~ 2. Kapitel ~
In dem der Wächter besondere Puppen bewundert
und auch einen besonderen Auftrag erhält
Als Erstes half er ihm, sich anzukleiden. Er berichtete von seinen Träumen und was sie ihm erzählt hatten. Wirre, finstere Träume, angefüllt mit visionärer Erleuchtung. Aus diesen Träumen schöpfte ER SEIN Wissen. Sie waren eine Botschaft und wiesen ihm wie eine hell strahlende Aureole den Weg durch die Dunkelheit dieser Menschenwelt.
Dann sagte er ihm, was zu tun war, und als der Wächter schon glaubte, er habe ihn vergessen, zog er seinen Dolch hervor und schnitt damit in das weiße Fleisch seiner Hand.
Gierig trank der Wächter das sprudelnde, süßwarme Blut, und als der Strom zu fließen aufhörte, stieß er ihn mit angewidertem Gesichtsausdruck fort. Das machte nichts. Der Wächter war glücklich wie ein satter Käfer und voll bis oben hin. Jetzt konnte er ganz ruhig und ohne einen Fehler zu machen, seinen Auftrag erledigen.
Gemeinsam machten sie sich auf den Weg in das Haus im Ostteil Londons.
Dieses Haus nannte ER das WAX. Dorthin brachte ER seine Frauen und gewährte ihnen Nächte voller Schönheit und verhalf ihnen sogar zu einigem Ruhm. Er wandelte sie zu unvergleichlich schönen Geschöpfen. So bezaubernd und einmalig, wie sie zu Lebzeiten nie waren. Und die Besucher des WAX wunderten sich darüber, wie echt seine Wachspuppen aussahen.
Wie sie wohl reagiert hätten, wenn sie wüssten, dass diese Puppen noch vor gar nicht allzu langer Zeit geatmet, gelacht und in die Bahnhoftoilette gekotzt hatten? Kurz, dass sie Menschen gewesen waren. Menschen wie sie. Bestimmt hätten sie IHN und seine Art zu Leben nicht verstanden. Das war ja auch der Grund dafür, dass niemand wissen durfte, wo er tagsüber schlief und nachts jagte.
Im WAX angekommen, konnte der Wächter nicht anders. Wie ein Träumer betrachtete er mit verklärtem Blick die dort ausgestellten Figuren. Ihr Anblick versetzte ihn in entrücktes Staunen. DER GESCHÜTZTE ließ ihn gewähren, denn jetzt im Winter waren die Nächte lang und sie mussten sich nicht beeilen.
Die Puppen waren heute besonders hübsch anzusehen. Er entdeckte sofort, dass auch wieder ein paar neue dazugekommen waren. Die erkannte er an den noch glänzenden Augen. In dem fahlen Licht der schwachen Glühbirnen funkelten sie viel lebendiger als die derer, die schon länger dort waren.
Sein Herz tat einen Sprung. Eine, im roten Kleid saß dort auf einem der Sessel. Die war bestimmt als Geschenk für seine gute Arbeit und nur für ihn gemacht. ER konnte manchmal so rücksichtsvoll sein. Verliebt streichelte der Wächter über das blonde Haar der Menschenpuppe.
Oh, er erinnerte sich an die erste Rote. Ein Jahr war das nun her und er selber war damals ein ganz anderer als heute. Zu jener Zeit besaß er noch einen Namen, trottete jeden Morgen zur Arbeit in die Schuhfabrik und betrank sich am Abend mit den vielen Menschen, die sich seine Freunde nannten. Jetzt erinnerte er sich an keines der vielen Gesichter und auch sein Name wollte ihm nicht mehr einfallen. Dass er Turner hieß, wusste er nur, weil ER ihn so nannte. Ob ihn die Menschen damals schon so riefen, daran konnte er sich beim besten Willen nicht erinnern.
Damals war er niemand. Er war ein Niemand, bis zu jenem Abend, an dem er das Geschäft des Geschützten betrat und er ihn voller Gnade in seine Obhut nahm.
In SEINEN Armen war er gestorben und wieder auferstanden. Er fürchtete sich schon damals nicht. Nicht einmal, als ER ihn blitzschnell bei den Haaren gepackt, ihm den Kopf zurückgebogen und ihm seine scharfen Zähne in den Hals gerammt hatte. Sein Herz hatte wild geschlagen und er hatte nicht mehr atmen können. Er war zu Boden gefallen, doch er hatte ihm aufgeholfen und ihm zu trinken gegeben. Da hatte das Toben aufgehört und er sich klarer und wacher als jemals zuvor gefühlt.
So wie jetzt. Dass er dabei an IHM hing wie ein Hund an der Leine, störte ihn wenig. Dieses Leben war geil. Dieses neue Leben war voller Abenteuer, Abenteuer, von denen er bislang nur hatte träumen können.
Jetzt stand er meilenweit über diesen anderen Wichsern, die ihr jämmerliches Leben wie ein Haufen blinder Ameisen fristeten. Das gab ihm das Gefühl, gar nicht mehr von dieser Welt zu sein.
Turner war der Realität entronnen und der Wächter eines Vampirs namens Dorian Prior, der von ihm jedoch »der Geschützte« genannt wurde.
An SEINER Seite zu stehen und alles zu tun, was ER von ihm verlangte, war nicht immer leicht. Er musste verdammt aufpassen, dass er ihm nicht in einem Anfall rasender Wut den Kopf abriss. Dazu war er durchaus in der Lage. Dem Wächter wurde einst die Ehre zuteil, ihm bei einer solchen Tat zuzusehen.
ER hasste Fehler. Trotzdem war das Leben mit IHM einfach nur fantastisch.
Jetzt hörte er wieder Seine wispernde Stimme in seinen eigenen, schwachen Gedanken. Er erklärte ihm ganz genau, was er tun sollte. Heute Nacht erteilte er ihm einen besonderen Auftrag. Da war eine Bar am Square, in die diese Vampire gingen. Auch er war oft dort und schleppte Frauen ab, die er dann für seinen Laden herrichtete. «The porch», hieß der Laden. «The porch», das Tor. Auch das Tor zu Turners Glückseligkeit, wenn er seine Sache gut machte.
Er sagte ihm, dass er die Frau, die dort bediente, ins WAX bringen sollte. Unterdessen wollte er ihren Empfang vorbereiten.
Sie durfte nicht wissen, dass Dorian Prior ihn schickte und auch keine Gelegenheit haben, jemandem mitzuteilen, wohin sie ging.
Er gab ihm jedes einzelne Wort vor, dass er ihr sagen sollte. Ihm blieb eine Stunde, um seine Aufgabe zu erledigen. Und zwar gut zu erledigen, wenn er den nächsten Tag erleben wollte. Die Drohung klang ernst und er war sicher, dass ER sie wahr machte.