~ 5. Kapitel ~
In dem Dorian Prior ein Paket aufgibt
Die Versuchung, Serena in seine Pläne einzuweihen, war groß. Der Gedanke, jemanden teilhaben zu lassen, war verführerisch und sie war so verständnisvoll. Und sie war bereit. Serena war bereit, sich führen zu lassen und ihm zu vertrauen. Wie eine gehorsame Novizin nahm sie jedes seiner Worte wie Weltengeheiß auf. Sie saßen beisammen in einem der Zimmer im unteren Stockwerk des Hauses. Der Raum war wie ihre Schlafstätten nur karg eingerichtet. Doch die gemusterten Polstermöbel und ein Tisch, auf dem ein fünfarmiger, silberner Kerzenhalter stand, vermittelten eine gewisse Wohnlichkeit.
In dem warmen Licht der blauen Schirmlampe leuchteten Serenas blassblaue Augen so erwartungsvoll und ehrfürchtig wie die eines kleinen Kindes am Weihnachtsabend. Auf ihrem Gesicht zeigten sich noch Spuren ihrer Jagd. Über die weichen Wangen zog ein rosiger Schimmer und ihre Haut war warm, als er sanft darüber strich. Aber natürlich gab er diesem flüchtigen Anflug von Verbundenheit, die er zu ihr empfand, nicht nach. Das war viel zu riskant. Schließlich war er klug genug, um zu wissen, dass sie jederzeit ihre Hexenkräfte benutzen konnte, um ihn einzulullen. Vielleicht verursachte ihre Schwarze Kunst seine Zuneigung. Aber nein, dachte er mild. Sie war viel zu verwirrt. Voller Zufriedenheit betrachtete er ihr nachdenkliches Gesicht und hörte sie sagen: »Und du glaubst wirklich, er ist jetzt schon bei ihnen im Haus?«
Dorian Prior nickte. »Sie werden ihn für mich halten, denn er hat ein besonderes Talent. Er kann sein Aussehen verwandeln. Sie denken, ich, Arweth, spreche zu ihnen, lache mit ihnen. Dabei spioniert Prior sie aus. Für Maratos.« Er versuchte in den Namen des Königs von Melacar, die größte Verachtung zu legen und dennoch genügend Schmerz einfließen zu lassen. Schließlich ist Arweth Maratos‘ Sohn. Und sein eigener Vater zwang seinen Sohn, ihn zu hassen.
Dessen Emotionen nachzufühlen und sie in sein Schauspiel einzufügen, fiel Dorian Prior nicht schwer. Seine eigenen Gefühle für diesen Dämon waren durchaus nicht liebevoll. Maratos war ihm ein Lehrer gewesen und er rettete sein Leben. Doch verfügte er ganz gewiss nicht über die Tugenden eines Gönners. Maratos war herrschsüchtig und eitel. Er war durch und durch verabscheuungswürdig in all seinem Tun. In jeder Intention seines Handelns ein wahrer Höllenfürst. Satan selbst könnte nicht schrecklicher und grausamer sein als Maratos von Melacar.
»Ich werde jetzt gehen«, verkündete er unvermittelt und stand auf.
»Du bleibst hier und wartest, bis ich zurück bin. Es dauert nicht lange.«
Und ehe sie protestieren konnte, war er aus dem Zimmer. Dass er nicht lange fort sein würde, war gelogen. Doch er war sicher, dass Serena nicht wagte, das Haus ohne seine Erlaubnis zu verlassen. Von einer Telefonzelle rief er ein Taxi, mit dem er nach Köln fuhr. Leider sah er keine unkompliziertere Möglichkeit, den nächsten Schritt in seinem Spiel zu tun. Er musste das Päckchen selber aufgeben und konnte nicht warten, bis einer dieser vierundzwanzig Stunden Dienste es abholen kam.
Erfreulich, dass diese wirre Zeit auch einige ausgesprochen gute Neuerungen bot. So konnte er bis auf die Minute genau planen. Wenn er die Sendung heute aufgab und als Express verschickte, war auf die Stunde genau zu bestimmen, wann das Päckchen seinen Bestimmungsort erreichte.
Und wenn alles gut läuft, dann erreicht mein kleines Geschenk seinen neuen Besitzer heute genau bei Sonnenaufgang, dachte er zufrieden lächelnd. Kurz bevor sie sich schlafen legen müssen. Das war perfekt. Arweths Träume für den morgigen Tag werden sein wie meine während der letzten Jahrhunderte. Quälend, ohnmächtig. Die perfekte Vorbereitung auf das Kommende.
Diese Aktion kostete ihn ein kleines Vermögen, aber das war der Spaß wert. Bildhaft stellte er sich das Gesicht des Empfängers vor, wenn er den kleinen Karton öffnete und dessen Inhalt vorsichtig unter das warme Licht einer Stehlampe oder einer Kerze hielt.
Wenn er dann erkennt, wenn er sich erinnert ... Oh ja, das ist es, dachte er frohlockend. Genau das ist es.
Der Taxifahrer warf einen verdutzten Blick in den Rückspiegel, als sein seltsamer Fahrgast laut herauslachte. Doch ihn zu fragen, was denn so verdammt komisch sei, wagte er nicht. Gewöhnlich war er nicht zurückhaltend und unterhielt sich gern mit seinen Kunden. In diesem Fall jedoch sagte ihm sein Instinkt, dass der weiße Mann mit den roten Augen nicht belästigt werden wollte.