Teil III
Aufbruch, Rückkehr
und dann noch was dazwischen geschieht
~ 1. Kapitel ~
In dem das nur wenig strategisch
geplante Enthüllen geheimer Pläne
jäh unterbrochen wird
Der sinnliche Duft exotischer Blumen hing wie schweres Parfüm in der warmen Luft des Wintergartens. Das kleine Gebäude stand etwas abseits des Hauses und war über einen schmalen, gepflasterten Pfad zu erreichen, der jetzt aber vollends unter einer dicken Schneewehe begraben lag. So erinnerte der Wintergarten bei Nacht, wenn er von den Tischlampen in seinem Inneren hell erleuchtet war, an eine Fata Morgana. In verschneiten Nächten wie dieser, wirkte er gar wie eine Unterwasserstadt, welche vor den Meeresfluten durch eine gläserne Kuppel geschützt, mystische Geheimnisse wie farbenprächtige Juwelen barg.
Von Galina liebevoll gepflegt, blühten, ja, wucherten in sämtlichen Ecken und Winkeln dichte Blütentrauben und üppiges Grün. Die Wände und Kuppeldecke schienen ganz aus Glas gemacht, so dezent und harmonisch angepasst waren die eisernen Rahmen, welche die dicken Scheiben hielten.
Zwischen den Pflanzen hindurch konnte man hinaus in den Garten sehen, der sich auf der Rückseite des Hauses bis an den Waldrand erstreckte. Eine meterdicke, weiße Schneedecke hatte die Büsche und Sträucher in frostige Hügel und die freie Rasenfläche in ein Meer aus Eiskristallen verwandelt.
Nur dort, wo die Bäume des angrenzenden Waldes standen, gab der eisige Bewurf den Blick auf hart gefrorenen schwarzen Boden frei. Doch der stärker werdende Wind trieb beinahe horizontal dichte Schneeflocken vor sich her und so war abzusehen, dass auch diese Inseln bald in den dicken Wehen versinken würden.
Calman, der hierher gekommen war, um Karen zu treffen, lehnte sich zufrieden in den weichen Sessel zurück und kuschelte seinen Rücken gegen das Polster. Für gewöhnlich war er nicht sonderlich angetan von Eis, Schnee und der Kälte des Winters. Hier jedoch, inmitten dieser grünen und blühenden Illusion des Sommers, war die scheußliche Witterung zumindest erträglich.
Schloss er die Augen, konnte er sogar für einen kurzen Moment lang das Bild des überdreht eingerichteten Schlafzimmers in Altheas Haus in der Decature street in New Orleans heraufbeschwören. Er roch die üppigen Blumen, die nur zur Nacht erblühten. Ihr süßer Duft schlich einem schmeichelnden Tier gleich durch die geöffnete Balkontür herein. Wenn er jetzt die Augen aufschlug, stünde Althea vor ihm. Den Stoff des weißen Kleides bis auf die Hüften gerafft, sich ihm darbietend. Ihr langes, schwarzes Haar floss wie kühle Seide über ihre gebräunten Schultern. Ein schützender Mantel, der sich um ihn legte, wenn sie sich zu einem Kuss hinabbeugte.
Oh ja, Althea war wunderbar. Nie fragte sie, warum sie sich nur in den Nächten sehen konnten. Nicht einmal wunderte sie sich über die Kälte seines Leibes, wenn er sich zwischen ihre Schenkel senkte. Gott, Calman, du musst damit aufhören, sonst passiert noch ein Unglück, schalt er sich in Gedanken. Denk nicht an sie! Hör auf, sie dir vorzustellen, jetzt gleich!
Sie war so warm und voller Leben und völlig vernarrt in ihn. Er sah sie in aller Deutlichkeit vor sich. In dem warmen gelben Glanz der antiken Lampe auf ihrem Nachtschrank schimmerte ihre Haut wie Gold. Die darunter pulsierenden Adern leuchteten wie silberne Ströme im bleichen Mondlicht, das durch die hohen französischen Fenster ins Zimmer fiel. Althea! Genussvoll ließ Calman die Silben ihres Namens stumm seine Kehle emporsteigen. Althea. Ein Klang wie der durchdringende Duft ihrer warmen Haut. Ihre weiche Stimme, die dunklen Augen. Sie war wie Samt und Weihrauch, sinnlich, weich, intensiv. Althea, Althea ...
»Calman.«
Erschrocken öffnete er die Augen und richtete sich auf.
»Karen, da bist du ja.«
Karen setzte sich lächelnd in den Sessel ihm gegenüber. Augenblicklich witterte er ihren Duft. Der Geruch ihres Blutes fokussierte kompromisslos seine Aufmerksamkeit.
»Du hast Glück, dass wir derart vernunftbegabte Wesen sind. Wären wir Haie oder Ratten, würden wir in deiner Gegenwart wahnsinnig«, hatte er einmal im Scherz zu ihr gesagt. Doch war das wirklich nur ein harmloser Scherz gewesen? Sicher, sie brauchte weder vor ihm, noch von den anderen einen Angriff zu fürchten. Was aber war mit denen, die sie nicht kannten. Karen ahnte nicht, wie riskant ihr Leben geworden war, seit sie in der Welt ihres Vaters lebte.
Dort kreuzten nicht nur Familienmitglieder ihren Weg. Fremde konnten in ihrer Gegenwart zu unberechenbaren Raubtieren werden. Karens Blut vereinte den verlockenden Duft der Sterblichen mit dem eines Hirudo. Diese Kombination konnte sie in einem unbewachten Moment durchaus das Leben kosten.
Mit einem breiten Lächeln versuchte er von seinen düsteren Gedanken abzulenken. Zu ihr aufblickend griff er nach ihrer schmalen Hand und schnupperte an dem warmen Puls.
»Ah, unwiderstehlich, meine Süße, absolut unwiderstehlich.«
Sie kicherte und strich mit ihrer Hand über seine Wange. Er wünschte, ihr ein wenig von dem geben zu können, wonach sich jedes sterbliche Wesen sehnt. Vor allem die Wärme einer Umarmung. Doch seine Arme waren kalt. So kalt und hart wie das Eis, in welches der Winter alles Wasser verwandelte. Alles, was er bieten konnte, war ein Mysterium und die Verlockung, für die manche Menschen ihr Leben riskiert hätten. Sie brachten sich in Todesnähe, um einen Augenblick, eine Minute oder eine Nacht mit einem Geschöpf zu verbringen, das Liebe, Tod und unsterbliches Leben in sich vereinte.
»Ihr seid der Inbegriff menschlicher Urängste. Liebe und Tod. Die Sehnsucht, das eine unsterblich zu erhalten und das andere zu überwinden. Auch das ist unwiderstehlich. So wie unsere Wärme euch lockt, bindet uns eure Andersartigkeit.«
Calman erschrak. Er hatte vergessen, wie gut sie mittlerweile darin geworden war, seine Gedanken zu ergründen. Vergaß er, so wie jetzt, sich ihrem Zugriff zu verschließen, war Karen sehr leicht in der Lage, hinter den dünnen Vorhang zu blicken, welcher sein und ihr Bewusstsein trennte. Ihr Talent war beängstigend und wundersam zugleich.
Wäre sie eine Hirudo, hätte ihn ihre Begabung nicht weiter verwundert. Lucas Vale vermochte schließlich auch seine Telepathie einzusetzen. Doch Karen war menschlich. Zwar war Karen Lucas biologische Tochter und wurde gezeugt, als er sich in der Umwandlung zum Vampir befand. Dennoch würde niemand jemals mit Sicherheit sagen können, wie und ob er auf diese Art drei seiner Talente an sie hat weitergeben können. War das Erbe in seinem Samen oder doch in seinem Blut, welches er ihr zu trinken gab, ehe er mit Jarout in seinen Armen floh?
Es ging die Legende, dass Maratos selbst mit dem Samen, des von ihm übernommen Körpers eines Menschen, ein Kind zeugte. Und dass dieses Kind seltsame Kräfte gehabt haben soll. Eine Legende, wie gesagt. Halbwissen. Zu gern hätte Calman Karens DNA analysieren lassen. Doch sie weigerte sich strikt, ihm eine Probe ihres Blutes zu überlassen. Das Letzte, so schimpfte sie aufgebracht angesichts seines Anliegens, was ich für euch sein werde, ist ein Versuchskaninchen. Damit war das Thema für sie vom Tisch. Und sobald er das Gespräch auch nur in die Nähe dieser Materie lenkte, stand sie auf und verließ aufgebracht den Raum. Also vermied er, sie noch einmal darauf anzusprechen und hoffte, dass sie eines Tages selbst neugierig wurde. Schließlich, er hatte alle Zeit der Welt.
»Was?« Sein stilles Lächeln verwunderte Karen, was Calman zeigte, dass sie diesmal seine abschweifenden Gedanken gottlob nicht erkannt hatte. Das schonte ihre Freundschaft und auch die Glastür des Wintergartens, die mit Sicherheit und einiger Wucht hinter ihr zugeschlagen wäre. »Wir«, fuhr sie fort, »sehnen uns danach, die Wunder eurer Welt zu sehen und ihr die der unseren. Vielleicht ist es aber auch wesentlich banaler und die Menschen sind einfach nur gelangweilt und ihr habt Hunger.« Sie lachten gemeinsam über Karens Scherz.
»Wir sind vielleicht gelehrte Philosophen«, meinte Karen laut und lehnte sich zurück, ihm ihre Hand entziehend.
»Natürlich – und außerdem haben wir denselben Musikgeschmack.«
»Yep Sir, den haben wir.«
»Du meinst, wir finden immer wieder Menschen, die sich so freiwillig hingeben, weil sie ewiges Leben wollen und dafür sogar zu sterben bereit sind?«, fragte er.
»Hoffnungslose Schwarmgeister, Lebensmüde, die keinen realitätsbezogenen Sinn in ihrem Leben sehen«, war ihre Antwort.
Calman blickte mit einem scherzhaften Augenzwinkern auf. »Schwarmgeist. Scheiße, diesen Ausdruck habe ich seit einer Ewigkeit nicht mehr gehört. Seit wann stehst du auf schwülstige Dame-trifft-Edelmann-Schnulzen? Bin wohl gerade noch rechtzeitig gekommen, was?«
»Gelächter, Calman.« Karen verzog das Gesicht zu einem ironischen Lächeln.
»Erzähl mir doch, was du in der letzten Zeit gemacht hast, Karen. Arweth hat mir erzählt, dass du wieder an der Anthologie arbeitest. Golans heiliges Werk«, scherzte er. »Angeblich nervst du jeden damit, der nicht schnell genug fliehen kann.«
»Hat er das so gesagt, ja? Dann frag doch mal, wer aus eigenem Antrieb den Weg zu mir gefunden hat. Das waren bestimmt mehr als die Hälfte aller, deren Geschichten ich bereits aufgeschrieben habe.« Sie neigte den Kopf und warf ihm mit ironischem Lächeln einen vielsagenden Blick zu.
Er schüttelte den Kopf.
»Hey, was ist dir eingefallen?«, fragte Karen.
»Gar nichts. Jedenfalls nichts, was für eine offizielle Sammlung infrage kommt.«
»Aber es war als Erstes da. Glaub mir, das ist meistens das Beste.«
»Mhmh, nein, das möchtest du nicht wissen. Und ich möchte nicht, dass auch nur irgendjemand davon erfährt.«
»Peinlich?«
»Sehr.«
»Gut, genau so was fehlt mir noch.«
»Wirklich sehr witzig, Karen. Schrecklich komisch.«
Er sah genau, dass sie ein lautes Lachen kaum zurückhalten konnte.
»Wag es ja nicht, zu lachen.«
»Ich doch nicht. Du weißt doch: Vater Ernst hat mich fest im Griff«, versprach sie mit einem Ausdruck engelsgleicher Unschuld auf dem schmalen Gesicht. »Aber nett zu wissen, dass auch den großen, mächtigen Hirudo Sachen passieren, die ihnen peinlich sind.«
Calman schnaubte verächtlich.
»Aber im Moment interessiert mich eine andere Geschichte viel mehr.« Karen beschloss, gar nicht erst um den heißen Brei herumzureden. Sie wollte wissen, wo er die letzten Wochen gewesen war. Beim Abendessen hatte er ihnen die lächerliche Geschichte aufgetischt, für Arweth nach indianischen Relikten in Brasilien gesucht zu haben.
Sie glaubte ihm kein Wort. Calman war so ziemlich alles, aber er war kein Laufbursche. Außerdem war seine Geschichte viel zu konstruiert. Es fehlte nur noch, dass ihm beim Aufstehen das Blatt, von dem er ablas, zu Boden segelte. Ihr konnte er nichts vormachen. Im Gegensatz zu Blanche, war sie nicht still und auch nicht uninteressiert wie Jarout und Denis.
Seamus wusste vermutlich längst über alles Bescheid und Galina bekam auch genug mit. Nur sie war wieder einmal diejenige, die für dumm verkauft wurde. Hinter Calmans mysteriöser Reise steckte mehr, als er verraten wollte. Das stank doch zu Himmel. Und jetzt lachte er. Seine braunen Augen blitzten verräterisch.
»Oh bitte, Calman! Hör auf, mich zu verarschen. Ich weiß, dass du ganz sicher nicht für Lucas und Arweth durch den Dschungel gepilgert bist. Allein die Vorstellung ist albern. Irgendetwas ist doch hier faul. Ich meine, erst taucht Arweth auf und jetzt du. Ständig hat einer von euch etwas mit Lucas zu flüstern und glaub ja nicht, dass ich dir den Blödsinn abkaufe. Es ist einfach ungeheuerlich, dass ausgerechnet du mich jetzt so offen anschwindelst.«
»Oh nein, versuch es erst gar nicht. Ich werde nichts verraten.«
Hervorragend. Jetzt wusste sie wenigstens, dass ihr Instinkt sie nicht täuschte. Sicher meinte er wohl kaum eine Geburtstagsüberraschung, über die er nichts verraten wollte.
»Dann brütet ihr also tatsächlich was aus. Etwas, das ...«
Die Tür zum Garten flog auf. Mit verzerrtem Gesicht, das seine Aufregung verriet, kam Jarout hereingestürzt.
»Calman, verzeih, wenn ich dich unterbreche.«
Karen fiel auf, dass seine sonst so feste und kalte Stimme rau klang und seine Hände zitterten, als er damit über die kurz geschorenen, schwarzen Haare strich. Vor Aufregung glühten seine bernsteinfarbenen Augen hellgelb im Licht der Tischlampen. Karen war egal, was Jarout so aus dem Häuschen brachte. Wie konnte er wagen, Calman und sie zu stören? Falls sie jemals das Verlangen verspürte, ihren Bruder umzubringen, dann in diesem Augenblick.
Calman sah fragend zu ihm auf. Er lächelte sanft, als wolle er Nachsicht mit der ungestümen Jugend des Störenfrieds demonstrieren.
»Wir erhielten gerade einen Anruf von Colin«, stammelte Jarout.
»Ja?« Calman schien ungeduldig zu werden. Karen wollte sich schon freuen, dass Jarout nicht bei allen auf Geduld stieß, als dieser weitersprach.
»Eine der Angestellten hat einen Toten bei den Containern gefunden«, sagte er leise. »Calman, es ist Malcolm. Jemand hat ihn getötet. Und Serena ist verschwunden. Sie ... ich weiß auch nicht ... Colin hat überall nach ihr gesucht und rumtelefoniert, um rauszubekommen, wo sie steckt. Aber niemand weiß, wo sie ist. Sie war mit Malcolm zusammen. Er ist tot.«
Die Worte waren heraus. Kalt und real, gesprochen von Jarouts brechender Stimme, schienen sie noch einen quälenden Moment lang in der feuchten Luft des Wintergartens zu schweben.
So unwirklich, dass Karen im ersten Moment glaubte, sich verhört zu haben. Doch Jarout stand dort vor ihnen - ein Häufchen Elend, jetzt da die Nachricht, deren verheerende Bedeutung er selber noch nicht ganz begriffen zu haben schien, überbracht war.
Calman sah ihn schweigend an. Das leichte Lächeln war aus seinem Gesicht verschwunden. Mit einer Hand tastete er suchend nach Karen, die sofort aufstand und ihn in ihre Arme schloss.
Die Kälte seines uralten Leibes war überwältigend. Sie fror augenblicklich, während er glaubte, den heißen Atem eines Feuers dort zu spüren, wo ihre Haut die seine berührte. Doch keiner ließ den anderen los. Jarout wartete geduldig, bis Calman bereit war, ihm ins Haus zu folgen.