~ 3. Kapitel ~
In dem man zu Abend isst
und Belangloses berichtet wird
Das Abendessen zu Calmans Begrüßung fand im Salon des Hauses statt. Im Kamin neben dem Esstisch prasselte ein hell loderndes Feuer und rief vorschriftsmäßig ein Gefühl von Heimeligkeit hervor. Acht Lampen vergossen pastellfarbenes Licht auf die überladene Einrichtung des weitläufigen Zimmers. Blanche hatte wie immer ein üppiges Essen vorbereitet und bot die perfekte Darstellung der virtuosen Gastgeberin. Darin war sie unschlagbar. Doch die drückende Spannung, die über der festlich gedeckten Tafel lag, war nur allzu deutlich spürbar. Karen fühlte sich wie statisch aufgeladen. Unbehagen lag in den oberflächlichen Gesten und Worten der anwesenden Hirudo. Gehaltloses, kaum zu ertragendes Geschwätz war die Folge.
Vorsichtig ließ Karen ihre Gedanken von einem zum anderen wandern. Verstohlen tastete sie nach unverhüllten Worten und Blicken, doch sie alle waren entweder zu bedacht oder ebenso unwissend wie sie selber.
Am Kopf der Tafel saß Lucas, das Oberhaupt der Familie, zu der sich acht Vampire der Rasse Hirudo zusammengeschlossen hatten.
Rechts von Lucas saß Blanche, seine Gefährtin. Die Ähnlichkeit zwischen der Frau an Lucas Seite und Karens leiblicher Mutter Aimee, die starb, als Karen neunzehn Jahre alt war, war verblüffend.
Doch sämtliche Ähnlichkeit beschränkte sich auf reine Äußerlichkeit. Sie besaß dieselben dunklen Augen wie Karens Mutter und ebenfalls das schwarze, lockige Haar, welches sie sorgfältig in einer kunstvollen Hochfrisur zähmte. Doch im Gegensatz zu Aimee verströmte Blanche offene Warmherzigkeit. Dafür war Karens Mutter viel zu verbittert. Sie misstraute den Menschen und noch mehr dem Glück. Auch fehlte ihr Blanches laszive Eleganz, mit der jene überzeugend ihren Rang als Hausherrin bestätigte. Im Gegensatz zu ihr war Aimees südländische Erscheinung nichts weiter als hübsch. Blanche jedoch war hinreißend schön.
Blanche gegenüber saß Denis, ihr Sohn. Die blonden Haare trug er zu einem losen Zopf gebunden. Seine opalblauen Augen hinter gesenkten Lidern verborgen, schien er mit angezogenen Schultern im Polster seines Stuhls verschwinden zu wollen. Ein beinahe dreihundert Jahre alter Hirudo mit dem Gemüt eines sanften Kindes. Auch er schien sich heute Abend alles andere als wohlzufühlen. Was jedoch nicht zwangsläufig etwas Ungewöhnliches bedeuten musste. Denis fühlte sich grundsätzlich unbehaglich in Gesellschaft.
Denis und Blanche bewohnten das Haus lange Zeit, bevor Lucas das Erbe seines Erzeugers Golan antrat. Mit ihnen zusammen lebten hier Seamus und dessen Frau Galina.
Seamus war zuvor schon Golans Vertrauter und unterwies später Karens Vater in allem, was ihm half, in seiner neuen Existenz zu überleben. Karen fiel auf, dass der grauhaarige, schmalgliedrige Hirudo seinen angestammten Platz am Fußende der Tafel Arweth überlassen hatte. Nach allem, was sie über Arweth, den groß gewachsenen Mann mit den roten Augen und schneeweißen Haaren wusste, genoss er immense Autorität unter den Hirudo. Seamus Zugeständnis zollte offenbar Arweths Macht über die Hirudo Respekt. Dass Arweth jedoch am Fuß und nicht am Kopf des Tisches Platz genommen hatte, bedeutete zugleich, dass immer noch Lucas derjenige war, der innerhalb der Familie uneingeschränkte Macht ausübte.
Karen fiel es schon immer schwer, das komplizierte Hierarchiedenken der Hirudo zu verstehen. Mal galt das Alter mehr als die Abstammung. Dann wieder zählte die Vielfalt an Talenten über die ein Vampir verfügte mehr als seine Blutlinie.
Eines allerdings begriff sie ohne große Schwierigkeiten. Nämlich, dass ihr Vater von den Jüngeren wie Älteren ausnahmslos respektiert wurde. Und das, obwohl er seit kaum fünfundzwanzig Jahren als Hirudo lebte. Lucas war jünger als Arweth oder Calman. Dennoch wog sein Wort eben soviel wie das ihre.
Sogar Beryl und Eliane nahmen sich in acht, Lucas zu verärgern. Verstohlen linste Karen zu den Schwestern. Beryl und Eliane. Über ihre Herkunft war kaum etwas bekannt. Niemand schien zu wissen, woher sie kamen oder wie alt sie wirklich waren. Auch sie waren lange Zeit vor Lucas hierher gekommen und nutzten das Haus seitdem als mehr oder weniger freiwillige Zuflucht. Außerhalb dieser Mauern waren sie aufgrund ihres Äußeren sehr viel ungeschützter als andere ihrer Art. Einem »normalen« Hirudo sahen die Menschen seine Andersartigkeit nur selten an. Beryl und Eliane hingegen waren kaum zu übersehen. Ihren Rücken entwuchsen auf Höhe der Schulterblätter je ein ledernes Flügelpaar, das sie nur sehr dürftig unter weiter Kleidung verstecken konnten. Außer zur Karnevalszeit konnten sie sich so nicht in die Öffentlichkeit wagen. Karen unterdrückte ein gemeines Grinsen.
Schnell wandte sie den Blick von ihnen und schaute zu Jarout hinüber. Vor zweiundzwanzig Jahren machte er als Lucas Sohn die Familie komplett. Dass er zugleich auch Karens Zwilling war, sah man ihm nicht im Mindesten an. Und so sehr sie sich äußerlich unterschieden, so andersartig waren sie auch in ihrem Wesen. Karen fragte sich manchmal, ob aus Jarout vielleicht ein wirklich netter Mensch geworden wäre, hätte er seine Kindheit nicht bei den Hirudo verbracht, sondern wäre wie Karen, bei ihrer Mutter aufgewachsen. Aber statt dessen hatte Lucas ihn als Säugling aus England geholt und hierher gebracht. Damals ließ Lucas Karen zurück, ohne zu wagen, jemals Kontakt mit ihr aufzunehmen. Er fürchtete, Aimee zu sehr zu verletzen, wenn er ihr beide Kinder nahm. Später glaubte er, Karen habe ihn vergessen. Ein weiterer Grund war seine Furcht vor ihrer Zurückweisung. Dass Karen sich jedoch nichts sehnlicher wünschte, als Lucas zu finden und bei ihm zu sein, davon ahnte er nichts und konnte sich das vermutlich nicht einmal vorstellen.
Jarout war derjenige, der durch einen echten Zufall von Karens Suche nach ihrem leiblichen Vater erfuhr und sie zu ihm führte. Er verfolgte damals seine ureigensten Ziele und führte Vater und Tochter keineswegs aus reiner Nächstenliebe zusammen. Karens Existenz bewies, dass Lucas erst seit wenigen Jahren ein Hirudo sein konnte. Seit ihrer Zeugung nämlich, da Hirudo im herkömmlichen Sinne unfruchtbar waren. Somit war bewiesen, dass Lucas weit jünger als die meisten anderen Vampire und ihrer Tradition gemäß nicht berechtigt war, die Familie und die Hirudo im Namen der letzten Ältesten zu führen. Er war zu jung und verdiente diese Ehre nicht. Jarouts Ziel war es gewesen, Lucas seiner Position zu entheben, ihn zu entehren und zu demütigen. Doch Jarouts Plan ging nicht auf. Er enthüllte der Familie, dass Lucas Lebensspanne nicht wie vorgeblich viele hundert Jahre zählte, sondern er erst vor kaum dreißig Jahren gezeugt worden war. Ein Geheimnis, um das alle seit Langem wussten. Der Dumme war Jarout.
Unfähig, diese größte aller Demütigungen zu ertragen, stürzte er sich erst auf Lucas und dann auf Karen. Er hatte versucht sie beide zu töten, was ihm gottlob nicht gelungen war. Zur Strafe dafür verbannten ihn die Hirudo. Er ging nach London und blieb jahrelang verschwunden. Doch jetzt war er zurück. Ihm war vergeben. Seine ehrlich scheinende Reue und das aufrichtige Versprechen, von nun an loyal zu sein, hatte die Familie überzeugt, Jarout wieder aufzunehmen. Mit der Warnung, dass eine weitere Verfehlung dieser Art seinen unweigerlichen Tod bedeutete, verziehen sie ihm.
Aber nicht nur Jarout stand vor der schweren Aufgabe, sich zu bewähren. Seit fünf Jahren lebte Karen nun schon im Haus der Familie und fühlte sich immer noch als fremde Beobachterin und nur in seltenen Momenten als Mitglied. Fünf Jahre, in denen sie versucht hatte, den Respekt und das Vertrauen der Familie zu erlangen. Auch wenn Lucas ihr Vater war, so war sie dennoch keine von ihnen. Sie war eine Sterbliche und so wurde sie auch behandelt.
Zwar weihten Calman und Denis sie in vieles ein, doch Entscheidendes wurde strikt zurückgehalten. Auch heute Abend war sie sicher, dass die Hirudo etwas vor ihr verbargen. Besonders Arweth, Lucas und Calman, schienen schrecklich bemüht, ihre innere Anspannung zu überspielen.
Calman und Arweth waren im Abstand von nur zwei Tagen eingetroffen. Das konnte kein Zufall sein. Zwei Hirudo der ersten Generation fanden sich nicht ohne besonderen Anlass im Haus der Familie ein. Diese heimlich warnenden Blicke, ihre hastigen, übertrieben freundlichen Worte waren eine einzige Farce. Und dann Jarout, der seinen beißenden Zynismus nicht ein einziges Mal anbrachte. Das, kombiniert mit dem Besuch der beiden Alten, konnte nur bedeuten, dass die Angelegenheit tatsächlich ernst war. Ernst genug jedenfalls, um ihren arroganten, spitzzüngigen Bruder zum Schweigen zu bringen.
Bei seinem Anblick schauderte sie. Noch immer verspürte sie in seiner unmittelbaren Gegenwart einen scharfen Stich tief in ihrem Inneren. Ihre Gefühle für Jarout waren gespalten und ließen sich nicht Einklang bringen. Zum einen wollte sie ihm vergeben. Das wäre großherzig und die einzige Möglichkeit, Frieden zu schließen. Frieden, auch und vor allem mit sich selbst. Dann wieder wünschte sie, sie müsste nicht in sein blasiertes Gesicht sehen und sich nicht sein überhebliches Geschwafel anhören.
Die Familie hatte ihr gegenüber großen Respekt erwiesen, als sie sie in die Entscheidung über Jarouts Rückkehr einbezog. Damals bot sich ihr die Chance, abzulehnen. Sie hätte sagen können, was sie wirklich fühlte. Doch anstatt zuzugeben, dass der Schmerz, den er ihr zugefügt hatte, immer noch lebendig war, zog sie sich feige zurück. Statt zu sagen, dass ihre Angst sie immer noch in ihren Träumen heimsuchte, fühlte sie sich für das Glück anderer verantwortlich. Jarout war Lucas Sohn. Blanche liebte ihn wie ihr eigenes Kind und er war lange vor Karen Teil dieser Familie. Wie konnte sie da wagen, ihrer Bitte Widerstand zu leisten? Und doch hätte sie genau das tun sollen. Dann bräuchte sie jetzt nicht gegen aufsteigende Übelkeit kämpfen.
Seine Augen glühten bernsteinfarben im Widerschein des Feuers. Die schmalen Lippen zu einem undefinierbaren Lächeln verzogen, blickte er sie stumm an. Schnell wandte sie den Blick ab. Wollte er sie provozieren? Sie an jene Nacht vor fünf Jahren erinnern. Damals schlug sein Plan, Lucas als Familienoberhaupt absetzen, fehl. Gab er Karen die Schuld daran, dass die Familie ihn verbannt hatte? Denkbar wäre das. Obwohl er Lucas und sie angegriffen hatte, was sie beinahe das Leben gekostet hatte. Er war derjenige, der diesen schrecklichen Fehler begangen hatte. Karen war sicher, dass ihr Bruder sich trotz allem keiner Schuld bewusst war und nicht eine seiner Handlungen bereute. Und dennoch zeigte sie sich einverstanden, als die anderen ihn wieder aufnahmen. Sie könnte sich dafür ohrfeigen. Oh, du heile bunte Welt, dachte sie bitter. Was sind wir doch allesamt so hervorragende Schauspieler. Zum Kotzen.
Blanche reichte Filet, bunte Salatplatten, Kartöffelchen und mit würzigen Beilagen gefüllte Schüsseln. Sie lächelte freundlich in alle Richtungen und versprühte Charme wie ein aufdringliches Parfum. Gib doch bitte weiter, Arweth, nimm dir noch, Denis, du isst so wenig, Calman, sei nicht so bescheiden, kein Fleisch Seam, ach, nimm doch ein kleines Stück, es ist köstlich ...
Das ist ja zum Heulen, dachte Karen. Sie alle benehmen sich absolut lächerlich.
Beryl und Elianes Teller waren wie immer aufgelegt und wie immer leer. Und doch blieben sie wie artige Kinder davor sitzen und blinzelten übellaunig in die Runde. Sie weigerten sich, menschliche Nahrung zu sich zu nehmen. Karen vermutete, dass die anderen mittels der Speisen entweder sentimental ihrer eigenen vergangenen Menschlichkeit gedachten oder darin eine willkommene Abwechslung sahen. Angewiesen war, außer Karen, jedenfalls keiner von ihnen auf diese Nahrung. Ja, sie enthielt nicht einmal verwertbare Energie. Die gewannen sie nur aus dem Blut Sterblicher.
Beitragslos lauschten alle Lucas und Arweths Gespräch. Angeregt diskutierten sie die Vor- und Nachteile der politischen Entwicklung in Deutschland und kamen dabei einvernehmlich zu der Übereinkunft, dass sie der Wirtschaft nur schade und unnötige finanzielle Verluste brachte. Aha, sehr interessant. Aber die Rohölpreise, also nein, völlig unmöglich.
Das Wetter wurde schlechter. Vielleicht kämen wieder Lawinen herunter, meinte Blanche und Beryl und Eliane zeigten darauf eine Reaktion, indem sie erfreute Blicke tauschten. Keine Frage, sie freuten sich immer über leichte Beute.
»Ganz sicher nicht«, wandte Seamus ein. »Es wird tauen. Schon bald. Bestimmt. Wir hatten Vollmond und nach Vollmond gibt es immer Niederschlag oder die Temperaturen fallen.«
»Also, wenn ihr mich fragt, ertrage ich dieses Wetter nicht mehr lange«, nuschelte Jarout zwischen zwei Bissen und griff energisch nach seinem Glas.
»Sei nicht albern. Schließlich kannst du jederzeit woanders hin.«
Was Seamus sagte, stimmte. Jarout brauchte nur in einen Spiegel schlüpfen und konnte so an jeden beliebigen Ort gelangen. Schneller als mit jedem anderen Transportmittel überwand er in den Spiegeln selbst weite Strecken. Jarout schnaubte verächtlich. Wie immer, wenn ihm keine passende Antwort einfiel.
Das Wetter, das beliebteste Thema des Erdenbürgers. Jaja, von ihm hängen Stimmung, Ernte und Verkehrslage ab und es speist den unerschöpflichen Vorrat an absoluter Belanglosigkeit in jeder Tischkonversation. Jetzt fehlte wirklich nur noch ... »Das Essen ist hervorragend, Blanche.« Da war es. Arweth gab jenen Kommentar, nach dem dieser Abend verlangte.
Karen bewegte heimlich die Lippen zu der obligatorischen Floskel, mit der Blanche das Kompliment erwiderte. Dann wieder Arweth, der darauf bestand, dass dieses Essen tatsächlich das Beste sei, was er seit Langem gegessen habe. Und so weiter und so weiter, bis man schließlich zu den verschiedenen Zubereitungsarten für frisch gefangenem Lobster kam und wie sich die Vorlieben über die Epochen doch veränderten.
Ja, Blanche bereitete ihn natürlich französisch zu, aber bei den Krebsen hielt sie sich ganz an die New Orleans Art. Und dann erst die Köstlichkeiten der hiesigen Gegend. Schweizer aßen ja sooo delikate Gerichte. Rustikal, aber köstlich.
Aber was willst du, Karen? fragte sie sich. Eigentlich ist alles wie jeden Abend. Nur du bist anders, weil du denkst, dass irgendwas nicht stimmt.
Ihre Ungeduld wuchs mit jeder Minute. Doch im Moment blieb ihr wohl kaum etwas Anderes übrig, als Arweth und Lucas Plauderei über lukrative Firmenaktien und der geplanten Investition in ein Objekt im Osten Deutschlands zu lauschen.
Doch sie schwor herauszubekommen, was hier vor sich ging.