~ 3. Kapitel ~

 

In dem Turner seinen Weg findet

 

Die Welt hinter ihm versank in einem Meer aus Flammen. Dass er aus dem brennenden Haus habe entkommen können, grenzte an ein Wunder, sagte der Feuerwehrmann zu ihm. Fürsorglich legte er ihm eine raue Decke um die Schultern und hieß ihn, sich auf den Bordstein zu setzen und zu warten, bis die Sanitäter sich um ihn kümmerten. Dann verschwand der drahtige Mann mit dem verrußten Gesicht wieder in dem aufgeregten Treiben aus hastenden Rettern in angekohlten Uniformen und begeistert schockiertem Publikum.

Turner war allein. Nur er und die raue, stinkige Decke, die ihm weder Wärme noch Trost spendete. Der feuchtkalte Asphalt ließ seinen Hintern taub werden und der heiße Feueratem, brannte ihm mit beißendem Schwelgeruch in der Nase. Keine freundliche Stimme, die ihm Hoffnung gab oder ihm sagte, was als Nächstes zu tun war. Kein ... warum wartete er darauf, jemanden zu hören? Wie auf ein fernes Echo lauschend stand er mit leerem Blick mitten auf der Straße, bis ihn jemand fragte, ob alles in Ordnung sei.

Natürlich war nicht alles in Ordnung. Er musste hier weg und zwar dringend. Niemand durfte ihm Fragen stellen, niemand durfte wissen ... was wissen? Er wusste ja selber nichts. Wie zur Hölle war er eigentlich hier gelandet? Mitten in der Nacht lief er in einer Gegend herum, in der er noch nie zuvor gewesen war.

Proctor street, las er auf einem Straßenschild. Nie gehört. Er fragte einen der Gaffer, wo er überhaupt sei. Die Antwort der fetten Lockenwicklerträgerin gefiel ihm noch weniger als das Straßenschild. Was um alles in der Welt sollte er im Ostteil der Stadt zu suchen haben? Und welches Arschloch hatte ihn hierher geschleift, ihn in den gottverdammten Schrank gesperrt und dann die Scheißbude angezündet?

Am besten du vergisst den ganzen Mist und gehst nach Hause, dachte er. War nur eine Party. Jemand hat dir irgendwas in den Drink geschüttet. Klar, K.-.o.-Tropfen! So was hört man doch oft im Fernsehen. Vergiss den Scheiß und sieh zu, dass du in deine Wohnung kommst, bevor du dir den Arsch abfrierst.

Außerdem konnte jeden Moment jemandem auffallen, dass er dich aus dem brennenden Haus hat kommen sehen. Dann kämen die Bullen um Fragen zu stellen und das wäre verdammt unangenehm. Ja, die Brüder konnten richtig eklig werden, wenn jemand ungeschoren aus einem brennenden Haus rennt. Wenn derjenige dann keine handfeste Erklärung liefern konnte, war er verdächtig und auch blöde genug, den wirklich perfekten Brandstifter abzugeben.

Also Abmarsch, Turner. Hey, das war ja sein Name. Er seufzte ein kurzes »Irre.« Ängstlich sah er sich um, ob sein freudiger Ausbruch aufgefallen war. Nein, gut, dann los jetzt.

Er brauchte eine volle Stunde, um sich auch nur halbwegs zu orientieren. Eine weitere halbe Stunde verging, ehe er aufhörte, sich über seinen wiedergefundenen Namen zu freuen. Und da kroch noch viel mehr aus dem Sumpf seines umnachteten Geistes. Ein Straßenname, eine Hausnummer. Bilder einer chaotisch eingerichteten, aber sehr vertrauten Wohnung. Jetzt musste er nur noch eine Möglichkeit finden, dorthin zu kommen.

Das Glück und Londons Personentransportnetz ließen ihn nicht im Stich.

Warum starrte der Busfahrer ihn so an? Klar, er stieg mitten in der Nacht in einer der miesesten Gegenden der Stadt zu, aber der Kerl sah auch nicht eben aus als wäre er jeden Dienstag zur Maniküre mit anschließender Haarwurzelmassage angemeldet.

Dass Turner ein wenig angekohlt aussah, war doch kein Grund so unfreundlich zu ... die Fensterscheibe lieferte den Grund. Gnädig verschwommen, aber immer noch ziemlich eindrucksvoll präsentierte sich ihm sein Spiegelbild. Ein verklebter Bart reichte ihm bis auf die Brust. In seiner Frisur hätte eine ganze Rattenfamilie unterkommen können und die ungewaschenen Lumpen, die um seine magere Figur labberten, waren allemal ein Grund. Er sah aus wie ein verdammter Penner.

Das war jetzt aber wirklich unheimlich. Irgendwas Schlimmes war mit ihm passiert. Dass er sich nicht daran erinnern konnte, war vielleicht ganz gut. Er wagte einen weiteren verstohlenen Blick in die Fensterscheibe.

Ohmannomann, jammerte er innerlich. Dass er vor dem weißen Waschbecken in seinem Badezimmer Kamm und Rasierer benutzt hatte, war bestimmt einen ganzen Monat her. Vielleicht auch nur eine Woche, beruhigte er sich. Sein Haarwuchs war schon immer ungewöhnlich stark.

»Okay, da wären wir, Kumpel.« Übellauniger Furz von einem Fahrer, dachte Turner und schlurfte auf die Straße. Noch ein paar Meter. Zwei Straßen. Ja, genau, dort rechts rum. Erleichtert erkannte er die Straße, in der er eine Wohnung in der Nummer 276 bewohnte. Zu Hause.

Hinten war immer offen, fiel ihm ein. Also ging er durch die kleine Gartenpforte zum Nebeneingang des Hauses und fand wie gewöhnlich die unverschlossene Haustür vor.

Au, verdammt, welcher Idiot hat seinen Müll in den Gang gestellt?

Blind tastete er nach dem Hindernis, gegen das er gelaufen war. Ein Fahrrad. Dieser verfluchte Junge. Warte, eines Tages ...

Doch im nächsten Moment war der kleine Freak vergessen. Der vertraute Geruch des Treppenhauses war so ungemein tröstlich. Turner fühlte sich, als käme er von einer langen Reise endlich zurück an den Ort seiner Sehnsucht. There is no place like home, zwitscherte Judy Garland in seinem Kopf.

Der Schlüssel war ja auch noch da, wo er ihn immer versteckte. Unter der ausgetretenen Fußmatte. Altmodisch und gar nicht originell. Im Grunde kein wirklich gutes Versteck, aber leicht zu merken. Er fühlte schon immer Angst davor, etwas Wichtiges zu vergessen. Schnell schloss er auf und schlüpfte kichernd durch die Tür. Vergessen, Angst vorm Vergessen, haha. Wirklich halb so wild, oder? Jetzt hatte er wirklich jede Menge vergessen. Und? Kam er etwa um vor Angst? Nein, dafür war er viel zu müde.

Alles, was er jetzt wollte, war schlafen. Schlafen und noch mal schlafen. Er wollte sich erholen von dem, an das er sich nicht mehr erinnern konnte. Er machte kein Licht an. Geschickt fand er im Dunkeln den Weg ins Schlafzimmer. Endlich. Kaum, dass sein verkommener, armer Leib in die muffigen Laken fiel, löschte erlösender Schlaf alle ungeduldigen Gedanken aus.