~ 10. Kapitel ~
In dem wichtige Funde
nur wenig Aufschluss geben
Kopfschüttelnd trat Calman aus der Telefonzelle, die er gleich nach ihrem Eintreffen in Islington aufgesucht hatte, um Lucas und Arweth den aktuellen Stand der Dinge mitzuteilen. Das eben geführte Gespräch hatte ihn zu Anfang verwundert, dann in Rage gebracht und zu guter Letzt frustriert. Lucas meinte, Karen solle sie weiterhin begleiten. Er behauptete, sie habe die Teilnahme an ihren Nachforschungen in London verdient. Schließlich habe sie die entscheidenden Informationen geliefert. Außerdem hat Jarout versprochen, seine Schwester im Notfall sofort nach Hause zu bringen. Und war diese gemeinsame Unternehmung nicht eine wunderbare Gelegenheit für die beiden, wieder zueinanderzufinden? Erst als Calman Arweth an den Apparat bekam, erfuhr er den wahren Hintergrund von Lucas’ seltsam großmütigen Äußerungen. Und Calman musste erkennen, dass sein Misstrauen nicht umsonst geweckt war. Lucas’ Rede über Karens Verdienst und aufkeimende Nähe zu ihrem Bruder Jarout war reinste Heuchelei. Eine zwar gut gemeinte, aber dennoch eine Ausrede.
Was Calman am meisten aufregte, war die erstmals offen dargebrachte Überheblichkeit Arweths, Karen gegenüber. Was dachte sich sein Bruder nur dabei, wegen der bevorstehenden Ankunft ihrer Schwester Sappho, Karens Anwesenheit zu verbieten? Sicher, die Allianz starker Hirudo war wichtig, wenn sie ihre Ziele erreichen wollten. Um zu verhindern, dass Maratos seinen Wahnsinn auch in diese Welt trug, mussten sie sich einen. Dennoch wäre er anstelle seines Bruders nicht auf Sapphos Eitelkeit eingegangen. Ihr zu schmeicheln, um sie milde zu stimmen, war nicht schlimm. Niemand büßte dabei Stolz oder Ehre ein. Doch in diesem Fall grenzte ihre Arroganz an Beleidigung. Den Umgang mit einem menschlichen Wesen zu verweigern traf nicht nur Karen, sondern alle, die in den vergangenen Jahren mit ihr zusammen waren. Dazu gehörten auch er und Arweth.
Von Lucas hätte Calman wenigstens Widerspruch erwartet. Statt dessen versuchte sich Karens Vater mit dummen Vorwänden aus der Verantwortung zu stehlen.
Bullshit, dachte Calman. Fadenscheinige Ausflüchte. Von wegen wohl gemeinte Großzügigkeit. Wieder entzog Lucas sich seiner Verantwortung für Karen, indem er nicht für sie einstand. Als Ersatz für Ehrlichkeit versuchte er sie mit einer schlichtweg gelogenen Beschönigung abzuspeisen.
»Und, was hat Lucas gesagt?« Karen stand mit ihrem Bruder neben dem Fenster, aus dem sie vor wenigen Minuten gekommen waren. Calman hob mit ausdrucksloser Miene die Schultern. Er wollte nicht, dass Karen von Arweths Rücksichtslosigkeit oder Lucas’ zahmen Gehorsam erfuhr und hoffte, dass er seine Gedanken soweit unter Kontrolle halten konnte, dass sie ihm seine Verärgerung nicht anmerkte.
»Nichts weiter«, antwortete er. »Wir sollen reingehen und versuchen, soviel wie möglich herauszubekommen.«
»Sonst nichts? Keine Ermahnungen: Passt mir ja auf die Kleine auf! oder so was?« Mit heruntergezogenen Mundwinkeln ahmte sie Lucas’ väterlichen Ton nach. Lächelnd schüttelte Calman den Kopf. »Das schon, aber er meinte, du hast ja deinen Schutzengel dabei.«
Jarout zuckte zusammen. »Du meinst ihn?«, fragte Karen erstaunt und wies mit dem Daumen auf ihren Bruder.
»Lucas hat dein Versprechen, nicht wahr, Jarout?«
Der junge Hirudo murmelte in zynischem Tonfall: »Sicher, Papa hat vorgesorgt.«
Einen Moment lang sah Karen aus, als wolle sie zum verbalen Gegenschlag ausholen. Doch ehe sie etwas sagen konnte, war Jarout schon auf dem Weg zu der Eingangstür des Hauses, in dem ihr nächster »Kunde« wohnte. Er verspürte nicht die geringste Lust auf ein Wortgefecht mit ihr. Schließlich konnte er kaum etwas erwidern, ohne damit den derzeitigen Waffenstillstand zwischen ihnen ernsthaft zu gefährden. Und danach war ihm jetzt wirklich nicht zumute. Seine Bemerkung eben reichte vermutlich schon, sie in ihrer schlechten Meinung über ihn zu bestärken.
Mit wenigen Schritten waren Karen und Calman bei ihm. Ehe Jarout in Versuchung geriet, die Tür kurzerhand aufzubrechen, drückte Calman auf den Klingelknopf neben Turners Namensschild. Sie warteten, doch niemand reagierte.
»Versuch mal die anderen«, meinte Karen und drängte Jarout zu Seite, um einen Knopf nach dem anderen zu betätigen. Doch auf ihr Klingeln kam keine Antwort. Calman sah Jarout an, grinste und wies mit nach oben zeigender Handfläche auf den Hauseingang. Mit einem leisen Knirschen gab die Tür ihren halbherzigen Widerstand beim ersten Tritt auf. Der Rahmen war alt und nicht sehr stabil. Das morsche Holz splitterte und der Weg war frei.
»Voila«, verkündete Jarout. »Madame et monsieur, ich bitte näher zu treten.«
Calman drängte an ihm vorbei in den dunklen Hausflur. Wie vermutet fand er gegenüber der Treppe den Lichtschalter. Doch als er ihn betätigte, blieben die Lampen aus. Kein Strom, dachte er. Oder die Birne ist kaputt. Für ihn und Jarout war die Dunkelheit kein großes Problem. Nur Karen bekam ohne Licht Schwierigkeiten.
»Wir gehen nach oben! Karen, du kommst mit mir, sonst stolperst du noch und brichst dir was.« Er wandte sich zu Jarout. »Sieh auf den Türschildern nach dem Namen. Findest du Turner, dann rufst du uns! Keine Einzelaktionen, klar!« Calman warf Jarout, der genervt die Augen verdrehte, einen ernsten Blick zu. Sie brauchten nicht lange suchen, denn schon bei der dritten Tür im ersten Stock wurden sie fündig. Wieder klopfte Calman erst, ehe er Jarout aufforderte, die Tür gewaltsam zu öffnen.
Als sie die Wohnung betraten, wurde klar, dass niemand zuhause war. Tatsächlich schien das Appartement seit langer Zeit leer zu stehen. Calman suchte nach dem Lichtschalter. Was für ein Zufall, dachte er zynisch, als auch hier die Lampen dunkel blieben. Also kein Strom. Weder im Flur noch hier. Vermutlich im ganzen Haus. Seltsam, wie hoch standen die Chancen dafür, dass ausgerechnet heute die Leitungen versagten. Ein bitterer Verdacht keimte in ihm. War womöglich das ganze Haus verlassen?
Vorsichtig tasteten sie sich weiter den Wohnungsflur entlang. Der Gestank verdorbener Nahrungsmittel hing in der abgestandenen Luft. Ein Blick in die Zimmer bestätigte die Vermutung, dass seit Wochen niemand mehr diese Räume aufgesucht hatte. Die Einrichtung war in einem Zustand, den man nur als erschreckend bezeichnen konnte. Eine dicke Staubschicht lag auf sämtlichen Flächen und Polstern. Dicke Spinnweben hingen wie skurriles Lametta von Möbeln und Wänden. Außer in einem Raum, dem Wohnzimmer. Dort lagen Vasen, Bilderrahmen und andere zerbrechliche Gegenstände, rücksichtslos zerschmettert als glitzernder Scherbenteppich auf dem Boden. Auch das Mobiliar war diesem Vandalismus zum Opfer gefallen. Umgestürzte Regale, Sessel mit aufgeplatzten Polstern, selbst die Gardinen hingen in Fetzen von der Stange. Diese Spuren roher Zerstörungswut waren frisch. Ganz deutlich zeichneten sich Hand und Fingerabdrücke in der grauen Staubschicht ab.
»Sieht aus, als sei unser Freund nicht hier, was?«, bemerkte Jarout so treffend wie nie.
»Lange kann es aber nicht her sein, dass er hier war«, rief Karen, die sich im Dunkeln ins Nebenzimmer getastet hatte. Sie kam zu ihnen und blieb in der Tür stehen. In der Hand hielt sie eine Taschenlampe, deren Licht zwar flackerte, aber immer noch hell genug war.
»Die Dusche ist sauber und die Luft im Badezimmer riecht nach Parfüm. Er war bestimmt erst vor ein paar Stunden hier«, verkündete sie, mit dem Daumen hinter sich deutend.
»Dann, meine Freunde, ist der Bewohner dieses Ortes kein lang verschollener Vermisster, sondern ein Schwein, bah!« Mit spitzen Fingern klaubte Jarout eine angegammelte Bananenschale von der Unterseite des umgestürzten Couchtischs. »Ekelhaft. Wir räumen nach dem Essen wenigstens auf.«
»Wir sollten nach Hinweisen auf den Hirudo suchen. Vielleicht finden wir Unterlagen, Tagebücher, Notizen. Irgendetwas, das der Typ heimlich aufbewahrt hat«, schlug Calman vor und trat einige Kissen aus dem Weg, die vor dem Sofa lagen.
»Großartig, in meinem Vertrag stand nichts davon, dass ich eine Müllkippe durchwühlen muss«, protestierte Jarout und machte sich doch daran, die verklemmten Schubladen der miserabel lackierten Anrichte zu öffnen. Ächzend gab das malträtierte Holz nach und Jarout beförderte unzählige Feuerzeuge, Heftzwecken, Gummibänder und anderen gesammelten Krempel zutage. Er warf die Sachen kurzerhand hinter sich, ohne Rücksicht darauf, wo sie landeten.
»Hey, sei ein bisschen vorsichtig damit«, schimpfte Calman.
»Wozu? So wie’s hier aussieht, fällt das bisschen mehr Müll sowieso nicht auf.«
Calman stieß einen schnaubenden Laut durch die Nase. »Schon mal was von systematischer Suche gehört? Dazu gehört auch, dass man den durchsuchten Bereich von dem nicht durchsuchten trennt.«
Jarout zuckte die Schultern und ließ eine Handvoll Kugelschreiber zu Boden rasseln. »Mach ich doch.«
Calman schüttelte resigniert den Kopf und beschloss, sich in der Küche umzusehen. Verbrachte er auch nur noch eine Minute länger mit diesem Kerl, verlor er endgültige die Geduld. Karen folgte ihm. »Ich habe Haare im Waschbecken gefunden«, verkündete sie. Fragend zog Calman die Augenbrauen hoch.
»Na ja, er hat sich die Haare geschnitten«, erklärte Karen.
»Oh«, entfuhr es Calman. Er war gerade dabei, den Mülleimer näher in Augenschein zu nehmen. Doch der gelbe Plastikbehälter war, bis auf die angetrockneten Reste einer undefinierbaren Masse, leer. »Und den Müll hat er auch rausgebracht«, kommentierte er und ließ den Mülleimerdeckel wieder zuklappen. »Ich werde mich mal im Haus umsehen«, meinte er.
»Hm, ich weiß nicht, aber mir kam’s vor, als wäre das ganze Haus leer. Hast du den Müll unten gesehen? Kein Vermieter in dieser Gegend lässt seinen Hausflur derartig verkommen.« Karen sprach seine erste Vermutung aus.
»Du hast recht. Und ist dir auch aufgefallen, dass nicht das leiseste Geräusch zu hören ist. Kein Fernseher, keine Stimmen.«
Sie nickte. »Ich komme mit dir, wenn du dich trotzdem umsehen willst. Wenn doch jemanden hier ist, kann ich vielleicht helfen.«
»Gut, dann komm. Jarout kommt hier sehr gut ohne uns aus, denke ich.«
Gemeinsam verließen sie die Wohnung und liefen zunächst in das obere Stockwerk. Drei Türen gingen vom Flur ab. Sie klingelten an jeder, doch niemand öffnete. Calman vermutete, dass sich diese Behausungen in einem ähnlichen Zustand befanden wie Turners Bleibe.
Eine dicke Staubschicht auf den Möbeln und der Gestank verschimmelter Lebensmittel.
Dieses Haus ist leer, dachte er. Es ist schon seit Wochen, vielleicht Monaten, verlassen. Häuser wie dieses sah er nicht zum ersten Mal. Überall auf der Welt fanden sich verlassene Gebäude wie dieses. Auf dem Tisch stand noch die letzte Mahlzeit, in den Betten sah man noch den Körperabdruck derer, die vergangene Nacht darin geschlafen hatten. Alles sah ganz so aus, als seien die Bewohner nur mal kurz fort, um gleich wieder heimzukehren. Doch keiner von ihnen kam jemals wieder zurück. Die Heimstatt war und blieb verlassen. Ein Geisterhaus, in dem nur noch die Erinnerung lebte.
Er selbst wohnte vor knapp dreihundert Jahren eine Zeit lang in einem solchen Haus. Ein Gehöft, irgendwo in Mittelengland. Seine Schwester Galatea benutzte das Anwesen als Unterkunft. Und wo zuvor eine Familie ihr Zuhause hatte, stand nur noch eine Fassade, hinter der ein Hirudo schlief. So wie dieses Mietshaus in Islington sahen Häuser aus, in denen Hirudo ihre Wächter wählten, die übrigen Menschen töteten und sich in ihrer Heimstatt einnisteten. Calman schauderte. Menschen zu manipulieren oder gar aus Eigennutz kaltblütig zu töten, war ihm ein Gräuel. Auch damals verließ er seine Schwester schon nach wenigen Tagen. Er schwor sich, niemals wieder mit jemandem zusammen zu sein, der so leichtfertig mit den Lebenden umging.
»Komm, gehen wir!«, sagte er und zog Karen zur Treppe. »Hier ist niemand.«
Als sie an Turners Wohnungstür vorübergingen, konnten sie von drinnen das Scheppern fallender Gegenstände und Jarouts Fluchen hören. Karen warf Calman einen vielsagenden Blick zu und folgte ihm hinunter ins Erdgeschoss. Auch sie war mehr als nur ein bisschen genervt von ihrem Bruder, der genau das Verhalten an den Tag legte, mit dem zu rechnen gewesen war. Je länger sie ihn beobachtete, umso überzeugter war sie davon, dass er exakt dieselbe Person war, die sie vor fünf Jahren kennengelernt hatte. Ein unbeherrschter Egoist, der wohl kaum zögerte, andere zum eigenen Vorteil zu opfern.
Mitten in ihren brütenden Überlegungen stockte Karen plötzlich. »Der Keller«, flüsterte sie und krallte ihre Finger in Calmans Arm.
»Was ist damit?«
»Ich weiß nicht. Irgendwas.«
Eine vage Antwort, doch mehr konnte sie auch nicht sagen. Allerdings lernte sie während der vergangenen Jahre ihrem Instinkt zu vertrauen. Mit achtzig Prozent Wahrscheinlichkeit bestätigten sich ihre Ahnungen.
»Gut, dann sehen wir nach«, bestimmte Calman und war mit einem Satz an der Kellertür.
Die metallene Sicherheitstür war unverschlossen, doch schienen die Scharniere eingerostet, denn sie ließ sich nur schwer öffnen. Der Keller dahinter war tintenschwarze Dunkelheit. Nicht einmal die oberste Treppenstufe war zu erkennen. Karen beugte sich durch den Türrahmen und leuchtete mit der immer schwächer strahlenden Taschenlampe in die Tiefe. Im ersten Moment war sie nicht sicher, doch sie glaubte, die eckigen Umrisse gestapelter Kisten zu erkennen. Sie schienen gegen eine Holzwand gelehnt.
Am Fuß der Treppe stand ein Stuhl. Erst fiel ihr gar nicht auf, warum sie all diese Details erkennen konnte. Das Licht der Lampe reichte kaum die ersten fünf Stufen hinunter. Doch dann wurde ihr bewusst, dass der Boden des Kellers in einem seltsam grünen Licht fluoreszierte. Ein giftig aussehendes, unwirkliches Leuchten, das wie von festen Wurzeln alter Bäume durchzogen war. Die Helligkeit dieses bedrohlich wirkenden Schimmers beleuchtete den Raum bis zur halben Höhe der Wände.
»Siehst du das auch?«, fragte Karen Calman, der gleich hinter ihr stand. Sie spürte seine Wange an ihrem Haar. Er nickte. »Sieht aus wie Elmsfeuer oder so was«, meinte er.
Ein mattes Keuchen entfuhr ihrer Kehle und sie wich zurück, bis sie erschrocken gegen das Geländer der Treppe nach oben stieß. Was immer sich dort unten aufhielt oder aufgehalten hatte, war stark und blind.
Stark und blind. Was diese Worte bedeuten sollten, wusste sie nicht. Jedoch spürte sie ganz deutlich den brennenden Hass, der ihr wie eine schwarze Flutwelle aus der Tiefe entgegenschlug. War dieses Etwas blind vor Hass? Unter dem Ansturm der allesverschlingenden Emotionen taumelte Karen zurück. Hilfe suchend griff sie hinter sich. Schnell packte Calman sie bei den Schultern und hielt sie fest.
»Gott, du siehst aus wie der Tod. Was hast du?«, fragte er besorgt. Unten erlosch das Licht, als hätte jemand einen Schalter betätigt. Zugleich ließ auch der Druck in ihrem Inneren nach und sie gewann wieder Gleichgewicht. Verwirrt schüttelte Karen den Kopf. Die ganze Sache fing an, wirklich unheimlich zu werden. Gerade eben spürte sie beängstigende Gefahr. Wie ein Tier, das in kopfloser Panik sogar über den Rand eines tiefen Abgrunds flüchtete, wäre sie um ein Haar abgestürzt.
Vielleicht hätte sie doch die Finger davon lassen sollen. Da waren genug wohlmeinende, warnende Stimmen gewesen, die ihr rieten, sich nicht in die Angelegenheiten der Hirudo zu mischen. Calman selbst wies stets auf die Risiken hin und fürchtete oft, sie nicht immer beschützen zu können. Erst die Sache mit der Leinwand. Dann, was im Salon passiert ist und nun auch noch der Klabautermann im Keller. Haha, jetzt werd nicht komisch, Fräulein, dachte sie.
»Ich denke, ich bleibe hier. Wenn du unbedingt willst, dann geh du allein runter.«
Er sah sie erstaunt an. Wenn Karen sich weigerte, einen Raum zu betreten, dann steckte dahinter nichts Gutes.
»Sieh hinter der Holzwand nach!«, meinte Karen, und als Calman sie wieder verständnislos anblickte, fügte sie hinzu: »Vertrau mir. Wenn da unten was zu finden ist, dann hinter der Wand.«
Unruhe erfasste sie, als sie ihn in der Dunkelheit verschwinden sah. Am liebsten hätte sie ihn zurückgerufen. Niemand sollte dort hinuntergehen. Schon gar nicht allein. Eine Welle der Übelkeit ließ ihre Kehle eng werden. Von unten hörte sie Calman schimpfen.
»A ... alles in Ordnung?«, rief sie mit rauer Stimme.
Ein lautes Poltern war die Antwort. Calman hörte sie nicht. Vielleicht sollte sie Jarout rufen. Besser ihn als gar keine Hilfe.
»Calman?« Sie lauschte, doch kein Laut drang aus der Finsternis.
Der Lichtkegel ihrer Lampe war längst zu einem gelblichen Flimmern verblasst. Bis sie ganz den Geist aufgab, war nur noch eine Sache von Minuten. Noch einmal rief sie seinen Namen. Diesmal antwortete er. Erleichtert atmete Karen auf.
Sekunden später erschien er in dem matten Schimmer der Taschenlampe.
»Ich denke, hier sind wie erst einmal fertig«, murmelte er.
»Hast du etwas gefunden?«
»Dort unten ist niemand. Ich fand das hier«, antwortete er und hielt ein kleines Glasfläschchen hoch, »und möglicherweise den Schlafplatz. Sicher bin ich mir zwar nicht, aber alle Anzeichen sprechen dafür.«
Karen nahm die Flasche aus seiner Hand, um sie genauer zu betrachten. Keine fünf Zentimeter war sie groß, aus durchscheinendem, rotem Glas und mit winzigen, filigranen Goldmustern verziert. In dem nadelörfeinen Flaschenhals steckte fest ein Glaspfropf, der den flüssigen Inhalt sicher einschloss.
»Sieht hübsch aus«, meinte sie.
Calman schnaubte verächtlich. »Das ist das Werk der Saharad. Was drin ist, kann ich mir auch denken. Besser, du behältst es.« Karen blickte ihn fragend an. Calman zögerte kurz, dann erklärte er: »Das ist um’tejesh. Ein Gift, das auf uns tödlich wirkt, wenn wir damit in Berührung kommen. Keine Angst, dir kann nichts passieren. Gefährlich ist das Zeug nur für uns Hirudo.«
»Ich wusste gar nicht, dass es so was gibt.«
Calman schnaubte angewidert. »Zuletzt hab ich es in Melacar gesehen, als Maratos eine Phiole, ähnlich dieser, einem Saharad abnahm, ehe er ihm die Kehle aufriss und ihn seinen Sklaven zum Fraß vorwarf. Die Saharad sind ein Nomadenvolk in unserer Welt und darauf spezialisiert, uns zu bekämpfen. Unser Freund hier muss dort gewesen sein und hat das Gift zu irgendeinem Zweck mitgebracht. Vermutlich hat er es hier vergessen. Sehr unvorsichtig von ihm. Was ich nicht verstehe, ist, wie er daran gekommen ist. Und vor allem wann.«
Karen nickte. Seit Jahrzehnten hatten die Hirudo das Reich ihrer Geburt nicht mehr betreten. Ihr Stammvater Maratos ließ jeden, der einen Schritt auf den Boden der Purpurwelt wagte, töten.
»Vielleicht hat er es schon vor langer Zeit mitgebracht, als Melacar noch sicher war«, meinte sie und ließ das kleine Fläschchen vorsichtig in ihre Hosentasche gleiten.
»Ja, vielleicht, oder auch nicht.«
»Was meinst du damit?«
Calman antwortete nicht, sondern rief in Richtung der offen stehenden Wohnungstür: »Kommst du, Jarout? Wir gehen. Vielleicht ist Mister Turner später wieder hier.«
»Calman, was meinst du mit: vielleicht nicht?« Karen wusste, dass mehr hinter dieser Äußerung steckte.
»Nichts weiter«, wehrte der Hirudo ab.
»Verarsch mich nicht, Calman. Du hast gerade eben vermutet, dass dieser Kerl erst vor Kurzem in Melacar gewesen sein könnte und lebend zurück gekommen ist. Du weißt, was das bedeutet. Wie kommst du darauf? Ich bin nicht blöd, also raus mit der Sprache.«
»Da ist nichts weiter. Nur eine dumme Bemerkung, das ist alles. Schließlich kann man ja nie wissen, ob ...«
»Ob was? Ob der, den wir suchen, etwa Maratos ist?« Laut ausgesprochen klang dieser Verdacht aberwitzig. Doch je länger Karen darüber nachdachte, umso einleuchtender schien er auch.
»Sicher nicht«, wehrte Calman ab. »Dann schon eher einer seiner Verbündeten.«
»Und warum sollte er jemanden hierher schicken? Doch nicht etwa, um einen nach dem anderen von euch zu töten?«
Dass Calman so ruhig blieb, ließ Karen vermuten, dass er nicht zum ersten Mal diese Möglichkeit in Betracht zog. Er schien sehr vertraut mit diesem Gedanken.
»Darum geht es also. Hab ich recht? Deshalb seid ihr, du und Arweth, in das Haus der Familie gekommen. Irgendwas Schlimmes ist passiert und Maratos hat damit zu tun, nicht wahr?« Die Taschenlampe verlosch endgültig und samtene Finsternis hüllte sie ein. Karens Augen glänzten wie schwarze Seen in dem blassen Oval ihres Gesichts, das nunmehr ein Schemen in der Dunkelheit des Hausflurs war. Sie bebte am ganzen Leib.
»Nun sag schon!«, drängte sie und packte seinen Arm. »Gott, speis mich nicht so ab! Wenn du nicht sofort antwortest, lass ich mich von Jarout zurückbringen und dann könnte ihr sehen, wie ihr ohne mich Leute wie Somers aushorcht.«
»Vergiss es, Karen.« Mit einem Mal schien Calman die Geduld zu verlieren. »Selbst wenn ich deine Drohung ernst nähme, könntest du sie nicht in die Tat umsetzen. Arweth hat deine Anwesenheit im Haus für die Dauer einer Nacht verboten. Weder wird Jarout dich dorthin bringen, noch wird dir jemand dort die Tür öffnen, wenn du davor stehst.«
Fassungslos schnappte Karen nach Luft. Arweth verbot ihre Anwesenheit. Was bildete sich dieses Arschloch eigentlich ein? Das konnte er doch nicht machen? Das erlaubte Lucas niemals. Calman, der ihre sich überschlagenden Gedanken aufgeschnappt hatte, griff ihre Hand.
»Lucas kann gar nichts dagegen unternehmen, selbst wenn er wollte. Die Familie erwartet den Besuch meiner Schwester und der ist wichtiger als du. Selbst wichtiger als ich oder dein Vater. Ich kann und darf dir nicht mehr sagen. Glaub mir, ohne einen guten Grund würde Arweth niemals um deine Abwesenheit bitten.«
»Ach, hör doch auf, Calman. Du weißt doch auch, dass ich nichts weiter als ein nettes Haustier bin. Wäre ich nicht Lucas Tochter und verfügte nicht über einige putzige Talente, dann hätten sie mich schon längst ausgeschlossen. Schlimmer noch, ich wäre vermutlich gar nicht mehr am Leben«, rief sie und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht.
»Das ist Unsinn«, wiegelte Calman ab, »und das weißt du auch. Natürlich reagieren einige von uns misstrauisch Menschen gegenüber und nicht wenige sind gefangen in ihrer idiotischen Arroganz. Aber wenn du die Aufrichtigkeit derer, die dich lieben, bezweifelst, dann bist du dümmer als ich dachte. Denk an Denis und Blanche. Oder Galina. Oder mich. Warum sollte ich dich wohl über den halben Globus schleppen und Nächte, ja, Wochen mit dir verbringen? Ich bin vielleicht in mancher Hinsicht seltsam, aber masochistisch veranlagt bin ich eindeutig nicht.«
Er zog sie zur Treppe und drängte sie, sich neben ihn zu setzen.
»Dann behandle mich nicht wie ein kleines Kind. Weih mich ein, lass mich teilhaben. Ich will mich ja nicht einmischen in eure Angelegenheiten. Alles, was ich möchte ist, mich nicht ständig ignoriert zu fühlen.« Karens flehentlicher Blick suchte seine Augen in der Dunkelheit. »Ich will nicht nur mit dieser Familie leben, ich will ein Teil von ihr sein. Verstehst du das?«
Calman nickte. »Sicher verstehe ich das. Ich verstehe dich, doch du musst begreifen, dass das nicht alle tun. Jetzt nicht und vielleicht niemals. Erinnerst du dich, dass Lucas dich vor die Wahl gestellt hat, im Haus der Familie oder weiter in London zu leben? Damals versuchte er dir zu erklären, dass ein Leben mit den Hirudo alles andere als einfach wird. Das waren nicht nur leere Worte.«
Karen schniefte leise. Als Lucas sie warnte, dass sie lernen müsse, Grenzen einzuhalten, verschwendete sie keinen Gedanken an die Ernsthaftigkeit seiner Worte. Sie glaubte stets, dass sie die Wunder und Abenteuer für jeden Mangel entschädigen könnten. Irgendwie jedoch war diese Demut verschwunden. Unmerklich nahm Begehren diesen Platz ein.
Sie versuchte sich an jene Zeit zu erinnern, da sie die Hirudo mit ihrem bloßen Anblick, ihrer Existenz begeisterten. Damals war sie zufrieden mit dem, was sie ihr gaben, ohne dass sie darum bat. Doch wie auch immer sie diese Erinnerung drehte und wendete, sie konnte die Gefühle von einst nicht mehr zurückrufen.
»Du solltest mit Lucas reden, wenn wir zurückkommen. Ich verstehe nicht, warum du das nicht schon längst getan hast.« Sanft strich er ihr über die feuchten Wangen.
»Ich weiß nicht. Vermutlich dachte ich, er ist schon genau so kaltherzig wie Beryl und Eliane. Und Arweth.«
»Karen«, hob Calman an.
»Nein, schon gut«, unterbrach sie ihn, »ich hör’ auf. Ich weiß auch nicht, was ich mir dabei gedacht habe, zu erwarten, dass ich Anspruch auf jeden Teil eures Lebens habe.«
»Das ist es nicht, Karen. Du hast einen Anspruch. Doch nur den, den jeder andere deines Alters und Standes hat. Nicht einmal Denis wird in jedes kleine Detail eingeweiht und er ist um einiges älter als du.«
»Da hast du allerdings recht. Und meine Chancen, ihn einzuholen, stehen nicht sonderlich gut«, grinste sie und war durch seine einfühlsamen Worte beruhigt.
»Nein, das stimmt wohl. Aber um auf das angebliche Geheimnis zurückzukommen, dass du hinter Arweths und meinem Besuch vermutest ...«
»Ja?« Sie sah ihn hoffnungsvoll an.
»Oh nein, glaub nicht, dass ich dich jetzt einweihe. Nur so viel: Du liegst richtig mit deinem Verdacht. Wir kamen nach Genf, weil es etwas Wichtiges zu besprechen gibt. Und noch mehr Hirudo werden kommen, also wunder dich nicht, wenn Lucas dich in gewissen Abständen bitten wird, dein Zimmer nicht zu verlassen. Möglich ist auch, dass du einige Nächte in London verbringen musst.«
Sie wollte protestieren, doch Calman legte ihr leicht seinen rechten Zeigefinger an die Lippen.
»Ich möchte dich jetzt bitten, dass du nicht widersprichst und tust, worum Lucas dich ersuchen wird. Im Gegenzug dazu verspreche ich dir auch etwas. Und zwar, dich einzuweihen, sobald auch alle anderen Hirudo aufgeklärt werden, deren Status mit deinem vergleichbar ist. Ich verspreche dir, dass du nicht übergangen wirst.« Er blickte sie eindringlich an. Im Dunkeln konnte sie die rötlich schimmernde Iris seiner Augen erkennen. »Einverstanden?«
Karen atmete langsam ein und aus. Heimlich kreuzte sie Zeige- und Mittelfinger der linken Hand hinter ihrem Rücken, ehe sie antwortete. Sie hegte keineswegs die Absicht, ihre Versprechen zu halten. »Einverstanden«, erwiderte sie.
Mit väterlicher Geste strich er ihr rotes Kraushaar zurück. »Gut, dann lass uns jetzt von hier verschwinden. Am besten rufe ich noch einmal in Genf an und dann bringen wir dich nach Dorkin.« Calman sah den Schreck in ihren Augen. Ängstigte sie der bloße Gedanke an das Haus ihrer Mutter denn wirklich so sehr?
»Natürlich nur, wenn du willst. Sonst werde ich irgendwo ein Zimmer für dich besorgen.«
Sie nickte ergeben.
»Ist ja nur für heute Nacht. Ich bin sicher, Sappho reist noch vor Morgengrauen wieder ab.« Calman versuchte seiner Stimme einen aufmunternden Klang zu verleihen. Tatsächlich wusste er nicht, wie lange Arweth gedachte, Karen zu verbannen. Doch das konnte er ihr nicht sagen, ohne einen erneuten tränenreichen Ausbruch zu riskieren. Eine derartige Aufregung pro Nacht reichte ihm.
Calman war heilfroh, dass Karen nicht mehr weinte. Ihm lag wirklich viel an ihr. Sie so unglücklich zu sehen, war schwer zu ertragen. Lucas machte sich die Sachen reichlich einfach. Karen zu beruhigen und ihr zu erklären, wie die Dinge standen, wäre seine Aufgabe. Schließlich war er ihr Vater. Herrgottverdammt, dass er sich dieser Verantwortung stellte, wurde wirklich höchste Zeit. Dass er sich Karen wieder und wieder entzog, trug nicht gerade wenig zu ihrem Misstrauen bei. Er ließ sie weder Respekt noch Liebe in ausreichendem Maße spüren. Deshalb vermutete sie auch Verrat und zweifelte an dem eigenen Wert. Missmutig schüttelte Calman diese verworrenen Gedanken ab. Jetzt war weder die Zeit noch der Ort, dieses Problem zu lösen. Wichtiger war, den nächsten Schritt des Killers zu erkennen. Und so wie die Dinge standen, waren sie nicht viel weiter gekommen. Außer der Bestätigung, dass der Mörder tatsächlich einer ihrer Art war, hatten sie nichts erreicht. Sie tappten nach wie vor im Dunkeln. Und das im wahrsten Sinne des Wortes.