10. Kapitel

 

Noch vor Morgengrauen waren dichte Regenwolken aufgezogen.

«Pass auf, es wird wieder den ganzen Tag regnen!», hatte Seamus gesagt und verdrossen aus dem Fenster in den pechschwarzen Himmel hinauf gesehen.

«Sollte ja auch an ein Wunder grenzen, wenn diese Stadt zufällig mal nicht am Ertrinken ist, wenn wir hier sind», brummte er mürrisch und drückte auf den Schalter neben dem Fensterrahmen. Innerhalb von Sekunden ratterten die schweren, schwarzen Jalousien an sämtlichen Fenstern herunter und sperrten den beginnenden Tag licht- und einbruchssicher aus.

Seamus sollte recht behalten, was den Regen anging. In seinem leichten Halbschlaf konnte Lucas den ganzen Tag über einen Schauer nach dem anderen niedergehen hören. Auch jetzt prasselten schwere Tropfen wie Maschinengewehrfeuer auf die rotbraunen Hausdächer Prags. Von den warmen Ziegeln stieg ein Dunst auf, der schimmernde Halos um die Lichter der Stadt legte, und dem sonst so tristen, grauen Anblick der dunklen Straßen und schmuddeligen Hausfassaden, eine ganz eigene, neue Schönheit verlieh.

Obwohl es schon beinahe 22 Uhr und wegen der dichten Wolkendecke bereits stockdunkel war, meinte Seamus, dass sie besser noch mindestens eine Stunde warten sollten, ehe sie aufstanden und die Wohnung verließen. Und so saßen sie nun schon seit fünfzig Minuten tatenlos in dem spärlich möblierten, aber großräumigen Wohnzimmer und starrten stumm in den Regen, bis er Lucas nun endlich »erlaubte«, ein Taxi zum Bahnhof zu bestellen. Ehe sie jedoch endgültig gehen konnten, machte Seamus noch seine Runde durch sämtliche Zimmer. Er sorgte auch dafür, dass alle Sicherheitssysteme in dem Apartment fehlerfrei funktionierten. Auf den dafür angestellten Hausmeister wollte er sich unter gar keinen Umständen verlassen. Nein, er prüfte sie selbst. Bei jedem Eintreffen und jedes Mal, bevor sie die Wohnung wieder verließen und das mit akribischer Sorgfalt. Erst dann konnten sie in ein Taxi steigen und losfahren. Seamus war ein absoluter Sicherheitsfanatiker, aber auch Lucas durfte in den letzten Jahren sehr viel dazulernen. Seine Theorie, dass eine übermäßig gesicherte Wohnung auch besonders das Interesse potenzieller Einbrecher weckte und demnach ein gewöhnliches Türschloss entsprechend weniger Aufmerksamkeit erregte, gab er auf. Diese Leute versuchten einzubrechen, wo immer sich die Gelegenheit bot, egal ob nun einer, oder hundert Riegel - ein Unterschied bestand lediglich darin, dass sie bei Türen mit nur einem Riegel entschieden mehr Erfolg hatten.

Vor fünf Jahren erwarb er diese Wohnung im obersten Stockwerk eines Mietshauses. Er wollte nicht länger in Hotels schlafen, wo sie nie wirklich unter sich waren und ständig fürchten mussten, vom Hotelpersonal überrascht zu werden.

Gleich am ersten Tag veranlasste er den Einbau einer Alarmanlage und einer eisenverstärkten Eingangstür mit vier Sicherheitsschlössern. Er ließ die Fenster so abdichten, dass absolut kein Lichtstrahl eindringen konnte. Außerdem ließ er noch zusätzliche Gitter anbringen. Danach glich die Wohnung einer wahren Festung.

Ihre Tage mussten unbedingt sicher sein. Sollten sämtliche dieser komplizierten Vorkehrungen einen Eindringling nicht davon abhalten, hereinzukommen, so musste er dabei wenigstens einen derartigen Lärm veranstalten, dass sie aufwachten und außerdem noch genügend Zeit blieb, den Ganoven gebührend zu empfangen. Einen menschlichen Wächter, wie Seamus einst vorschlug, wollte Lucas auf gar keinen Fall. Er wollte keinen Menschen, der ihnen wie ein schlafwandelnder Zombie folgte. Auch wenn das noch so angenehm und praktischer wäre, als all der Aufwand, den sie um ihrer Sicherheit willen betrieben.

Nein, ein menschliches Wesen zu versklaven, wäre unentschuldbar. Dass dieser Vorschlag ausgerechnet von Seamus kam, erstaunte ihn. War er doch derjenige, der ihm predigte, das Leben eines jeden Menschen zu respektieren und nicht in die alten Gewohnheiten, die ihm durch Golan vererbt waren, zu verfallen.

Was das betraf, so brauchte sein Freund sich wirklich keine Sorgen machen. Lucas beabsichtigte auf gar keinen Fall seinem Schöpfer, was dessen Verhalten Menschen oder anderen Hirudo gegenüber betraf, nachzueifern.

Fünf Menschen mussten in seinen Armen ihr Leben lassen, ehe er lernte, seinen Hunger zu kontrollieren und nur soviel zu nehmen, wie er gerade eben zum Überleben brauchte. Fünf Menschenleben, und das waren fünf zu viel.

Er musste zwar öfter trinken, als diejenigen seiner Rasse, die ihre Opfer bis zur Neige leerten, aber das war es wert. Auch jetzt spürte er, wie sich der Hunger ankündigte; dabei war das letzte Mal erst zwei Nächte her.

Noch spürte er den fiebrigen Schmerz nur leicht, doch wenn er jetzt länger als eine oder zwei Stunden wartete, konnte es richtig schlimm werden. Dann setzte das typische Zittern ein, das nach und nach seinen ganzen Körper wie in einem Anfall von Schüttelfrost packte. Die fiebrige Benommenheit raubte ihm jeden klaren Gedankens und entriss ihn jedwede Kontrolle. Was blieb, war ein peingemartertes Monstrum, das nunmehr rein vom Überlebensinstinkt geleitetet, über jedes atmende menschliche Wesen in seiner Nähe herfiel.

 Besser, er ging jetzt gleich, ehe sie in den Zug stiegen.

«Wie viel Zeit haben wir?», fragte er Seamus, der gerade vom Informationsschalter zurückkam.

«Zu viel!», antwortete er und verzog ärgerlich das Gesicht. «Und diese unverschämte Person besaß die Frechheit, mir das hier zu geben.» Aufgebracht klatschte er mit der linken Hand auf die Hochglanzbroschüre in seiner rechten. «Sieh dir das nur mal an! Die können hier doch das Wort Zeitplan noch nicht einmal richtig schreiben. Und von Einhalten kann überhaupt keine Rede sein.» Er bemerkte Lucas Unruhe. Stutzig geworden, sah er ihn von der Seite her an. «Was ist los?», fragte er.

«Nichts Besonderes. Ich bin gleich wieder da», antwortete Lucas und warf einen ungeduldigen Blick auf seine Armbanduhr, «geh du schon mal vor und lass die Koffer in unser Abteil bringen, sobald der Zug kommt, ja?»

«Oh!» Seamus verstand. «Ja, natürlich. Ich warte dann im Zug auf dich.»

«Ja, ja!», erwiderte Lucas hastig und drückte Seamus seinen Aktenkoffer in die Hand, «bis gleich.»

«Und mach nicht zu lange!», hörte er Seamus noch hinter sich herrufen, als er schon halb die Bahnhofshalle durchquert hatte. Er drehte sich um, doch Seamus war schon damit beschäftigt, einen nicht ganz Freiwilligen zu beschwatzen, dass er ihr Gepäck bis in den Zug schleppte.

Lucas schüttelte den Kopf und musste unwillkürlich lächeln. Was für ein Ausbund an Charme und Liebreiz, dachte er sarkastisch. Wenn Seamus nicht über die Fähigkeit verfügte, nichts ahnenden Menschen seinem Willen zu unterwerfen, stünde er wohl noch morgen früh mit ihren Koffern in der Halle.

Eilig lief er durch die Absperrung zu den Treppen, die hinauf zu den Bahnsteigen führten. Aufmerksam sah er sich um. So spät am Abend waren nur sehr wenige Fahrgäste unterwegs. Ein Mann saß mit einem braunen Koffer auf dem Schoß, auf der Bank neben der Fahrplantafel. Eine junge Frau, in geflickten Strumpfhosen und einem viel zu großen Kleid, stelzte nervös auf und ab. Sie reckte sich alle paar Augenblicke in hoffnungsvoller Erwartung über den Bahnsteig hinaus. Sie blickte in die Richtung, aus welcher der hoffentlich bald eintreffende Zug kommen musste.

Zwei Menschen. Lucas überlegte erst gar nicht und eilte unbemerkt bis ans Ende der Plattform und sprang auf die Gleise hinunter. Seine Erwartungen blieben nicht unerfüllt. Zwischen den abgestellten Waggons fand man immer jemanden. Entweder einen Bahnangestellten, einen Obdachlosen oder jugendlichen Ausreißer, die auf der Suche nach einem windgeschützten Schlafplatz hierher kamen, weil man sie aus der Bahnhofshalle vertrieb.

In diesem Fall war es ein Gleiswärter, der sich hinter einem Güterwagen versteckte und ganz darauf konzentriert war, seine, in eine Papiertüte gewickelte Flasche, zu leeren.

Beim Anblick des auf und ab gleitenden Kehlkopfes unter der unrasierten Haut der gestreckten Kehle fuhr Lucas sich unwillkürlich mit der Zunge über die Lippen.

Ja, kein Zweifel, er war hungrig.

Lautlos schlüpfte er zwischen die rostigen Wagen und schlich sich von hinten an den schon halb betrunkenen Mann heran. Erst, als er direkt hinter ihm stand, beugte er sich vor und tippte ihm auf die Schulter. «Bekomme ich auch einen Schluck?», flüsterte er leise.

Erschrocken fuhr der Wärter mit weit aufgerissenen Augen herum. Still! befahl Lucas ihm in Gedanken, und sofort verlor der Blick des Mannes jeglichen Ausdruck, und sein Gesicht entspannte sich zu einer schlaffen Maske.

Geschickt fing Lucas die herabfallende Flasche auf und stellte sie vorsichtig auf den Boden. Er wollte nicht, dass der arme Kerl sich hinterher fragte, was geschehen war. Er wollte keine Spuren, die darauf hindeuteten, dass etwas Ungewöhnliches geschehen war. Dann griff er nach dem rechten Arm des Mannes und öffnete, mit vor Ungeduld zitternden Fingern, den Knopf seines Hemdsärmels.

Oh Gott, verzeih mir! betete er stumm, leckte leicht über die weiche Haut an der Innenseite des dürren Handgelenks und brach dann mit einem schnellen Biss seiner scharfen Zähne die darrunterliegende Ader auf. Köstlich, heißes, würziges Nass füllte augenblicklich seinen saugenden Mund. Das salzige Aroma prickelte auf seiner Zunge, rann in goldenem Strom seine Kehle hinab und breitete sich wie ein warmer Schauer in seinem Magen aus.

Lucas schloss die Augen und stieß ein lang gezogenes Stöhnen aus. Das reicht! befahl er sich. Genug, hör auf! Widerwillig ließ er von dem Mann ab. Er musste die ihm zugefügte Wunde sich noch schließen lassen. Also wartete er. Wenige Sekunden später waren die verräterischen Male verschwunden. Eines der wenigen »Wunder« für das ihm bislang niemand eine Erklärung geben konnte - Ließen sie von ihren Opfern ab, schlossen sich deren Verletzungen innerhalb kürzester Zeit. Nicht einmal Narben blieben zurück. Keine auffälligen, rot entzündeten Bissspuren auf Hälsen nächtlich geschändeter Jungfrauen, die am nächsten Morgen mit bleicher Miene und glasigem Blick erwachten.

Blieb ihm nur noch eines zu tun. Der Mann musste vergessen. Lucas konzentrierte sich kurz. Dann suchte er auf die Art, wie Seamus es ihm beigebracht hatte, in den durcheinanderhuschenden Gedanken des anderen nach den kurzen Minuten, die er Lucas bewusst sah und »radierte« sie aus.

Er beeilte sich wegzukommen, denn die Wirkung seines telepathischen Befehls an den Gleiswärter, ruhig zu sein, konnte jede Sekunde nachlassen, und dann wollte er nicht von ihm gesehen werden.

Als er den beleuchteten Bahnsteig erreichte, verlangsamte er seinen Schritt und atmete erleichtert auf.

Er war immer froh, wenn »es«, wenn die Jagd vorbei war und so glatt lief wie gerade eben. Schaudernd warf er im Vorübergehen einen Blick auf sein Spiegelbild in einer der verglasten Fahrplantafeln. Sogar in der undeutlichen, dunklen Reflexion sah er, dass seine Haut um einige Nuancen rosiger wirkte und seine hellen, beinahe farblos scheinenden Augen lebhaft glänzten. Nur sein Haar war wie immer von einem so durchdringenden Rot, dass es sogar in dem kalten Neonlicht lohfarben wie ein Bund lodernder Flammen schimmerte. Der Haarflaum des kleinen Mädchens in Aimees Wiege war von genau derselben, durchdringenden Farbe ...