~ 3. Kapitel ~
In dem Karen ganz sicher keinen Toten berührt
und stattdessen eine Spur liefert,
mit der keiner gerechnet hat
»Hey«, sagte Jarout, als er ohne anzuklopfen ihr Schlafzimmer betrat. Erschrocken ließ Karen ihren Pullover fallen, als sie seine Stimme hörte. Über die Wanne gebeugt, versuchte sie den Schleim der Besucherin in Laugenwasser zu entfernen.
»Was machst du?«, hörte sie Jarouts Stimme. Ihr klopfte das Herz bis zum Hals. Ihre Knie gaben nach und sie musste sich am Wannenrand festhalten, um nicht hinzufallen. Was um alles in der Welt wollte er hier?
»Verschwinde!«, rief sie mit überschlagender Stimme.
»Warum so unfreundlich? Und wo bist du eigentlich?« Sein Gesicht tauchte in der Badezimmertür auf. »Ach hier. Etwa ein grand malheur auf la toilette?« Er lachte hämisch wie ein gemeiner kleiner Junge, der schadenfroh wie ein Kobold war.
»Nein, ich wasche meine Klamotten«, fauchte sie und zog den tropfenden Pullover aus dem Wasser. »Und ich schwöre dir, wenn du nicht gleich verschwindest, schreie ich das Haus zusammen.« Hektisch begann sie das Kleidungsstück auszuwringen.
»Oh, das ist nett.«
Ungeachtet ihrer Warnung kam er zu ihr und setzte sich auf den Toilettendeckel. Mit amüsiertem Gesichtsausdruck fragte er: »Was ist passiert?«
»Nichts«, fuhr Karen ihn an. Mit einem Blick, der ihn quer durchs Zimmer hätte schleudern können, wenn sie das beabsichtigt hätte, sah sie ihn an.
»Was willst du?« knurrte sie. Als er nicht antwortete, schleuderte sie ihren nassen Pullover so heftig in die Wanne, dass das Wasser über den Rand schwappte. Erschrocken sprang Jarout auf und wich an die Tür zurück.
»Ich frag’ dich noch mal. Und ich rate dir, gut zuzuhören, denn ich wiederhole mich nicht. Was willst du?«
»Verdammt!«, rief er, bestürzt über ihren heftigen Ausbruch. »Was ist denn los mit dir?«
Empört schnappte Karen nach Luft. Fragte er das allen Ernstes?
»Was mit mir los ist, willst du wissen? Hier!« Sie riss den Kragen ihres Pullovers runter und deutete auf die feinen, weißen Striemen an ihrer Kehle. »Siehst du das, du Arschloch? Das ist los mit mir.«
Vor Aufregung keuchend stand sie ihm gegenüber. Dabei sah sie aus, als wolle sie jeden Moment zum Sprung ansetzen. Wobei nicht klar war, ob auf ihn oder in Richtung Fenster.
»Aber, aber, ich ...«, stammelte Jarout hilflos.
»Geh, heuchele deine Unschuldsnummer vor Lucas und Seamus oder wen du noch zu deinem Lieblingspublikum zählst! Bei mir kommst du mit diesem Mist jedenfalls nicht an.«
»Karen«, Jarout hob in beschwichtigender Geste die Hände. »Bitte, hör doch, ich ... ich dachte ...«
»Was?«, fauchte sie entnervt. »Du dachtest, alles wäre in Ordnung? Nur, weil ich mich von Lucas habe überreden lassen, deiner Rückkehr zuzustimmen?« Ein abgehacktes Lachen entfuhr ihrer Kehle. »Oh, bitte. Das habe ich Blanche zuliebe getan. Du dachtest doch wohl nicht, dass ich mein Okay gab, weil ich dich so gern hab, Bruderherz?«
Er senkte den Blick zu Boden und schüttelte den Kopf. Dann sah er wieder auf. Zorn lag in seinem Blick.
»Nein, sicher nicht. Aber schließlich hat dich niemand gezwungen, ja zu sagen.«
Einen quälenden Moment lang herrschte Schweigen. Nur das Plätschern des immer noch aufgewühlten Wassers war zu hören.
»Nein, gezwungen hat mich niemand. Ich war lediglich blöd genug, zu glauben, ich hätte eine Verpflichtung«, antwortete Karen. Jarout sah sie fragend an.
»Lucas sagte, dass er fünf Jahre der Verbannung für eine angemessene Strafe hält und bereit wäre, dir eine Chance zu geben. Einen Befehl muss man nicht unbedingt in klare Worte fassen. Trotzdem kann er unmissverständlich sein«, fuhr sie fort.
Mit einem schweren Seufzen verlor Jarout seine trotzige Haltung.
»Das wusste ich nicht. Ich dachte, er hätte mit dir gesprochen und du wärst wirklich bereit, mir zu verzeihen. Tut mir leid, Karen.« Er atmete tief ein und wischte sich mit beiden Händen übers Gesicht. »Alles, was ich dir angetan habe. Glaub mir oder nicht. Ich kann es nicht ungeschehen und auch nicht wieder gut machen. Dass du vergisst, was war, kann ich auch nicht verlangen. Aber kannst du nicht versuchen, mir zu vergeben?«
»Ha!«, rief sie so laut, dass Jarout erschrocken zusammenfuhr. »Als Mittel zum Zweck hast du mich benutzt. Und als dein hübscher kleiner Plan, Lucas fertigzumachen, nicht funktionierte, hast du deine Wut an mir ausgelassen. Beinahe getötet hast du mich.«
»Ja, was soll ich denn jetzt tun? Kriechen, betteln, vor dir auf die Knie gehen? Sag mir, was willst du? Ich mach’s. Ehrlich«, rief er aus. »Ich weiß doch, was du sagen und welche Anschuldigungen du mir ins Gesicht schleudern willst. Das habe ich alles schon von Lucas gehört. Und glaub mir, er kann das besser als jeder andere.
Fünf Jahre, Karen. Glaubst du nicht, dass ich bitter bereut habe? Kaum ein Tag verging, an dem ich nicht daran dachte. Und nicht nur, weil ich allein auf mich gestellt und einsam war. Nein, weil ich mich selber nicht verstanden habe. Ich habe keine Antwort darauf gefunden, warum ich damals auf dich und Lucas losging. Wenn ich mir vorstelle, dass ich dich dabei fast umgebracht habe, kann ich, kann ich ...«
»Ja, du hast mich beinahe umgebracht. Und nicht nur einmal, sondern wieder und wieder. Jede Nacht. Im Traum, im Wachen. Kannst du dir vorstellen, was für eine Scheißangst ich hatte, dass du eines Nachts auftauchst und der Horror von vorn losgeht?«, schrie Karen halb weinend.
Ihre anfängliche Furcht vor ihm war zu brennendem Zorn geworden. Wie eine Furie schleuderte sie ihn mit einem schnellen, gezielt eingesetzten Gedanken zu Boden. Hart getroffen krachte er mit dem Rücken gegen das Waschbecken. Die Wucht des Aufpralls schmetterte ihn zu Boden, wo er zusammengekauert liegen blieb.
»Wo ist er jetzt, hm? Wo ist der starke Jarout? Ein Scheiß ist er jetzt. Ich habe nämlich gelernt, mich zu wehren. Und darin bin ich besser als jeder andere.«
Aufgebracht stand sie heftig atmend über ihm. »Weißt du, Jarout, die Karen von damals gibt es nicht mehr«, flüsterte sie leise. Sein starrer Bernsteinblick heftete sich an ihren.
»Den Jarout von damals auch nicht«, erwiderte er ungerührt.
»Ich denke, es ist besser, wenn ich ein andermal wiederkomme«, murmelte er und versuchte aufzustehen. Sie ließ ihn unbehelligt und beobachtete, wie er seine Kleider ordnete. Der größte Teil ihrer Wut war in dem Schlag gegen ihn verpufft.
Karens Gedanken suchten böse Erinnerungen und alte Ängste, die seine Anwesenheit zu neuem Leben erweckte. Sie rief sich auch Blanches fürsprechende Worte ins Gedächtnis. Er sei verändert, sagte sie, als Jarout zurückgekehrt war. Er habe bereut und Karen bräuchte nichts zu befürchten. Sie habe wirklich keinen Grund, an seiner Aufrichtigkeit zu zweifeln.
War er wirklich ein anderer? Spiegelte sein Äußeres die innerlichen Veränderungen wider? Sein ehemals schulterlanges, schwarzes Haar war auf zentimeterlange Stoppeln gestutzt und ein schmaler Bart zierte sein Kinn. Sie sah nichts, außer dieser oberflächlichen Wandlung. Versuchte sie in sein Inneres zu blicken, wusste sie, dass sie nicht weit käme. Zu gut war seine Abwehrreaktion trainiert. Und solange Karen nur bis auf das Gewebe seiner Kleider sehen konnte, war sie davon überzeugt, dass er wieder nur sein Spiel mit ihnen allen trieb. Das käme früher oder später ans Licht. Jarout konnte sich nicht lange verstellen. Sie fürchtete, dass auch diesmal Gefahr drohte. Wenn nicht direkt von ihm, so durch eine seiner Handlungen. Alles, was Jarout wollte, war Macht. Er war ein Opportunist. Wandte sich immer seinen Vorteilen zu und hielt sich eine Tür offen. Ob andere dabei zu Schaden kamen, war ihm egal. Und gelang sein Plan nicht, dann wurde er unberechenbar. So war er damals und mit Sicherheit noch heute. Nein, sie glaubte ihm nicht, wenn er behauptete, geläutert zu sein.
Mit gesenktem Haupt ging er ins Schlafzimmer. Eilig folgte sie ihm. Doch sie kam zu spät. Auf dem Weg zur Tür waren ihm die Papierblätter aufgefallen, die verstreut auf dem Bett lagen. Mit neugierig gerecktem Hals blätterte er in den ausgedruckten Internetseiten. Karen war es gelungen, Kontakt zu dem Verfasser des Artikels über den Brand in Bethnal Green aufzunehmen. Sie gab sich einfach als Schülerin aus, die für einen Artikel in der Schulzeitung Informationen suchte.
So erfuhr sie von ihm die genaue Adresse des Gebäudes. In den Datenbanken der Stadtverwaltung fand sie den Namen des Eigentümers und im Telefonbuch auch dessen Adresse. Zwar konnte Jarout wohl kaum etwas mit den Informationen und Fotos anfangen, aber dass er die Unverschämtheit besaß, darin herumzustöbern, trieb sie erneut in Rage.
»Nimm gefälligst deine Drecksfinger von meinen Sachen«, schimpfte sie und stürzte zum Bett. Er schien sie nicht zu bemerken und starrte weiter mit aufgerissenen Augen auf die Seite, die sie ihm aus der Hand gerissen hatte.
»Wie kommst du dazu, in meinen Sachen zu schnüffeln?«
»Das ist doch ... das gibt es einfach nicht«, stotterte er, »wa ... das ist der Kerl. Scheiße, Mann, diese Laus würde ich überall wiedererkennen. Woher hast du die Aufnahme?« Er schnappte nach dem Blatt. Darauf abgebildet war die zehnfache Vergrößerung des Gesichts des Unbekannten, der dem brennenden Haus entkommen war.
»Das geht dich einen feuchten Dreck an«, zischte sie aufgebracht und versuchte wieder nach dem Blatt zu greifen. Doch Jarout hielt es so hoch, dass sie nicht herankam.
»Hast du nicht gehört? Das ist der Kerl, der Serena gestern den Brief gebracht hat«, rief Jarout aufgeregt. »Das ist der Typ, den Colin schon seit ein paar Wochen im Auge hat, Karen.«
»Ach«, antwortete sie verächtlich. »Was für ein Zufall. Du spinnst ja und jetzt gib mir das Foto zurück!«
»Ich spinne nicht. Das ist er. Ich bin mir hundertprozentig sicher«, beharrte Jarout. Karen stutzte. Konnte das denn möglich sein? Sie schüttelte den Kopf. Unsinn. Jarout dachte sich nur etwas aus, um sich einzuschmeicheln und wichtig zu machen. Allerdings schien seine Aufregung echt. Genauso wie sein überraschtes Gesicht. Doch sie wusste, dass er ein guter Schauspieler sein konnte, wenn er etwas erreichen wollte.
»Verdammt, Karen, du bist großartig, weißt du das? Es scheint, als wärst du ein Magnet für verrückte Zufälle – so wie damals, als ich dich gefunden habe. Das war auch unglaublich, oder?«, sprudelte er heraus. Erschrocken verstummte er und sah sie an. So wie damals, als ich dich gefunden habe ..., hallten seine Worte in ihrem Kopf nach. Das war allerdings ein Zufall. Alles, was danach kam, war geplant. Um Lucas zu stürzen, hätte er ohne Weiteres ihr Leben geopfert. Und das sollte sie so einfach vergessen?
Bildete er sich etwa ein, dass sie ihm verzieh, wenn er sich nur brav entschuldigte? Glaubte er wirklich, dass die Zeit alles heilt? Mit aufeinander gepressten Lippen fixierte sie seinen Blick. »Karen, wie wär’s mit Waffenstillstand? Und bevor du wieder ausrastest, lass mich bitte ausreden«, bat er mit flehentlichem Gesichtsausdruck.
Als sie nichts sagte, nahm er ihr Schweigen als Aufforderung.
»Dieser ... Zufall ... vielleicht können wir ihn dazu nutzen, Frieden zu schließen.«
Noch immer sagte sie nichts. Ihr fortwährendes Schweigen irritierte Jarout. Karens dunkle Augen schienen ihm direkt in die Seele zu blicken. Sie ängstigte ihn. Beinahe hielt er seine Worte selber für eine Lüge. Sie brachte ihn tatsächlich dazu, sich wie ein Betrüger zu fühlen. Und war er das nicht auch? Noch immer gab es ein Geheimnis, das er niemandem verraten hatte. Und er würde es auch niemandem verraten. Unter gar keinen Umständen durfte Karen erfahren, dass er ihren Stiefvater getötet hatte, dass er Peters Leben genommen hatte – verstohlen, gierig, wie ein kleiner Junge, der, verzaubert von dem verführerischen Anblick, behext von der unwiderstehlichen Gelegenheit, Bonbons stiehlt.
Das würde Karen ihm niemals verzeihen. Schlimmer noch, sie würde ihn umbringen und wenn sie selber dabei draufging.
Was um alles in der Welt hatte er hier zu suchen? Hatte er allen Ernstes angenommen, ihr Vertrauen, ihre Vergebung zu erlangen? Er konnte keine Sekunde länger bleiben. Ihr Schweigen war mehr als er ertragen konnte. Gerade wollte er sich umdrehen und ohne ein weiteres Wort das Zimmer verlassen, da entspannte sich Karens Körperhaltung und ihr Blick wurde milder.
»Also gut«, sagte sie. »Du sagst, der Mann auf dem Foto ist der, den ihr sucht. So weit so gut. Ich werde Lucas sagen, was ich herausgefunden habe. Ich werde ihm sogar sagen, dass du mir dabei geholfen hast.« Ihre Augen verengten sich zu Schlitzen. »Im Gegenzug wirst du dafür sorgen, dass ich euch begleite, wenn ihr wieder nach London geht. Und zwar, um den Hausbesitzer aufzusuchen und ihm ein paar Fragen zu stellen.« Karen hob warnend die Hand. »Egal, was du jetzt denkst, glaub nicht, dass ich dich auch nur einen Moment lang aus den Augen lasse. Glaub mir, wenn du meine Bedingungen nicht erfüllst, wirst du das bereuen, verstanden!«
Er nickte artig. Dass sie einen Weg fand, um ihm das Leben schwer zu machen, glaubte er aufs Wort. Zwar konnte er sich nicht vorstellen, wie sie das anstellen wollte, aber zu diesem Zeitpunkt mochte er nicht riskieren, das herauszufinden. Seine Position hier war noch nicht sicher und Lucas zögerte bestimmt nicht, ihn beim kleinsten Vergehen wieder an die Luft zu setzen.
»Gut«, sagte Karen und machte sich daran, die durcheinander liegenden Blätter aufzunehmen. »Diesmal läuft das alte ›eine-Hand-wäscht-die-andere‹ Spiel zu meinen Bedingungen. Und glaub mir, ich bin mehr als versessen darauf, was von deiner Seife abzubekommen.«
Er folgte ihr hinaus auf den dämmrig beleuchteten Flur. Sorgsam schloss Karen die Tür hinter ihnen und ging ihm voran durch die verwinkelten Gänge, zur Treppe.