16. Kapitel

 

Nichts in der Bibliothek war verändert. Die Vorhänge waren aufgezogen, und wie sie schon von der Tür aus erkennen konnte, lag das Notizbuch noch an genau der Stelle, wo sie es gestern liegen ließ.

Durch die Fenster blickte Karen auf einen finsteren, bleigrauen Himmel, über den ein Blitz den anderen jagte. Ein wilder Sturm peitschte die Wipfel der Bäume, und ein dichter Regenschleier rauschte wie ein wahrer Sturzbach von den tief hängenden Wolken herab. Fette Tropfen prasselten wie Maschinengewehrfeuer gegen die Fensterscheiben.

Karen ging zum Schreibtisch und schaltete die Lampe ein. Erleichtert atmete sie auf, als das warme Licht die dämmerige Finsternis vertrieb.

Gut! dachte sie. Ganz ruhig jetzt, Karen, denk nach! Wo versteckt ein Mann wie Lucas den Schlüssel zu seinem privaten Zimmer? Wo bewahrt jemand derart persönliche Dinge auf? überlegte sie. Sie wusste, dass Lucas dieses Zimmer als eine Art Büro benutzte, dieser Schreibtisch seiner war und das Buch ihm gehörte. Dies hier war sein Zimmer, in dem er geschäftliche Dinge erledigte und Tagebucheintragungen vornahm.

Langsam ließ sie ihre Hände über die glatte Tischplatte wandern. Da stimmte doch etwas nicht! Lucas Zimmer? Aber weit und breit war nichts von Lucas zu erkennen. Genau wie im übrigen Haus. So, als hinterließe er nirgendwo auch nur die allerkleinste Spur. Hier waren keine Fotos, keine Notizzettel und auch nicht der übliche Erinnerungskrimskrams, den man doch praktisch auf jedem Schreibtisch fand. Bisher existierte Lucas Vale nur in Erzählungen. Geredet wurde im Vergleich zu dem, was über ihn in diesem Haus zu sehen war, reichlich und viel. Jarout schimpfte ihn einen Lügner, ungerechten Vater, schwächlichen Mann. Denis vergötterte ihn geradezu. Und Blanche? Sie schien eine Art vornehmen Stolz auf ihre Position an der Seite dieses großen, sich ständig auf Reise befindlichen Geschäftsmannes zu empfinden. Aber wo war Lucas?

Der Gedanke an ihn erweckte das beißende Gefühl einer Folter und trieb ihre Neugier voran, alles über diesen Mann zu erfahren. Mit einem kräftigen Ruck zog sie die breite Schublade in der Mitte unterhalb der Tischplatte auf. Wie sie beinahe erwartete, herrschte auch hier geradezu geometrische Ordnung. Rechtwinklig bereitgelegtes Löschpapier, rechts davon ein Stoß Briefumschläge. Unterhalb des Papiers fand sie zwei kleine, messingfarbene Schlüssel. Karen nahm einen davon auf und sah ihn genauer an. Nein, keine Schlüssel, die in ein Türschloss passten. Dafür waren sie zu klein, aber vermutlich gehörten sie zu den Türen rechts und links an den jeweiligen Tischseiten.

 Karen schob einen der Schlüssel ins rechte Türschloss. Er passte. Sie bückte sich, um zu sehen, welche Wunder sie erwarteten. Oh, und was für Wunder! Zwei Lexika und ein Karton mit Kugelschreiberminen.

Hinter der anderen Tür ähnlich nichtssagende Leere. Wütend knallte sie die Tür zu und ließ sich in den Schreibtischsessel fallen. Oh ja, hier sitzt er! dachte sie zynisch, wenn er wichtige Leute zu Besuch hat, mit denen er noch wichtigere Geschäfte bei einer Tasse Kaffee beplaudert.

Aufgebracht versetzte sie der wieder aufgeschwungenen Tür einen Tritt. Zum Teufel! Sollte sie jetzt etwa das ganze verdammte Haus nach einem bescheuerten Schlüssel durchsuchen? Das konnte ja Tage dauern. Und was, wenn Lucas wie Denis den Schlüssel zu seinem Heiligtum ständig mit sich herumschleppte? Dann wäre die ganze Rennerei ohnehin umsonst.

Moment mal! durchfuhr es sie. Hastig beugte sie sich über die noch geöffnete Schublade. In Filmen wimmelten alte Möbel doch immer vor irgendwelchen Geheimfächern? Falls das nicht nur ein Gerücht war, sondern die Möbelbauer früherer Zeiten tatsächlich eine Schwäche für solche Dinger hegten, dann musste auch hier ...?

Langsam schob sie die Schublade so weit wie möglich zurück, stand auf und beugte sich vor. Dabei versuchte sie ihren Kopf so zu drehen, dass sie mit dem linken Auge durch den verbliebenen, schmalen Spalt unter die Tischplatte linsen konnte, um einen versteckten Knopf oder Hebel zu entdecken. Doch sie konnte nichts erkennen. Vorsichtig zog sie die Lade wieder heraus und schob ihre rechte Hand hinein. Nichts! Außer der glatten Holzplatte und einigen Wurmlöchern.

Aber da waren noch die Seitenfächer! Mit der Schreibtischlampe in der Hand hockte sie sich erst vor die linke, dann vor die rechte Seite. Sorgfältig leuchtete sie jeden Winkel aus, schob die Bücher und braunen Umschläge zur Seite, klopfte an den Seitenwänden, dem Boden und sogar an die Unterseite der Tischplatte. Doch wieder nichts.

«Ahh», rief sie laut, «das ist doch wohl nicht zu fassen! Was bist du für ein Kerl, dass du nicht einmal das klitzekleinste private Ding in deinem gottverdammten Arbeitszimmer aufbewahrst!»

Zornig knallte sie die Lampe auf die Tischplatte, sodass das Licht wie erschrocken kurz aufflackerte. Dann schnappte sie das Buch und blätterte hektisch Seite um Seite um, schüttelte es schließlich kopfüber in der Hoffnung, dass vielleicht ein loses Blatt oder irgendetwas, das sie gestern übersah, herausfiel.

Nichts! Wütend schleuderte sie es gegen die Wand und stürmte aus dem Zimmer. Dort drinnen war eh nichts zu finden. Sollte Lucas doch an seiner Geheimnistuerei ersticken. Sollte er doch mit seiner sterilen Ordnung glücklich werden. Irgendwo in diesem gottverdammten Schuppen musste ein Werkzeugkasten zu finden sein und dann käme sie auch ohne einen lächerlichen Schlüssel in sein Zimmer hinein.

«Warte nur ab, Lucas Vale! Ich bin hier, hörst du? Ich bin hier», schrie sie, als sie das Zimmer verließ, «und ich gehe nicht eher, bis ich dich dazu bringe, so zu leiden, wie ich litt.»

Gellend warf die hohe Decke der Eingangshalle ihre schrille Stimme zurück, und jede Silbe dröhnte wie ein Hammerschlag in ihrem Ohr. «Hörst du mich! Ich bin hier, Vater!»

Mit wutverzerrtem Gesicht wirbelte sie herum. Ich bin hier! schrie es aus ihrer Seele und mit der Wucht eines Orkans schleuderten ihre geballten Emotionen wie eine geladene Waffe gegen die versiegelte Kellertür. Das schimmernde Holz erzitterte und bebte unter dem Ansturm, doch der von den Hirudo über den Zugang zu ihrem Schlafplatz gelegte Schutzwall hielt stand. Stattdessen entlud sich der gesamte Schlag ihrer Gedankenkraft über die Marmorstatue, die mit infernalischem Poltern zu Boden ging. Die weißen, gebogenen Flügel zerbrachen und ihr Kopf rollte holpernd, und auf erschreckende Weise an das abgeschlagene Haupt eines Hingerichteten erinnernd, quer durch die Halle. Mit einem lauten Schlag prallte er an die Wand neben der Haustür und zerbarst in tausend Stücke. Dann kehrte Stille ein, Grabesstille.

Atemlos und vor Schreck gelähmt starrte sie auf die zerbrochenen Gliedmaße der Statue. Nie hätte sie für möglich gehalten, zu einem solchen Schlag fähig zu sein. Wie konnte sie nur so wütend werden? Sie erkannte sich selbst nicht wieder. Diese Entschlossenheit war wie eine neue Stimme in ihr, die ihre eigene, zurückhaltende alte, laut übertönte. Doch selbst jetzt, angesichts des erschreckenden Anblicks der Folgen ihrer aussetzenden Selbstbeherrschung, wollte diese Stimme nicht schweigen. Sie drängte sie weiter und verstärkte das quälende Gefühl der Folter, der Marter, der sie doch all die Jahre ausgesetzt war. Befreit von der Fessel der Zurückhaltung ließ sie ihre Angst vor der kommenden Reaktion der Familie auf diesen Ausbruch vergessen. Erlöste sie aus der lähmenden Starre.

Hastig rannte sie zur Treppe und stolperte, zwei Stufen auf einmal nehmend, ins obere Stockwerk hinauf. Am ganzen Körper zitternd machte sie auf der obersten Stufe noch einmal kehrt und blickte mit Zorn geröteten Augen über das Geländer gebeugt nach unten. Du kannst mich nicht mehr übersehen, Vater! tönte es erneut in ihr. «Nun nicht mehr!»

Und als sie auf ihre Hände blickte, die noch zitternd das Geländer umklammerten, betrachtete sie verwundert die Tränen, die auf die weiß hervortretenden Knöchel ihrer Finger fielen.