~ 12. Kapitel ~

 

In dem Abschiede genommen werden

 

An Denis Seite schritt Karen hinaus auf die Terrasse. Sofort jagte ihr der eisige Wind eine Gänsehaut über den Rücken. Der beißende, metallene Geruch von Eis und Schnee lag in der frostklaren Luft. Das Versprechen von noch mehr Schnee und weiteren bitterkalten Nächten, die dieser folgen sollten.

Der Mond stand hoch über den pechschwarzen Baumwipfeln, die ihre spitzen Krallen nach dem silberhellen Himmel reckten. Sein bleiches Licht wurde um ein Vielfaches von dem schlohweißen Leinentuch, das der Winter über die weite Gartenanlage gelegt hatte, reflektiert und hüllte die Nacht in geisterhaften Silberschimmer. Ein schmaler Pfad war von Schnee befreit und führte bis zu einem mannshoch aufgeschichteten Holzstoß in der Mitte des Gartens. Dorthin begab sich auch die Prozession, deren Spitze Arweth und Calman bildeten. Ihnen folgten Lucas und Seamus, dann Galina und Blanche und schließlich, am Ende der Reihe, Jarout, Denis und Karen.

Auch Sappho hätte anwesend sein sollen. Doch aufgebracht darüber, dass Arweth die Rettung seiner Tochter Serena für wichtiger als Sapphos Anwesenheit erachtet hatte, war sie bei Anbruch der Nacht abgereist. Als Karen Calman gefragt hatte, was denn jetzt aus der Allianz würde, hatte dieser nur müde gelächelt und gemeint, er müsse sich wohl wieder ein Ticket nach Manaus inklusive Büßergewand für den erneuten Bittgang bei Sappho besorgen. Zeigte er sich nur einschmeichelnd genug, würde sie sich sicher erweichen lassen, hoheitsvoll zurückzukehren. All diese Überlegungen aber hatten Zeit bis nach Malcolms Beisetzung. Diese hatte zunächst Priorität.

Beryl und Eliane warteten bereits vor dem Scheiterhaufen, der errichtet worden war, um Malcolms Leichnam zu verbrennen. Das verlangte die Tradition, hatte Karen von Lucas erfahren, als sie fragte, warum sie ihn nicht einfach beerdigten. Ihr schien dieses Spektakel unter freiem Himmel archaisch, barbarisch geradezu. Doch Lucas meinte, so verfuhren die Hirudo seit Jahrtausenden. Keine Spur, die verdächtige Fragen aufwerfen könnte, durfte von ihren Toten zurückbleiben. Deshalb verbrannten sie sie.

Doch trotz des Pragmatismus, der diese Handlung begründete, spürte Karen ganz deutlich die offenkundige Feierlichkeit in dem beinahe magisch anmutenden Ritual. Sie meinte, neben der Trauer auch so etwas wie Stolz in den mondbeschienenen bleichen Gesichtern zu erkennen.

Ja, Beryl und Elian schienen geradezu in Hochstimmung über diese Gelegenheit, bei der sie ihre Erfahrung und ihr Können anbringen durften. Waren sie doch gewissermaßen die Hohepriesterinnen der Hirudo und wahrten seit Jahrhunderten das Wissen um geheime, uralte Rituale. Auch Priors Körper würde verbrannt werden, später, irgendwo im Wald. Ihm jedoch gäben sie keine Worte des Abschieds. Seine Asche sollte der Wind davontragen, wie die Überreste eines Namenlosen.

Unruhig tastete Karen in ihrer Jackentasche nach der Fibel, die Calman ihr gegeben hatte, als er sie vor einer Stunde in ihrem Zimmer aufgesucht hatte. Es war jenes Schmuckstück, dass einst Phoebe gehört hatte und das Dorian Prior Arweth geschickt hatte. Sie solle von nun an ihr gehören, ließ Arweth ausrichten. Er war der Ansicht, dass das sicher auch Phoebes Wunsch wäre.

Eine ausgesprochen großzügige und auch bedachte Geste, fand Karen. Das Schmuckstück offen zu tragen, widerstrebte ihr dennoch. Sie beschloss, es als Erinnerungsstück an einem besonderen Platz aufzubewahren. Vielleicht auf ihrem Schreibtisch. Oder sie konnte Seamus bitten, einen Rahmen zu besorgen, wie ihn Schmetterlingssammler benutzen. Darin fände die Fibel einen dekorativen Platz an einer freien Wand in Denis’ Turmzimmer.

Ganz in Gedanken versunken, wäre sie beinahe in Blanches Rücken gelaufen, als diese wie alle anderen stehen blieb. Nicht grob, aber bestimmt lenkte Galina Karen neben Jarout, damit sich der Kreis, in dem die Hirudo den Scheiterhaufen umstanden, schloss. Hastig murmelte Karen eine Entschuldigung, doch Galina nickte nur lächelnd und deutete ihr, still zu sein.

»Bra’thren agus pathraigbh’rean. Tha a’ghealach a’deárrsadh ore siunn.« Einander an den Händen haltend, traten Beryl und Eliane vor. Synchron erhoben sich ihre rauen, kraftvollen Stimmen in den klaren Winterhimmel. Beide trugen ein weites Gewand, unter dem ihre Flügel verborgen waren. Ihre beinahe grotesk schlanken Körper zeichneten sich gegen den dünnen Stoff ab, der in dem eisigen Wind flatterte. Karen fragte sich, was ihre Worte bedeuten, die an keine Sprache erinnerten, die sie je zuvor gehört hatte.

Calman, dachte sie. Ob er mit mir spricht? Einen Versuch war das Risiko, abgeblockt zu werden, wert. Energisch trieb sie ihre Gedanken durch das trockene Holz des Scheiterhaufens, hinter dem der Ältere vor ihrem Blick verborgen stand.

Beryl, die nun eine Fackel aufnahm und sie Eliane, deren schwarzes Haar wie Trauerflor aus schwerem Samt im Wind peitschte, entgegenhielt, lenkte Karens Konzentration kurz ab.

»Das Feuer unserer Zuneigung geleite dich«, rief Eliane. Ihre grünen Augen glühten in der Dunkelheit auf und sogleich zischte eine Stichflamme von der Fackelspitze.

»An beal teine triugh«, raunte die Antwort von Arweth und Calman. Sie waren die Einzigen, denen dieses Ritual vertraut zu sein schien. Die anderen Hirudo lauschten und beobachteten stumm.

Karen hörte Calmans Stimme tief in ihren Gedanken. Er war da und verstand, was sie wollte. Ein erfreutes Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht, das sich von dem eisigen Wind schon ganz taub anfühlte.

Eliane legte ihre rechte Hand über Beryls an den Griff der Fackel. Gemeinsam traten sie an das aufgeschichtete Holz, auf dem Malcolms Leichnam in ein Leinentuch gewickelt lag.

»An cridhe ior an cridhe« »Ein Herz für ein Herz«, hörte Karen Calmans Stimme. Er übersetzte, was für Karen so unverständlich war.

Die Schwestern senkten die Flamme und stießen sie in das Holz. Sofort leckten gierige Feuergarben an den ausgedörrten Ästen und Scheiten. Brandiger Gestank stach Karen in die Nase, sodass sie hilflos nach Luft schnappte. Doch da war keine Luft, nur öliger, beißender Rauch, der ihr die Kehle zuschnürte.

»Shein bannan dy nan vuille«, hörte sie die singenden Stimmen der Schwestern. Und Calman dachte: »Wir kennen die Bande des Blutes. Sieh hin, Karen, ist es nicht wunderschön?«

Wunderschön? dachte Karen, aber ohne dass Calman sie hören konnte. Um Gottes willen, was soll daran schön sein. Sie hustete verzweifelt, ihr Blick verschwamm und sie glaubte zu ersticken.

Die züngelnden Flammen hatten bereits die Spitze des Holzstoßes erreicht und fraßen sich nun in das Leinentuch. Ihre hungrigen Fänge, die sich in die unversehrten Fasern brannten, färbten den weißen Stoff schwarz.

Fahrig griff Karen nach der Fibel. Mit den Fingerspitzen fuhr sie über die scharfkantige Linie der emaillierten Sonne. Sie fühlte sich warm an, heiß geradezu. Plötzlich war ihr, als risse ein Vorhang entzwei. Den Blick auf die Flammen gerichtet, taumelte Karen erschrocken einige Schritte zurück. Ungläubig starrte sie auf das, was sie sah.

Das weiße Kleid der Frau flatterte im kalten Wind, bauschte sich auf, als wollte es sich wehren. Schreie hallten durch die Nacht, verfingen sich in Karens Kopf und überschlugen sich zu einem Kanon des Grauens.

Die Frau stand an Händen und Füßen gebunden auf dem brennenden Brettergerüst. In größter Todesangst versuchte sie sich von den Fesseln zu befreien. Vor Schmerz halb wahnsinnig schlug sie mit dem Hinterkopf immer wieder gegen den Pfahl, an den sie gekettet war. Die Eisenglieder glühten und brannten tief in ihr Fleisch. An den Füßen warf die brennende Haut Blasen, verkohlte und fiel von den Knochen.

Karen wollte schreien, doch ihre Kehle blieb stumm. Wie gelähmt musste sie das grauenvolle Geschehen mit ansehen. Sahen denn die anderen nichts? Tränen der Hilflosigkeit, der Angst und des Mitleids quollen aus ihren geröteten Augen. Doch die Hitze des Feuers trockneten sie sogleich auf ihren Wangen.

»Phoebe!«, schrie sie stumm. »Nein.«

Da fiel ihr entsetzter Blick auf die vermummte Gestalt neben dem Scheiterhaufen. Ein Mann in einer schwarzen Mönchskutte hielt noch die brennende Fackel, mit der er dieses Inferno entfacht hatte.

Langsam wandte er sich zu Karen um. Sein weißes Gesicht schimmerte bleich in dem Schatten der Kapuze seines Umhangs. Dorian Prior, erkannte Karen. Und was sie sah, war jener Augenblick, da er Phoebe tötete, sie als Hexe verbrannte. Eine Vision, wusste Karen, doch trotz dieses Wissens schnürte nackte Angst ihr die Kehle zu.

Dorian Priors starrer Blick aus hellen Augen bohrte sich in ihre Seele. Sie meinte, er wolle sie herauszerren aus dem schützenden Kokon ihres Körpers. Bloß gelegt und den Aasfressern zum Nachtgelage vorgeworfen wie der verkohlte Körper der Frau auf dem Scheiterhaufen.

Sein sinnlicher Mund grinste verächtlich und im Weiß seiner kalten Augen spiegelten sich die hellen Flammen des Höllenfeuers, in dem Phoebe brannte.

»Sin’amdh by fiosagium thu orth aoisengh.«

»Wir werden dich kennen für Jahre«, flüsterte Calman und als bräche ein zwingendes Band, verschwand die fürchterliche Vision. Hastig riss Karen ihre Hand aus der Manteltasche und schleuderte die Fibel mit aller Kraft von sich. Was dieses Teufelsding sie sehen ließ, wollte sie nie wieder erleben.

Wie von Furien gehetzt rannte sie zu Calman. Ihr war egal, ob sie das Ritual störte und damit den Zorn der ganzen Familie oder aller Götter dieser Welt auf sich zog. Sie brauchte ihn, wollte seinen Halt.

Zitternd vergrub sie ihr glühendes Gesicht an seiner Brust. Schützend legte Calman seine kalten Arme um sie, ohne zu fragen, was geschehen war und warum sie zu ihm gerannt kam. Gebannt starrte er wie alle anderen in die lodernden Flammen.

Zögernd sah auch Karen auf. Doch anstatt wie befürchtet, die zu schwarzem Fleisch verbrannte Frau zu sehen, erwartete sie das Bild zweier Menschen. Malcolm und Phoebe standen inmitten der hungrig lodernden Flammen. Einen kurzen Augenblick erstrahlte ihre Erscheinung heller als das Feuer. Dann waren sie verschwunden.

»Hast, hast du das auch gesehen?«, murmelte Karen.

Calman nickte.

»Ja«, flüsterte er. »Weißt du noch, dass ich dich vorhin danach fragte, ob du an die unsterbliche Seele glaubst, und dass nicht nur Menschen sie besitzen?«

Karen lächelte und nahm seine Hand. »Daran habe ich nie gezweifelt.«

Und manchmal kehren sie zurück, um die Dämonen zu vertreiben, dachte sie und strich sanft über die Finger des Hirudo.