11. Kapitel
«Hallo! Erde an Karen!» Jarout wedelte mit der rechten Hand vor Karens Gesicht auf und ab. Unvermittelt aus ihren Gedanken geschreckt, blinzelte sie verwirrt.
«Na, komm schon! Trink erst aus, dann zeige ich dir, wo du schlafen kannst.»
Sie nickte und ließ sich von seinem aufmunternden Lächeln endgültig aus ihrer düsteren Grübelei reißen.
Mit gespielt hochmütiger Geste warf sie den Kopf zurück und sagte in näselndem Tonfall: «Also gut, dann bringen Sie mich auf mein Gemach, James.»
Lachend reichte er ihr seinen Arm. Gemeinsam gingen sie die Treppe in das dunkle Reich des oberen Stockwerks hinauf, in das Karen sich tags zuvor nur wenige Meter hineingewagt hatte.
Mit raschen Seitengriffen schaltete Jarout die Lampen entlang der rechten Wand ein, und weiches Licht hinter bunt getöntem Glas erhellte die schummrigen Korridore.
«Das Zimmer wird dir gefallen. Ich hoffe nur, dass sich nicht allzu viel Staub angesammelt hat. Die meisten der Räume hier oben benutzen wir gar nicht», gestand Jarout.
Das wunderte sie überhaupt nicht - so viele Zimmer. Gott, das mussten Hunderte sein! In diesem Haus könnte man eine ganze Armee unterbringen und den ganzen Tag umherlaufen, ohne einer Menschenseele zu begegnen.
Besorgt fragte sie sich, ob sie sich in diesem Irrgarten wohl ohne fremde Hilfe zurechtfand. Jarout machte es jedenfalls einen Heidenspaß, sie auf dem Weg durch die labyrinthartig verschachtelten Gänge, endlosen Galerien, den kurzen Treppen, die sie hinauf und an anderer Stelle wieder hinunterliefen, völlig durcheinanderzubringen. Karen vermutete, dass ihm das schon in London ein besonderes Vergnügen gewesen war. Hier musste ihm sein kleines Spiel noch viel größere Befriedigung verschaffen.
Er war in diesem Korridorgewirr aufgewachsen und konnte wohl ohne Schwierigkeit seinen Weg auch mit verbundenen Augen finden. Irgendwann, als sie schon längst nicht mehr daran glaubte, auf eigene Faust zurück zur Treppe zu finden, machte er plötzlich vor einer der Türen Halt und stieß sie auf. Finsternis, und das muffige Aroma von Staub und alten Möbeln schlug ihnen entgegen.
Jarout ließ ihren Arm los, und einige Sekunden später hörte sie ein leises Ratschen und sah die bläuliche Flamme eines Streichholzes. Er zündete eine verrußte Öllampe an, die er Karen brachte. «Hier, bitte halte sie! Ich mach schnell die anderen an.»
Im Nu war das Zimmer in das helle Licht vieler kleiner Kerzen und Lampen getaucht. Von der Decke hing ein Kronleuchter, der entweder so alt war, dass er nicht mit Strom betrieben wurde, oder den er bewusst um der Wirkung willen nicht einschaltete; was sie ihm durchaus zutraute. Zahllose, glitzernde Kristalltropfen brachen das gelbe Kerzenlicht in hunderte kleiner Regenbogen, die über die Wände und Zimmerdecke tanzten. Ein Traum aus Licht und Farbe, wie in ein fremdes Jahrhundert versetzt.
Und als wäre das nicht genug, fand sie sich in einem Schlafzimmer wieder, dessen Einrichtung hervorragend in einen billigen Mantel- und Degenfilm passte, in dem die Schauspieler Korsetts und turmhohe Perücken trugen.
In der Mitte der Wand, gegenüber der Tür, stand ein wuchtiges Bett mit gedrehten Pfosten und üppigen Schnitzereien an Kopf- und Fußteil, und darüber ein hoher Himmel aus schwerem, grünem Tuch. Gleich neben dem Fenster stand ein großer Schrank aus weiß gestrichenem Holz, dessen Türen von gemalten Blättern und Früchten in Gold, Rot und Grün geschmückt waren. Rechts davon sah sie ihr dunkles, verzerrtes Spiegelbild in einem riesigen, goldgerahmten Ankleidespiegel.
Ein niedriger Kamin, umrankt von steinernen Blumengirlanden und ausladendem Dekor, war in die linke Wand eingelassen. Auf seinem schmalen Sims drängten sich liebevoll aufgestellte Schwarz-Weiß-Fotografien in silbernen und goldenen Rahmen zwischen griechischen Vasen, kleinen Schatullen und Kerzenhaltern aus schimmerndem Messing.
Auf der rechten Seite, in Höhe des Bettes, prunkte eine beigefarbene Frisierkommode mit zwei weit ausladenden Flügelspiegeln, die neben den goldenen Rahmen zudem noch rundum mit filigraner Glasmalerei verziert waren. In ihnen wiederholten sich die Motive des Schrankes und des Kamins. Die Tapeten schienen aus richtigem Stoff zu sein. Sie schimmerten wie dunkelgrüne Seide und kunstvoll eingewobene Goldfäden versponnen sich zu hauchzarten Mustern.
Der Prunk dieses Zimmers ließ sie mit offenem Mund staunen. Sie konnte sich absolut nicht vorstellen, dass sie ihr erlaubten, in solch einem Luxus zu wohnen.
«Du sagst ja gar nichts.» Er wanderte um sie herum. «Falls es dir nicht gefällt, kannst du dir auch ein anderes aussuchen.»
Nicht gefallen? Er wusste ja nicht, was er redete. Sie war begeistert. Eine bessere Unterkunft konnte sie sich doch gar nicht wünschen. Hier war alles, was sie brauchte. Er konnte froh sein, wenn sie dieses Zimmer überhaupt jemals wieder verließ.
Und erst das Badezimmer nebenan. Messing und fein gemaserter, roter Marmor und genauso geräumig wie das Schlafzimmer. Kannte der Luxus in diesem Haus denn gar keine Grenzen?
Jarout ging zum Bett und ließ sich rücklings auf die weiche Bettdecke fallen. Er setzte sich wieder auf und klopfte auffordernd mit der flachen Hand auf den freien Platz neben sich.
«Hey, das staubt ja gar nicht!», bemerkte er verwundert. «Komm, leg dich zu mir! Ist sehr gemütlich hier», lud er sie ein, legte den Kopf in den Nacken und schaute versonnen zum Baldachin hoch. Unvermittelt sprang er wieder auf. «Warte!», rief er und stürzte zum Schrank. Er riss beide Türen weit auf und enthüllte ein Meer von Kleidern. Die bunten Stoffe quollen zwischen den dunkleren Tönen von Umhängen und pelzbesetzten Mänteln hervor. Weicher Samt raschelte an zarter Seide und geraffte Spitze über weiches Fell, als Jarout mit beiden Händen daran entlang fuhr.
«Komm, und sieh sie dir an! Das sind die alten Kleider meiner Mutter.» Er zog ein rosafarbenes Rüschenkleid mit weitem Rock, Puffärmeln und einer Taille, die so eng wie für ein zwölfjähriges Kind geschnitten war, hervor.
«Zu ihrer Zeit der letzte Schrei in Paris. Bei der Farbe frage ich mich nur, wessen Schrei.» Er kicherte albern und stopfte es zurück. «Vermutlich hat sie vergessen, was sie hier aufbewahrte, sonst hätte sie dir bestimmt was Neueres gegeben.»
Er zerrte an einem weiteren Bügel und förderte ein schlichtgeschnittenes Kleid aus dunkelroter Seide zutage. «Das gefällt mir», flüsterte er und strich behutsam über die vielen, rund um das weite Dekolleté, und in schmaler Linie bis runter zum Saum aufgestickten Glasperlen, die verführerisch funkelten und glitzerten.
Wollte er etwa, dass sie das anziehen sollte?
Sie wollte protestieren, doch ehe sie sich wehren konnte, zerrte er sie vor den großen Ankleidespiegel, stellte sich hinter sie, schwang das Kleid nach vorn und drückte den seidigen Stoff gegen ihren Oberkörper. Der glänzende Stoff duftete schwach nach Parfüm und dem Holz des Schrankes, in dem es viel zu lange unbeachtet gehangen hatte.
«Was ist denn? Das steht dir fantastisch.»
Das war zu viel. Er brachte sie tatsächlich dazu, sich wie ein kleines Schulmädchen zu fühlen, dessen Prinzessin-, Schloss- und Ballkleidtraum in Erfüllung ging. Das war ja widerlich. Jarout benahm sich, wie auf einer Pyjamaparty oder so was.
Sie fühlte dieselbe Bedrohung wie jedes Mal, wenn ihre Freundin Sarah ihr sagte, sie solle doch etwas aus sich machen. Nichts liebte Sarah so sehr, wie Make-up und ausgeflippte Kleidung, und jedes Mal verfiel sie in einen wahren Kaufrausch, sobald sie eine Parfümerie auch nur von Weitem sah. Karen zog ihrem Spiegelbild eine Grimasse und versuchte Jarout, der drauf und dran war, sie auszustaffieren wie eine Schaufensterpuppe, unter den Armen davon zu schlüpfen.
«Nein, nein, nein, hier geblieben! Zieh es bitte an! Für mich, bitte!» Dabei blitzten seine Augen jungenhaft verschmitzt. «Du wirst einfach wunderhübsch darin aussehen - so wie du bist», sagte er, als habe er ihre Gedanken erraten.
So wie du bist ... ob er das wirklich im Ernst meinte?
«Bitte, bitte!»
«Also gut», erwiderte sie mürrisch, «aber dreh dich gefälligst zur Wand, während ich mich umziehe!»
«Na, was denkst du denn von mir, Karen? Ich bin dein Bruder», grinste er und legte ihr das Kleid in die Arme, «aber wenn du darauf bestehst.»
Ihr Bruder, Himmel ja, das stimmte wohl! Lucas war ihrer beider Vater. Shit, sie war tatsächlich mit diesem eingebildeten Kerl verwandt.
Verstohlen linste sie über die Schulter zu ihm. Wenigstens glotzte er nicht. Hastig zog sie ihren Pullover und die Jeans aus und warf beides auf den Hocker vor dem Spiegel.
Der glatte Seidenstoff fühlte sich großartig an. So kühl und geschmeidig. Gebannt bestaunte sie die funkelnden Perlen und die feine, handgearbeitete Spitze. Mit einem Mal sah sie die Zimmerwände und Konturen der Möbel verschwimmen. Unvermittelt fand sie sich mitten in einem hell erleuchteten Saal wieder. Undeutlich, wie Phantome, rauschten tanzende Paare an ihr vorbei. Überall sah sie prächtige Kostüme und funkelnde Juwelen. Weiß geschminkte Gesichter flogen dicht an ihr vorbei, doch das Lachen aus ihren weit aufgerissenen Mündern klang wie aus weiter Ferne. Schlagartig verschwand all das helle Licht, der schillernde Sternenglanz der funkelnden Kristallleuchter, die lachenden Menschen und wechselte in das Szenario einer nächtliche Straße. Sie konnte den regenfeuchten Schmutz am Straßenrand riechen. Gaslaternen beleuchteten flackernd die grauen Hauswände und aus dem Rinnstein stieg dichter Dunst auf. Mit lauten Stampfen und Rattern dröhnte eine Kutsche so dicht an ihr vorbei, dass sie den Fahrwind auf ihrem Gesicht spürte. Erschrocken machte sie einen Satz nach vorn ... und warf das Kleid auf den Boden.
«Was ist? Bist du fertig?»
Jarout stand immer noch mit dem Gesicht zum Bett und wartete mehr oder weniger geduldig.
«N ... nein, gleich. Augenblick noch!», stammelte sie.
Karen dachte nicht daran, ihm zu verraten, was gerade passiert war. Nicht, weil sie der Meinung war, er glaube ihr nicht, sondern weil sie nicht wollte, dass er auch noch Wind davon bekam, dass sie durch bloßes Anfassen von Gegenständen Informationen über die Person erhielt, die zuletzt damit in Kontakt war. Schlimm genug, dass er über ihre telepathische Begabung Bescheid wusste.
Zaghaft griff sie nach dem Kleid. Sie wartete, doch nichts geschah. Aufatmend hob sie das Kleid auf, raffte es zusammen und kletterte vorsichtig hinein.
Das gerade geschnittene Dekolleté schmiegte sich perfekt an ihre Brust, und auch die schmalen Ärmel passten wie angegossen. Nur der Rock war ein wenig zu lang. Blanche ist doch um einiges größer als ich? überlegte Karen, wohingegen sie selbst etwas breiter war. Wie dem auch sei, sie musste den Saum eben beim Laufen hochraffen, wenn Jarout ihr nicht auch noch Schuhe mit hohen Absätzen aufschwatzte. Ein weiteres Problem stellte das durch Fischbeineinsätze gestützte Mieder dar, das noch aus einer Zeit stammte, als Reißverschlüsse schlichtweg noch nicht erfunden waren.
Stattdessen waren auf der Rückseite hunderte kleiner Haken und Ösen angebracht. Aha, deshalb hattet ihr früher Zimmermädchen, die euch beim Anziehen helfen mussten! dachte sie und drehte und wendete sich in dem hilflosen Versuch, die sturen kleinen Dinger zusammenzubringen. Doch schon stand Jarout hinter ihr.
«Warte, ich helf' dir!», murmelte er und legte seine kühlen Hände auf ihre Schultern.
Im Spiegel konnte sie beobachten, wie er mit konzentriertem Gesichtsausdruck einen Haken nach dem anderen schloss. Zentimeter um Zentimeter wanderten seine nestelnden Finger langsam ihren Rücken hinunter, während sich ihr das weiche Innenfutter des Mieders allmählich enger um Brustkorb und Taille legte.
«So, gleich hab ich's. Passt doch prima, oder?», murmelte er. Jarouts Hände fühlten sich wie Eis an, als er ihr Haar im Nacken teilte und zwei dichte Strähnen zu beiden Seiten über ihre Schulter nach vorn legte und seine Finger kurz die empfindliche Haut an ihrer Kehle streiften. Karen schauderte.
«Ich hab eine Idee!» Jarout lachte leise und tauchte beide Hände übermütig in ihr Haar, raffte die lockigen Strähnen an ihrem Hinterkopf hoch und zupfte verspielt einige Strähnen heraus. «Was hältst du ...»
Für einen Moment hielt er inne. Sein Atem strich warm über ihre Schultern, und als er seine Hand an ihre Wange legte, fuhr sie erschrocken zusammen und schloss die Augen.
«Wunderschön!», flüsterte er und streichelte sanft über ihre linke Wange, wobei seine Finger kaum ihre Haut berührten. Entsetzt spürte sie sein Gesicht, auf der rechten Seite, in der Beuge zwischen Schulter und Hals. Seine Lippen teilten sich und mit der Zunge, rau wie die einer Katze, leckte er genüsslich über ihren klopfenden Puls.
Hör auf damit, Karen! dachte sie verzweifelt. Du darfst nicht ... Was? Was durfte sie nicht? Mit weichen Knien lehnte sie sich zurück und genoss die wohlige Wärme, die ihr vom Bauch aus durch den ganzen Körper strömte, als seine Arme sie umschlangen.
Mit unverhohlener Gier drängte er gegen sie und flüsterte kaum hörbar ihren Namen. Sie wollte sich umdrehen, um seine Umarmung zu erwidern, doch hastig löste er sich von ihr und rannte fluchtartig zur Tür hinaus.
Sie wollte ihm hinterher rufen, ihn aufhalten, doch sie war wie gelähmt von der Kälte des verloren gegangenen Haltes.
Ihr ausdrucksloses Gesicht blickte sie vom Spiegel her an, und was sie dort sah, war ein kleines, dummes Kind, das Erwachsen spielte. Eine Maskerade aus Asche und Staub, die unter der leisesten Berührung unweigerlich zerfallen musste.