dem Buch auf und blieb gleich am ersten Satz hängen.

Lucas kramte einen Gaskocher aus seinem Rucksack und wählte eine Konserve mit Bohnen, die er über der bläulichen Flamme in einem kleinen Topf aufwärmte ...

 Fluchend raffte er seinen Schlafsack zusammen und stopfte den Gaskocher in den Rucksack ... Mit einem lauten Schrei fiel er in ungewisse Tiefe.

Ungeduldig blätterte er bis zur Mitte des Buches weiter ... die messerscharfen Zähne des Indianers durchstießen seine Haut.

Golan! Diese Frau hatte wirklich alles aufgeschrieben. Und woher sollte sie diese Dinge wissen, wenn nicht von Lucas selbst.

«Dachte ich mir doch, dass dich das interessiert», meinte Karen zufrieden grinsend und rappelte sich auf, wobei sie sich den jahrealten Staub von der Hose klopfte.

Einen Moment lang war er wirklich so etwas wie sprachlos und konnte dieses Ding in seinen Händen einfach nur anstarren.

«Das ist gut, das ist wirklich gut», murmelte er langsam. Dann drehte er sich ohne ein weiteres Wort um und kletterte die steile Treppe zurück in den zweiten Stock.

«Ja, das ist es allerdings. Verdammt!», schimpfte sie, enttäuscht über seine offensichtlich mangelnde Begeisterung, und folgte ihm.

Jarout drehte sich zu ihr um. «Also, ich kapier das nicht, Karen!», rief er ungläubig aus.

«Pschscht!», flüsterte sie und legte erschrocken einen Finger an ihre Lippen.

«Ja, ja, ich weiß, Peter wacht auf. Scheiß drauf! Sag mir lieber, warum zum Henker du mir jetzt dieses Buch gegeben hast? Du musst mir keinen Gefallen tun. Ich meine, ihr Menschen seid immer so verdammt hilfsbereit und so verdammt dämlich.»

Was um alles in der Welt erhoffte sie sich davon, dass sie ihm das Buch gab?

«Halt, warte, ich weiß es!», unterbrach er ihren Versuch, sich zu erklären und wedelte die vergilbten Seiten vor ihrer Nase. «Ihr Menschen habt ja soviel Spaß dran, clever zu sein. Du wolltest mir demonstrieren, dass ich nicht der Einzige mit Assen im Ärmel bin, was? Na, mir kann's Recht sein.»

Mann, jetzt hatte er sie schon wieder wütend gemacht, aber aus unerfindlichem Grund machte ihm das bei Leuten wie ihr sogar Spaß. Sie ließ sich so einfach auf die Palme bringen, als habe sie irgendwo einen versteckten Knopf, den man nur zu drücken brauchte.

«Ah, genau», erwiderte sie und warf ihm einen giftigen Blick zu, «und wo wir schon einmal dabei sind. Allzu clever können deine Freunde ja auch nicht sein, wenn sie es nicht einmal schafften, ihrem lieben Lucas auf die Schliche zu kommen, obwohl es dick und fett in den Regalen jedes Londoner Buchgeschäfts steht - vom übrigen Land mal ganz zu schweigen.»

Damit rauschte sie an ihm vorbei und verschwand in ihrem Schlafzimmer.

Und was das Schlimmste war, sie hatte recht.

Kopfschüttelnd folgte er ihr und fand sie über ihren Schreibtisch gebeugt, auf dem sie hastig etwas auf ein Blatt Papier kritzelte und ihn gar nicht beachtete.

Dann sah sie ihn plötzlich an und grinste verschlagen.

«Ich hab dich nur verarscht, Mann! Dieses Buch ist niemals über eine Fünfhunderter Auflage hinausgekommen und stand höchstens in einer Handvoll Läden. Dazu noch solche, die nicht unbedingt großen Durchgangsverkehr hatten. Insgesamt haben sie von der Story vielleicht fünfzig Exemplare verkauft, und ein Jahr später verschwand die restliche Auflage wer weiß wohin.» Sie wandte sich wieder ihrem Geschriebenen zu und sprach weiter, ohne aufzusehen: «Frag mich nicht, warum die Idee nicht gezogen hat. Daran, dass Vampirromane out waren, kann's nun wirklich nicht gelegen haben. Was auch immer, egal.»

Ihm gefiel nicht, dass er deshalb ein Gefühl der Erleichterung verspürte. Sich vorzustellen, die Hirudo hätten eine Veröffentlichung über ihre Rasse übersehen, war scheußlich. Auch wenn er sonst nicht viel von der Autorität der Älteren hielt, so war er doch froh, dass sie stets für seine und die Sicherheit der anderen sorgten. Ihr Versagen hätte bedeutet, dass er sich nicht mehr auf sie verlassen konnte. Schnell schüttelte er diesen Gedankengang ab. Ekelhaft! Warum dachte er überhaupt daran, von jemandem abhängig zu sein.

Das schruppende Geräusch, als Karen ein Stückchen Klebestreifen von einer Rolle zippte, riss ihn aus seinen Überlegungen. Sie klebte den eben geschriebenen Zettel von außen an ihre Zimmertür. «Okay, wir können. Es sei denn, du willst im Keller schlafen.»

«Nein, danke, den habe ich schon gesehen. Ich ziehe die Zivilisation vor.»

«Lucas hat dort auch einige Zeit verbracht - so schlimm kann's nicht sein.»

«Karen, mein Schatz, entgegen aller Welt Behauptung empfinden wir Dreck und Ungeziefer nicht als angemessene Gesellschaft.»

«Dann lass uns gehen, oder wie immer man das nennt.»

Mit einem Kopfnicken wies sie zur Tür ihres Schlafzimmers, in dem dieser große Spiegel stand, durch den er neulich Nacht gekommen war.

Der Spiegel war bestens geeignet, um eine Reise anzutreten. Dieses Mal brauchte er sie einfach nur fest an der Hand halten, und gemeinsam traten sie einen Schritt vor.

Er entschied den üblichen Weg über den Kanal nach Calais, und weiter in Richtung Nancy über die Argonen durch Lothringen zu nehmen. Weiter ging es nach Lausanne und Genf, wo das Haus der Familie nahe dem Genfer See, aber weit außerhalb der Stadt lag.

Nur über eine unbefestigte Straße und die kilometerlange Auffahrt zu erreichen, stand das Haus inmitten eines dichten Laubwaldes versteckt. Die Menschen, in den umliegenden Orten und anderen Villen, wussten, dass das alte Anwesen bewohnt war, dennoch waren seine Besitzer für sie nicht mehr als ein Gerücht. Außer Lucas, der gelegentlich in einem Anfall von Gefühlsduselei menschliche Gesellschaft suchte, war ihnen noch kein Familienmitglied begegnet. Vermutlich hielten die Leute sie für reiche Pinkel, die sich zu fein waren, um mit der gemeinen Bevölkerung zu verkehren. Bis auf das dumme Gerede war das auch gut so. Das hielt sie wenigstens auf Abstand.

Ah, das Haus! Jarout bildete sich gern ein, einen Sog zu spüren, der immer stärker wurde, je näher er kam. Als wäre er ein Schiff, das die Strömung an die Küste zog.

Er spürte, wie Karen seinen Arm drückte. Erstaunt sah er auf ihre Hand herab. Ihr Puls schlug heftig vor Aufregung. Schwächliche, menschliche Kraft, aber diese Wärme war erstaunlich. Sie merkte wohl, dass er das Tempo verlangsamte, und schloss daraus, dass sie nun bald ihr Ziel erreichten. Ihr Mund öffnete sich, und sie versuchte etwas zu sagen, doch die Spiegel verschluckten ihre Worte. Er hätte ihr wohl erklären sollen, dass er sie nicht hören konnte, solange sie in Bewegung waren.

Mit einem Kopfschütteln bedeutete er ihr, sie solle sich beruhigen. Ihr blieb noch mindestens dieser Tag, bevor sie auf Lucas traf. Die Sonne ging bald unter und trieb alle in den Schlaf, einschließlich Lucas und bedauerlicherweise auch ihn.

Doch auch seine eigene Nervosität stieg unwillkürlich.

Jetzt rauschten sie bereits durch die feinen Tautropfen auf den Blättern der Bäume, die entlang der Auffahrt zum Haus standen.

Deutlicher, aber seltsam gekrümmt rann die Umgebung in sanften Wellen vorbei, als er die Geschwindigkeit weiter verringerte und langsamer weitertrieb.

Schließlich ließ er sich, Karen hinterherziehend, aus einer Fensterscheibe fallen, in der zu seinem Schrecken die ersten Lichtfunken des anbrechenden Tages blitzten. So schwach war das Sonnenlicht noch angenehm. Dort wo die feinen Strahlen ihn trafen, kribbelte seine Haut, als liefen viele kleine Insekten darüber. Doch er wusste, dass er unglaublich vorsichtig damit sein musste und auf gar keinen Fall die lähmende Müdigkeit unterschätzen durfte, die ihn als Hirudo bei Tagesanbruch überkam.

Suchte er nicht rechtzeitig an einen lichtgeschützten Ort Unterschlupf, öffnete sich eines der Tore zwischen den Welten und zog ihn unweigerlich nach Melacar, der ursprünglichen, für sie aber unbewohnbar gewordenen Welt der Hirudo. Erschaffen von Maratos, dem Ersten unter ihnen, war Melacar eine Welt, die parallel zu der, der sterblichen existierte.

Den purpurroten Himmel mit seinen zwei Monden, die Schönheit der tiefdunklen Seen und grünen Hügel kannte er nur aus den wehmütigen Erzählungen anderer. Niemand ging mehr nach Melacar seit Maratos beschloss, jeden dort eintreffenden Hirudo zu töten.

Er fürchtete um seine Macht und setzte alles daran, die Nachkommen seiner Kinder auszulöschen.

Berichten anderer zufolge konnte man sich ebenso gut vom Tageslicht einäschern lassen. Jetzt wollte er jedenfalls nur noch eines, und zwar so schnell wie möglich in den Keller verschwinden, sich in der Sicherheit der dunklen Gewölbe auf seinem Bett zusammenrollen und den Tag abwarten.

Seine »kleine Schwester« musste jetzt allein bleiben. Ob es ihr nun gefiel oder nicht. Und er musste ihr wohl oder übel das Leben der Hirudo in die Hand geben, da er nicht wusste, ob sie fähig war, die Kellertür trotz aller Sicherheitsvorkehrungen zu öffnen. Er konnte sich jedoch nicht vorstellen, dass sie eine von der Sorte war, die holzkeilschwingend in einem finsteren Keller Amok lief. Nicht ehe sie bekam, weswegen sie hergekommen war.