~ 6. Kapitel ~
In dem Malcolm nach Hause geholt und
Serena vermisst wird
Sie brachten Malcolms Leiche mitsamt dem blutgetränkten Teppich und dem Tisch, auf den Colin den Toten gebettet hatte, durch die Spiegel nach Hause.
Malcolms Kopf lag in ein Leinentuch gewickelt am oberen Tischende. Getrocknetes Blut färbte den weißen Stoff dunkelrot. Schweigend schlug Calman das Tuch auseinander. Das helle Haar klebte an der bleichen Stirn des Schädels. Die rot unterlaufenen Augen starrten flach und leblos mit leerem Blick.
Dennoch bemerkte Lucas, dass Arweths Sohn im Tode so menschlich aussah, als wäre er niemals einer von ihnen gewesen. Er erinnerte sich an Golans Schädel, den er aufgespießt an einer Palisade in Melacar gesehen hatte. Auch dessen Haut war wachsbleich und stumpf gewesen. Wie bei Golan lagen Malcolms Augen wie glanzlose Kiesel in den eingesunkenen Höhlen. Das Seltsamste jedoch war, dass seine Fangzähne sich beinahe vollständig zurückgebildet hatten.
Kein Aschehaufen, kein erlösendes Feuer, das uns im Augenblick unseres Todes verzehrt, dachte Lucas und zog hastig ein Taschentuch aus seiner Jacke. Mit einem Gefühl von Ekel wischte er Malcolms geronnenes Blut ab, das ihm an den Fingern kleben geblieben war, als er mit Arweth die Leiche während des Transportes gehalten hatte. Kein Dahinschmelzen zu einer schleimig grünen Pfütze. Nichts von dem, was sich Filmemacher gern ausdenken. Wir verlieren einfach nur jenen monströsen Teil unseres Wesens, den uns unsere Blut trinkenden Väter und Mütter gaben. Zurück bleibt nichts weiter als der menschliche Körper.
Bislang sah Lucas keine Notwendigkeit, sich zu fragen, was mit ihnen geschieht, wenn sie sterben. Dieser Frage aus dem Weg zu gehen, war bequem. Denn die Frage nach dem Wohin zog einen endlosen Schwanz weiterer Fragen nach sich. Und letztendlich, so fürchtete er, käme er dabei an jenen Punkt, den zu meiden er sich vor mehr als zwanzig Jahren geschworen hatte. Nie wieder wollte er sich fragen, ob er ein Recht auf Leben besaß. Endlos lange Stunden bedrängte er damals Seamus, ihm zu antworten. In verzweifelter Raserei, die das Fieber der Wandlung auslöste, verfluchte er Golan. Durch ihn war er zu einem Monstrum geworden, das nach dem Blut der Lebenden gierte. Er verfluchte sich selbst, weil er dem Durst wieder und wieder nachgab. Erst, als er zu trinken lernte, ohne das Leben seiner Opfer auszulöschen, konnte er sich mit seiner neuen Existenz aussöhnen. Wenn auch nur halbherzig.
Bis zum heutigen Tag kämpfte Lucas Vale gegen das Erbe, das er angetreten hatte, als er Golans Herz in sich aufnahm. In manchen Nächten sann er dumpf darüber nach, ob und wie er in die Welt der Menschen zurückkehren konnte. War der Tod womöglich ein Weg? Malcolm sah so menschlich aus. Lucas wollte nicht in die Welt der überdrehten Anhänger paranormaler Theorien abrutschen.
Doch möglicherweise, so überlegte er, trennen sich die beiden Seelen bei Eintritt des Todes. Der vampirische Teil löst sich auf und der menschliche Teil ist wieder frei. Nein, dieser Gedanke war zu verrückt. Wo war Seamus, um ihm diese Hirngespinste mit einer wohl platzierten Ohrfeige auszutreiben.
So wie damals, als er schreiend und tobend durchs Haus gerannt war. In seinem Fieberwahn hatte er sich sogar aus einem der Fenster im oberen Stock gestürzt, um seinem Leben ein Ende zu bereiten. Seamus Reaktion darauf war ein kräftiger Faustschlag in Lucas wutverzerrtes Gesicht gewesen. Das hatte ihn zumindest vorübergehend zur Besinnung gebracht. Golans Teil in ihm gewann damals kurzzeitig die Oberhand und hatte ihn wieder zu Verstand kommen lassen.
»Was machen wir jetzt mit Malcolm?«, flüsterte Jarout unsicher. Lucas erschrak. Ihm war, als erwache er aus einer Trance. Wie lange standen sie schon hier? Einen Moment lang suchte er irritiert nach einer Antwort auf Jarouts Frage.
»Wir werden uns darum kümmern – später. Erst müssen wir herausfinden, was geschehen ist«, antwortete Calman an Lucas Stelle.
»Das wird nicht einfach werden. Wir haben nicht die geringste Ahnung, wo wir ansetzen können«, meinte Jarout. »Niemand von uns kennt den Kerl, mit dem diese Ratte, die den Brief gebracht hat, zusammen war. Wir können wohl kaum abwarten, bis er wieder mal im «porch» reinschaut. Serena ist in Gefahr und bis dahin kann ihr dasselbe passiert sein wie Malcolm.«
»Das wissen wir nicht. Nur weil sie seitdem nicht mehr in ihrer Wohnung war, muss sie nicht unbedingt verschwunden sein. Ich meine, wir sollten eine Nacht abwarten. Wenn sie bis dahin nicht aufgetaucht ist ...«
»Calman! Der Junge hat recht. Ich werde nicht warten, bis wir auch sie in diesen Keller tragen.« Arweth riss das rot verschmierte Tuch zur Seite. »Sieh ihn dir an, Bruder! Willst du dem, der das getan hat, die Zeit geben, es zu wiederholen?«
»Nein, aber was können wir denn tun? Schließlich haben wir keinerlei Spuren und er ...«, Calman wies auf Malcolm, »... kann uns ja wohl antworten.«
Arweth wich gekränkt zurück.
»Vielleicht doch«, warf Lucas ein. »Ich kenne einen ausgesprochen qualifizierten Gerichtspathologen, der uns weiterhelfen könnte. Er ist verschwiegen und sieht nur, was er sehen soll.«
»Ich wüsste was Besseres und das befindet sich sogar schon hier im Haus.« Jarout grinste geheimnisvoll.
»Was meinst du?«, fragte Calman.
»Nun ja, es gibt jemanden, der bräuchte Malcolm nur anzufassen und könnte uns mit großer Wahrscheinlichkeit sogar sagen, was er vor fünfunddreißig Jahren um diese Zeit getan hat.«
»Das kommt nicht infrage. Wir werden auf gar keinen Fall eine Sterbliche in unsere Angelegenheiten einbeziehen«, donnerte Arweth.
»Vielleicht hat Jarout Recht und Karen erweist sich tatsächlich als Hilfe«, meinte Calman. Und Jarout warf ein: »Außerdem ist sie Lucas Tochter. Das macht sie doch wohl zu einer von uns.«
»Du kennst meine Ansicht, Calman, und ich sage Nein. Genauso zu diesem Mediziner, den Lucas vorgeschlagen hat. Keine Menschen.« Arweth schien entschlossen, keinen Schritt weit von seinem Standpunkt abzurücken. Mit blitzenden Augen sprach er weiter: »Das sie hier lebt, ist eine Sache und ihre Abstammung ebenfalls. Doch sie aktiv teilhaben zu lassen, ist etwas völlig Anderes und absolut ausgeschlossen.«
»Was willst du dann tun?«, wollte Calman wissen, doch darauf wusste Arweth ebenso wenig eine vernünftige Antwort wie er.
»Also gut.« Lucas konnte die Ratlosigkeit der beiden Ältesten nicht mehr mit ansehen. Eine Entscheidung musste getroffen werden, ehe ihre Verunsicherung sie in einen Streit führte.
»Wir werden Arweths Wunsch Folge leisten und nach Serena suchen. Finden wir sie weder bis zum Morgen, noch im Tagschlaf, werden wir über Jarouts oder meinen Vorschlag nachdenken«, sagte er.
Gegen Lucas Worte erhob weder Calman noch Arweth Einwand. Dass sie nicht protestierten, bedeutete nicht, dass sie auch zufrieden waren. Doch sie schienen erleichtert und das war mehr Friede als Lucas erwartet hatte. Jarouts Vorschlag war jedoch von vornherein hinfällig, da Lucas entschieden dagegen war, seine Tochter als Medium zu missbrauchen. Zwar kannte er ihr Talent nicht aus eigener Erfahrung, da sie es nicht von ihm, sondern von Ion, Golans Erzeuger, geerbt hatte. Doch er hatte Karen beobachtet und wusste, wie grausam die Bilderflut sein konnte. Die Berührung mit jemandem, der Schreckliches erlebt hat, könnte sie auf Dauer traumatisieren. Schließlich war das Sehen für sie, als wäre sie unmittelbar im Geschehen. Nein, Karen sollte das nicht tun.
»Ich werde Seamus holen und den anderen Bescheid sagen, dass wir noch einmal zurückgehen. Dann können wir meinetwegen aufbrechen.«
Damit verließ er das Hauptgewölbe des Kellers und eilte die schmale Steintreppe in die Eingangshalle hinauf.