~ 6. Kapitel ~

 

In dem Turner mit dem Leben abschließt

 

Die Warterei war entsetzlich, seine Nervosität war entsetzlich, aber am absolut allerentsetzlichsten war sein Hunger. Er konnte sich kaum noch beherrschen. So oft er seinen Füßen auch befahl, nicht zu scharren, seine Hände ermahnte, flach und ruhig auf dem Tisch zu liegen oder das Glas mit dem Scotch zu halten, sie wollten ihm nicht gehorchen. Ebenso wenig konnte er seinen Hintern, der unruhig auf dem weichen, abgewetzten Polster der Bank hin und her rutschte, stillhalten. Immer wieder wanderten seine Füße vor und zurück, seine Fingernägel flutschten zwischen die eifrig knabbernden Zähne und sein Arsch fühlte sich wie ein Sack Flöhe an, in dem es pikste und krabbelte und juckte.

So was fällt auf, ganz klar, dachte er. Verdammt, wenn ich nicht bald hier rauskomme, werden sie mich bemerken und einer von ihnen wird zu mir rüberkommen. Dann sieht der doch, was los ist und wird sofort misstrauisch. Die kennen sich doch aus mit so was.

Er hätte heulen mögen. Ihm war schwindelig, er schwitzte und Wellen heißer Übelkeit wühlten durch seine Eingeweide. Er überlegte, ob er auf die Toilette gehen und sich das Gesicht kalt abwaschen sollte. Der Alkohol, den er jetzt schon eine volle Stunde lang in sich hineinschüttete, half ihm jedenfalls kein bisschen dabei, ruhiger zu werden.

Impulsiv sprang er auf, bremste sich aber gleich wieder. Du bist eine Maschine, Turner, eine ruhige, mechanische Maschine, dachte er.

So kontrolliert wie möglich und mit steifen Bewegungen, stakste er zur Bar. Mit nervös huschendem Blick schlich er an den dort lauernden Augen vorbei auf das erstaunlich gut geputzt riechende Männerklo.

Alles ist okay, beruhigte er sich und drehte den Kaltwasserhahn voll auf. Bei der fünften Hand voll Wasser, die er sich prustend ins Gesicht schaufelte, fühlte er sich auch tatsächlich schon besser.

Eine Stunde, verdammt, eine volle verkackte Stunde lang wartete er schon auf diese Schlampe. Wo zum Teufel steckte sie nur? Sonst war sie doch auch immer da. Warum ausgerechnet heute Nacht nicht. Wenn er so spät zurückkam, brachte ER ihn um. Oder stellte noch Schlimmeres mit ihm an. Dinge, die man jemandem antun konnte, bevor derjenige tot war. Dinge, die das bedauernswerte Folteropfer wünschen ließen, der Tod möge sich ein bisschen mehr ins Zeug legen und schneller zum Ende kommen. Davon, dass ER zu Schrecklichem fähig war, brauchte Turner nicht überzeugt werden. Er kannte IHN und wusste, ER war unerbittlich in SEINEM Zorn.

Turner wusste nicht, was er tun sollte. Er durfte niemanden fragen, wo sie war. Den Umschlag mit der Nachricht durfte er niemandem außer ihr geben. Doch unverrichteter Dinge brauchte er schon gar nicht bei IHM auftauchen. Nein, das vor allem anderen nicht.

Wenigstens fühlte er sich jetzt nicht mehr ganz so mies. Sein Kopf schwamm zwar vom Scotch, doch wenigstens war das Gefühl, jeden Moment platzen zu müssen, verschwunden.

Sich ein wenig abseits von den anderen an die Bar setzen und die Ohren spitzen, war eventuell eine recht gute Idee. Unter Umständen schnappte er dabei die eine oder andere nützliche Information auf.

Ja, genau, gar nicht schlecht, dachte er. Auf jeden Fall besser, als mich wieder in die dunkle Ecke auf die Bank zu verkriechen. Wenn ich weiter so untätig herumhockte, werde ich garantiert irre.

Er kicherte. Ich und Irrewerden. Aller Wahrscheinlichkeit nach kommt dafür ohnehin schon jede Gegenmaßnahme zu spät. Schließlich kann man einen längst eingetretenen Zustand nicht mehr verhindern. Oh mein Gott, das stimmt, überlegte er. War er wirklich so verrückt? Nein, Mister, ich trinke kein Blut und habe auch noch nie über den Papst gelästert. Wieder kicherte er leise, stieß die Waschraumtür auf und stolperte hinaus in den finsteren Barraum.

Einige Atemzüge lang stand er wie geblendet in der schummrigen Dunkelheit. Erst, als er wieder normal sehen konnte, setzte er sich wie geplant an die Theke. Dabei versuchte er so teilnahmslos wie möglich auszusehen. Ich bin nur hier, weil ich durstig bin. Ha, ha. Durstig? Heh, das war noch nicht mal gelogen, oder?

Er grinste den Barmann an und hob kurz die Hand. Ganz lässig, du bist cool, Turner, jawohl, cool, nuschelte er in Gedanken.

Auf die Gefahr hin, sturzbetrunken seinem Ende entgegenzutorkeln, bestellte er einen weiteren Scotch. Vielleicht tat das, was Prior mit ihm anstellen würde, dann nicht so weh.

Gerade als sein vernebelter Geist ein Memorandum über das Thema Schmerz loslassen wollte, war er mit einem Mal wieder hellwach. Halleluja, jauchzte er innerlich. Die Furcht war zu Ende, alles wieder in Ordnung. Sie war da. Serena, die Göttliche, betrat das Lokal und in derselben Minute war sein Leben wieder mehr als nur seine lächerliche Hoffnung auf eine gnädige Reinkarnation wert.

Diese blondierte Blutsaugerin mit ihrem hochnäsigen Lächeln spendete Zuversicht und Trost und verhieß allen, die es schafften, sie länger als zwei Minuten amüsant zu unterhalten, geile Zeiten.

Scheiße, sie zu vögeln musste das Himmelreich bedeuten. Ein Schuss in den Himmel. Turner grinste breit. Er war sofort scharf auf sie. Wenn er ihn hochbekommen hätte, wäre er vermutlich zu ihr rüber, um sich wie ein Hund an ihrem Bein zu reiben. Doch das war vorbei. Seinen letzten Ständer durfte er erleben, als er den ersten Tropfen des heiligen Tranks aus SEINEN teuflischen Venen gekostet hatte. Danach war damit Sense.

Aber, Mann, sieh sich bloß mal einer diese Titten an, dachte er. Und diese Beine, Scheiße, die waren großartig. Die Krönung war die Arroganz in ihrem engelsgleichen Gesicht. Kombiniert mit der glatten Eleganz ihrer Bewegungen ließ der brennende Blick ihrer kalten Augen jeden Mann zum Masochisten mit nur einem Wunsch werden: Dieser Herrin den Staub von den Schuhen zu lecken. Turner konnte sich gut vorstellen, was DER GESCHÜTZTE mit ihr anstellen wollte. Fragte sich nur, wer am Ende unter wessen Stiefel kauerte.

Was Turner anging, so konnte er sich kaum etwas Erstrebenswerteres vorstellen, als dabei zuzusehen, wie ER sie sich untertan machte. Oh ja, das musste ein erhabenes Schauspiel sein. Doch jetzt war sie noch die Königin jenes Reiches, der ihr Leib war. Hoheitsvoll autokratisch ruhte sie in dem Bewusstsein, dass die ungeteilte Aufmerksamkeit aller Anwesenden auf ihre Person konzentriert war. Wie sollte Turner ihr nur gegenübertreten und ihr den Umschlag überreichen, ohne, wie der erbärmliche Abschaum der er war, auf die Knie zu sinken und ... widerlich, Turner, schalt er sich. Jawohl, du bist widerlich. Sei ein Mann und tu, weswegen du geschickt wurdest.

Er war entschlossen, sein Bestes zu versuchen. Wenn er dennoch versagte, war das bestimmt nicht seine Schuld.

Mit zitternden Beinen rutschte er vom Barhocker und stützte sich an dem Tresen ab, um nicht hinzufallen. Soviel zu trinken, war eben doch keine so gute Idee gewesen. Sich mit einer Hand an den Hockern entlangtastend, schob er sich weiter. Sie war bei der Gruppe stehen geblieben, die ihm vorhin schon aufgefallen waren. Ja, alte Bekannte. Sehr alte Bekannte, vermutete er.

Sie lachte und berührte Schultern, nahm Hände und lachte wieder. Sie schüttelte ihren offenkundig sehr klugen Kopf, stimmte zu, widersprach geziert. Sie betrieb Konversation in Perfektion. Worüber sie mit ihnen sprach, konnte Turner nicht hören. Seine Ohren fühlten sich an wie zugestopft. Als triebe er unter Wasser. Mit vernebeltem Tunnelblick fixierte er einzig und allein den blonden Vampirengel. Nur so war er überhaupt fähig, einen Fuß vor den anderen zu setzen.

Heilig, heilig, dachte er wie in einem tantrischen Delirium und streckte zögernd seine Hand zwischen die Schultern der beiden Männer aus, die vor ihm standen. Ohne, dass sie ihn bemerkten, brachte er seine Fingerspitzen an Serenas Rücken. Ja, er berührte sie und der Kontakt mit dem kalten Fleisch unter dem blau seidenen Kleid ließ ihn erschaudern.

Erstaunt fuhr sie herum und betrachtete seine Hand als wäre sie ein widerliches Insekt. Wie konnte dieses Ding nur wagen, sie zu berühren. Ekelhaft! Unverschämt! Ein mit Sterblichkeit verseuchtes Nichts. Die Abscheu in ihrem Gesicht war überdeutlich.

Doch Turner war schnell. Bevor die Männer ihn, für den vermeintlich unsittlichen Annäherungsversuch an ihre leuchtende Ikone bestrafen konnten, hielt er ihr mit der anderen Hand den versiegelten Umschlag hin.

Und sie nahm ihn. Sie nahm ihn und berührte dabei für den Bruchteil eines Atemzuges seine Hand. Viel zu schnell war dieser Moment der Wonne vorüber und der Kerl mit den Bernsteinaugen riss ihn zurück. Doch sie rettete ihn.

»Jarout, lass den Kerl!«, zischte sie mit einem gereizten Seitenblick.

Ah, ihre Stimme. Befehlsgewohnt, unsterblich, lieblich und uralt.

Und sofort ließ sein Angreifer von ihm ab und ließ ihn dort liegen, wo er zu Boden gefallen war. Turner entging nicht, dass er sich die Hände an der Hose abwischte, als habe er etwas Ekliges berührt. Wichser.

»Was ist denn, Serena. Was hat er dir gegeben?«, fragte der Blonde mit den sanften Augen. Turner kannte seinen Namen, oh ja. Malcolm hieß er.

»Nichts.«

Los, lies den Brief, betete er. Wenn alles nach Plan verläuft, musste sie sich jetzt sofort mit ihm auf den Weg machen. Und tatsächlich. Sie kam auf ihn zu und beugte sich zu ihm. Gottogott, diese Titten.

»Also gut, bring mich hin.«

Er versuchte sich aufzurappeln und kam nach einigen Fehlversuchen auch tatsächlich auf die Füße.

»Moment mal – wohin soll er dich bringen?«, fragte Malcolm und stellte sich zwischen Turner und Serena.

»Das geht dich nichts an. Du bleibst hier. Mach dir einen schönen Abend, ja. Ich bin bald zurück.« Zum Barmann gewandt, rief sie: »Colin, meinen Mantel bitte! Ich bin bald zurück. Du kommst doch klar?«

Colin nickte und gab dem Grünäugigen, den Turner nicht kannte, das von ihr verlangte Kleidungsstück. Wie ein Page hielt er ihr den Mantel, sodass sie nur noch mit anmutiger Geste hineinzuschlüpfen brauchte.

Malcolm zog sie ein Stück von den anderen fort und sprach flüsternd auf sie ein, sodass niemand hören konnte, was er sagte. Niemand, außer Turner, der in gebeugt unterwürfiger Haltung neben ihr stand. Seine Anwesenheit und dass er hörte, was sie sagte, schien sie nicht zu stören. Er war gänzlich erbärmlich und geradezu erniedrigend unsichtbar.

»Serena, wenn der Brief von Arweth ist, dann geht es mich sehr wohl etwas an und es ist mir egal, was du sagst – ich komme mit.«

»Er schreibt, dass ich niemanden mitbringen soll«, erwiderte sie. Ebenfalls so leise, dass nur Malcolm sie verstehen konnte.

»Ist mir egal. Ich komme trotzdem mit. Und wenn er mich für meinen Ungehorsam umbringt«, widersprach Malcolm.

»Wird er schon nicht. Aber freuen wird er sich bestimmt nicht, dich uneingeladen zu sehen. Du kennst ihn ja.«

»Er übertreibt. Wie immer.«

Sie nickte und lächelte sanft. »Also gut, gehen wir«, sagte sie und schubste Turner roh in die Seite. »Nun geh schon oder willst du unbedingt geprügelt werden.«

Offen gestanden wäre ihm sogar das lieber gewesen, als mit Ihnen loszuziehen. Er verlangte, sie solle allein kommen. Nicht mit diesem Malcolm. Nicht mit Malcolm. Nein, auf gar keinen Fall mit Malcolm.

Turner war so gut wie tot. Ja, das war er. Ganz zweifellos. Ihm blieben noch ungefähr vierzig Minuten, falls sie zu Fuß gingen und keine halbe Stunde, wenn sie mit dem Wagen fuhren. Und das auch nur, wenn dichter Verkehr herrschte.

Ihm blieb keine Zeit, abzuwarten. Panikerfüllt packte er die erstbeste Gelegenheit beim Schopf und entwischte ihnen, als sie vor ihm in die graue Limousine stiegen.