~ 8. Kapitel ~
In dem ein Auserwählter
seine Bestimmung erkennt
Keuchend hastete Turner durch den unbeleuchteten Hinterhof. Den ganzen Weg nach Islington zu seinem Mietshaus war er gerannt. Nur bekleidet mit dem dünnen Krankenhaushemd fror er erbärmlich und die Haut prickelte ihm noch vom kalten Wind, der durch Londons Straßen fegte.
Doch das bisschen Frieren war belanglos. Selig lauschte er der Stimme seines Freundes, die Wort um Wort seine Erinnerung weckte. Er wusste jetzt wieder was geschehen und dass er nicht verrückt war. Er war der Wächter des GESCHÜTZTEN gewesen und jetzt sollte er SEINEN Platz einnehmen. Er sollte so werden wie ER. Endlich erhielt er den gerechten Lohn für seine Dienste. Berauscht erfuhr er die Hochstimmung, die er fühlte, als er ungesehen durch die Straßen lief. Vorbei an Menschen, die ihn nicht einmal als Schemen wahrnahmen. Freudetrunken genoss er das Gefühl von Macht und Unsterblichkeit. Niemand konnte ihm jetzt noch das Geringste anhaben. Er war unbesiegbar, allmächtig, er war ... irritiert. Jemand war hier gewesen. Die vordere Haustür war eingetreten und hing lose in den Angeln. Himmel, falls jemand hier eingebrochen hat, war dieser jemand womöglich im Keller gewesen und hatte den Schrein entdeckt.
Hastig zerrte er die Kellertür auf und starrte in die Finsternis des Kellers hinunter. »Gott«, flüsterte er mit rauer Stimme.
Stolpernd eilte er die Treppe hinab. Hier unten fand er seinen Weg ganz ohne Licht, so gut erinnerte er sich wieder an jedes Detail, jeden Winkel und jede noch so geringe Kleinigkeit. Mühelos fand er dann auch die Lampe, die er jeden Morgen so sorgfältig aufgefüllt und angezündet hatte. Und natürlich fand er auch das Feuerzeug, das er gestern erfolglos in seiner Wohnung gesucht hatte. Bläuliche Funken stoben, als er zweimal vergeblich das kleine Rädchen mit dem Daumen drehte. Doch dann sprang die kleine, gelbe Flamme brav an und er hielt sie an den verkohlten Docht der Lampe.
Sogleich ergoss sich goldenes Licht in die Dunkelheit. Die zitternde Flamme warf ein groteskes Schattengespinst gegen die feuchten Kellerwände. Erleichtert sah Turner, dass nichts verändert war. Sein Stuhl stand noch an derselben Stelle, vermodernde Pappkartons stapelten sich an der rechten Wand und das leise Kratzen zierlicher Beinchen verriet ihm, dass auch wirklich alles beim Alten war. Er kicherte leise. Kleiner Imbiss gefällig, dachte er.
»Nein«, sagte er in gedehnt französischem Akzent. »Wir bevorzugen von ‘eute an nur noch la lecker cuisine.« Sein Blick wanderte zur Tür des Schreins, SEINEM Ruheort. Sie schwang auf, wie um ihn einzuladen. »Jetzt mach schon, geh rein!«, fauchte die Stimme seines Begleiters.
»Ich geh ja schon. Nur nicht drängeln.«
Zögernd trat er einen Schritt voran. Sein Herz klopfte laut vor Aufregung. Nie zuvor hatte er gewagt, den Schrein allein zu betreten. ER hätte das nie geduldet. Doch er musste seinem Freund gehorchen. Das schuldete er ihm, verdankte er ihm doch alles, zu dem er geworden war. Turner schluckte mit trockener Kehle. Die Lampe zitterte in seinen bebenden, schweißnassen Händen. Er packte sie fester, damit sie ihm nicht aus den feuchten Fingern rutschte. Allen Mut zusammennehmend, betrat er mit angehaltenem Atem SEIN Heiligtum. Ein erleichtertes Schluchzen entfuhr seiner Kehle, als er sah, dass das Bett noch da war und auch der kleine, hölzerne Altar, auf dem ER die wertvollsten seiner Besitztümer aufgebahrt hatte. »Trödel nicht und tu, was ich dir gesagt habe!«
»Ja, doch, ja«, murmelte Turner und huschte eilfertig zu der verlassenen Lagerstatt. Mit fliegenden Fingern tastete er unter der weichen Matratze nach dem Messer, von dem sein Begleiter auf dem Weg hierher erzählt hatte.
»Au!« Erschrocken zog er seine Hand vor und schob sich den blutenden Finger in den Mund. Er hatte sich an der scharfen Klinge geschnitten.
»Sehr gut, und das machst du jetzt bitte der Länge nach mit deinem Arm«, frohlockte die leise Stimme. Schockiert fuhr Turner herum, vergeblich einen flehentlichen Blick aus glasigen Augen ins Leere schickend. »Halt die Klappe und tu’s einfach!«, schnauzte sein Gefährte, fuhr jedoch mit einschmeichelndem Tonfall fort: »Auch Götter müssen manchmal Opfer bringen, um wahrhaftige Macht zu erlangen.«
»Oh ja, du hast recht. Und ich bin doch dann ...«
»Ein Gott, aber sicher. Natürlich bist du das«, kam die Antwort, gefolgt von einem seltsam rauen Lachen, das Turner aus unbestimmtem Grund nicht recht gefallen wollte. Doch er gehorchte, stellte die Petroleumlampe auf dem Boden ab, nahm das Messer zur Hand und legte das kleine Amulett, das er um den Hals trug auf die Altarplatte. ER hatte ihm dieses hübsche Magieding geschenkt, als ER ihn ausgewählt hatte, SEIN Wächter zu sein. Mein Blut wird alle Macht daraus auf mich übertragen, dachte er und schluckte hart. Das zumindest hatte sein Freund gesagt.
Trotzdem fürchtete Turner den Schmerz. Doch seine noch größere Angst vor dem Zorn seines Begleiters ließ ihn seine Furcht überwinden. Entschlossen setzte er die scharfe Klinge an und drückte die Spitze leicht in seine Haut.
»Stärker, los, stich zu!«
Ich trau’ mich nicht, wimmerte Turner in Gedanken.
»Du verfluchter Feigling. Was ist, willst du sein wie ER oder nicht?«
Es wird wehtun, jammerte Turner.
»Ja und? Das bisschen Schmerz. Was ist das schon gegen das, was dich erwartet?«
Turner musste nicht lange überlegen. Sein Freund hatte vollkommen recht. Seit er mit Prior zusammen war, wollte er sein wie ER. Was war da ein kleiner Schnitt, etwas Blut, ein wenig Schmerz gegen unendliche Macht?
»Nichts«, sagte er laut und zog laut keuchend die Klinge über seinen Unterarm bis zum Ellbogen hinauf. Weiße Haut klaffte auseinander und schwarzrotes Blut quoll in dickem Strom aus der tiefen Wunde. »Jetzt sprich die Worte«, kreischte die Stimme aufgebracht. »Selim na hirus, to jah gevar. Sag es, sag es, mach!«
»Se... Selim na hi... Selim na hirus«, stotterte Turner, der den Blick nicht von seinem blutüberströmten Arm abwenden konnte. Wie versteinert vor Entsetzen beobachtete er, wie sein Blut auf den Altar und das Amulett rann, das wie eine silbern leuchtende Insel in der warmen, rot glänzenden Flut versank.
»To jah gevar«, drängte die Stimme. »Das kann doch nicht so schwer sein.«
»To jah jevar.«
»Gevar, du Idiot. Es heißt To jah gevar. Und jetzt sag es!«
Sein Begleiter klang rasend, hysterisch geradezu. Beinahe glaubte Turner, unsichtbare Finger zu spüren, die sich hart in seine Schultern krallten. Doch das war unmöglich, schließlich war sein Freund nur eine Stimme und körperlos. Dennoch konnte Turner das Gefühl, brutal kontrolliert zu werden, nicht abstreifen. Etwas in ihm wollte protestieren. Eine feine, kaum wahrnehmbare Stimme wisperte aus weit entfernter Tiefe, er solle den Mund halten. Doch viel zu schwach, viel zu ungeübt war diese seine eigene Stimme, als dass sie bis an die Oberfläche seines Bewusstseins hätte durchdringen und ihn zurückhalten können.
»Selim na hirus, to jah gevar!«, kreischte Turner.
»Großartig, das hast du hervorragend gemacht.« Gedämpfter Applaus erklang aus der verworrenen Nische seines Verstandes, die auch die Quelle der Stimme war. Verwirrt blickt Turner sich um.
»Und jetzt?«, fragte er tonlos.
»Jetzt, mein Freund, warten wir ...«