4. Kapitel

 

«So, der Herr, det war der Letzte!», verkündete der junge Mann, den sie als Gepäckträger aus der Masse von Obdachlosen auf dem Bahnhof angeheuert hatten. Unter angestrengtem Stöhnen stemmte er den braunen Lederkoffer auf die Gepäckablage.

«Ich danke Ihnen. Hier, das ist für Sie!» Lucas drückte ihm einen zwanzig Markschein in die Hand. Er musste ein Grinsen unterdrücken. Wer sich so nachdrücklich anstrengte, verdiente auch ein großzügiges Trinkgeld.

«Mönsch! Vielen Dank ooch. Und jute Fahrt wünsch ick noch zu haben.» Mit einem schmuddeligen Taschentuch wischte er sich die dicken Schweißperlen von der geröteten Stirn, aber mit einem glücklichen Grinsen verließ er das Abteil.

Ein amüsanter Kerl, auch wenn es Lucas denkbar schwerfiel, ihn aufgrund seines Akzents zu verstehen. Ihm gefiel die Art der Leute in dieser Stadt. Ihr robustes Gemüt, das düstere Laune nicht lange zuließ, obwohl sie leidenschaftliche Schimpfer waren. Immer verriet ihre Aufregung auch, wie viel Spaß ihnen die täglichen Querelen machten. Sogar denen, die hier in den Hallen des Bahnhofs herumlungerten, haftete so etwas wie trotziger Lebensmut an. Ihre Lebensfreude wirkte ansteckend, und wie immer fühlte er sich sehr wohl in der kurzen Zeit, die sie hier in Berlin verbrachten.

Bei Seamus sah das anders aus. Er hielt die Leute in dieser Stadt für hoffnungslose Großmäuler und chronisch übellaunig. Darin war sein Freund Seamus ihnen gar nicht so unähnlich, fand Lucas, sprach das jedoch nicht laut aus. Und dort, wo Lucas Obdachlose und hungrige Kinder sah, sah Seamus Säufer und Junkies, die auf den Strich gingen und nur auf eine Gelegenheit lauerten, unschuldige Passanten anzufallen.

Seamus war ganz in seinem Element, wenn er sich über die hier herrschenden Zustände auslassen konnte, und dazu fand er stets reichlich Gelegenheit.

Jetzt saß er mit schlecht gelaunter Miene auf seinem Platz und blinzelte düster auf den hell beleuchteten Bahnsteig. Lucas fand eigentlich nicht, dass es ausgerechnet an diesem Bahnhof etwas auszusetzen gab, aber Seamus war er zu laut, zu dreckig und viel zu voll.

«Du bist selbst schuld. Wir hätten ein Flugzeug nehmen können.»

Diese Bemerkung brachte ihm ein abfälliges Schnauben und einen bösen Blick als Kommentar ein. Abscheulich von ihm, Seamus immer wieder damit aufzuziehen, doch die Verlockung war einfach zu groß.

In ein Flugzeug zu steigen und dadurch eine Reise, die mit dem Zug mehrere Stunden dauerte, auf einen Bruchteil dieser Zeit zu reduzieren, war für Seamus schlichtweg undenkbar. Seine unbegründete Flugangst war manchmal zum Verzweifeln, und mehr als einmal war Lucas schon kurz davor gewesen, ihn in ihrem Haus in Genf zurückzulassen. Einfach ohne ihn durch die Spiegel zu gehen. Auf die war Seamus nämlich noch schlechter zu sprechen als auf Flugzeuge. Er betrachtete es als Sakrileg, die ihnen gegebenen Talente zu benutzen, außer im absoluten Notfall. Dabei hasste er diese langen Reisen mindestens genauso sehr wie Lucas.

Doch was die Talente anging, hatte er seine heiligen Prinzipien, und in Flugzeugen packte ihn die Angst vor einem Absturz, einem Feuer oder vor dem, was sonst noch alles geschehen konnte.

Ein absolut widernatürliches Verhalten. Denn, wenn er nicht gerade mit dem Hintern auf einer Bombe saß, die ihn im Augenblick ihrer Detonation in Stücke riss, oder er von einem umherfliegenden Gegenstand geköpft wurde, was gar nicht so einfach zu bewerkstelligen war, dann war es praktisch unmöglich, dass sie als Hirudo einen Absturz nicht überlebten.

Doch so mussten sie wertvolle Nachtstunden damit vergeuden, in einem Zug über das Land zu kriechen, aufwendige Übernachtungen und obligatorische Verspätungen im Fahrplan in Kauf nehmen, anstatt mit dem Flugzeug ihre gesamte Reisedauer erheblich zu verkürzen.

Seamus wollte davon nichts hören und damit Schluss! Stattdessen wies er ständig auf die Vorteile einer Zugfahrt hin. Dadurch bliebe viel mehr Zeit, um die Geschäftspapiere noch einmal gründlich durchzuarbeiten und sich so viel besser auf den nächsten Termin vorzubereiten. Zwecklos, ihn daran zu erinnern, dass dafür wesentlich weniger Zeit nötig war, als die streckenweise mehr als fünf Stunden Fahrt.

Wollte er Seamus bei sich haben und ihn nicht beleidigen, musste er seine Macke und die damit verbundenen Konsequenzen in Kauf nehmen.

Also machte er es sich mit ihm in einem und noch einem und noch einem weiteren Abteil gemütlich. Gab vor, als wühle er hochbeschäftigt in wichtigen Unterlagen, las ein Buch oder stattete den Gepäckwaggons einen Besuch ab. Dort hielt sich immer wieder der eine oder andere blinde Passagier auf. Menschen ohne Vergangenheit und mit nicht viel weniger zu verlieren, als die Erinnerung an die kurzen Minuten, in denen er sich an ihrem Blut satt trank und sie dann unbehelligt weiterschlafen ließ.

Hauptsache Seamus wusste sich sicher und zufrieden auf festen Erdboden. Jetzt sah er jedoch weniger zufrieden aus, und das lag wohl nicht nur unbedingt an dem viel zu dreckigen, viel zu lauten und so weiter Bahnsteig. Ihre letzte Verabredung war nicht ganz so erfolgreich verlaufen, wie zu erwarten gewesen war.

Mit den Jahren war Seamus ein richtiger Profitsammler geworden und außer der Bestätigung seiner Autorität, die Lucas ihm immer wieder durch sein Nachgeben vermittelte, brachte ihm ein fettes Geschäft den richtigen Kick zum Leben.

Und diesmal war Lucas sich bewusst, dass er dieses Geschäft in den Sand gesetzt hatte. Er war abgelenkt, unkonzentriert und nicht fähig seine Aufmerksamkeit länger als ein paar Minuten auf eine bestimme Sache zu richten.

Dass er seine Zerstreutheit nicht lange vor seinem Begleiter verbergen konnte, hätte ihm eigentlich klar sein müssen, doch er versuchte, seine Fahrigkeit zu überspielen. Eigentlich dachte er, seine Sache gar nicht so schlecht zu machen, doch offenbar hatte er sich geirrt.

Seamus war schon immer ein aufmerksamer Beobachter gewesen, und seit ihrer Abreise aus Hamburg bemerkte Lucas, wie er ihn bei den verschiedensten Gelegenheiten mit ausgesprochen misstrauischen Seitenblicken beäugte. Bisher sagte er noch nichts, doch nach dem heutigen Abend rechnete Lucas fest damit, dass er ihn zur Rede stellte.

Was sollte er ihm sagen? Dass sich wieder einmal sein ganz grauenvolles und menschliches Gewissen zu Wort meldete? Dass er wieder das Gefühl hatte, lieber Aimee anstelle von Blanche an seiner Seite zu haben? Dass er glaubte, einen Fehler zu machen, weil er, nachdem seine Wandlung vollendet und sich sein Leben als Hirudo gefestigt hatte, nicht noch einmal zurückgegangen war, um sie und auch das Mädchen nach Genf zu holen?

Gut, alles was einst und vielleicht noch heute dagegen sprach, klang plausibel. Ja, ungefähr so plausibel wie eine schlechte Ausrede. Und das machte ihm schwer zu schaffen. Hätte er sie wirklich in die Familie holen wollen, dann hätte er das auch getan.

«Verdammt noch mal, Junge! Ich ertrage diese Leichenbittermiene keine Sekunde länger», platzte Seamus so laut heraus, dass Lucas erschrocken zusammenfuhr.

Oh je, jetzt geht's los! dachte er und glaubte förmlich in seinem Sitz zusammenzuschrumpfen. Je nach Stimmung bohrte der Ältere solange, bis er mit der Sprache rausrückte oder sich beleidigt abwendete und für die nächsten Stunden kein Wort mehr mit ihm wechselte.

Am liebsten wäre er jetzt einfach verschwunden. Ab in die Spiegelfläche des Fensters neben ihnen und erst wieder rauskommen, wenn Seamus weg war. Aber so lief das nicht. Seamus konnte zur Not hartnäckig wie ein Terrier sein, der sich in seine Beute verbiss. Wenn es hart auf hart kam, konnte er eine Situation wie diese, bis zum Morgengrauen aussitzen.

«Ich weiß nicht, wovon du redest?»

 «So, du weißt also nicht, wovon ich rede?» Seamus stieß ein verächtliches Schnauben aus. «Natürlich weißt du das. Ich rede von deiner vollkommen unangebrachten Reise ins Land der Träume, die uns heute Abend mindestens sechzigtausend Dollar gekostet hat.»

«Das ist doch lächerlich. Der Kerl hätte auch abgelehnt, wenn ich ihm den Palast von Hammurabi angeboten hätte.»

Jetzt wäre eine Gelegenheit, Rat bei Seamus zu suchen, wie er das in den ersten Jahren so oft der Verzweiflung nahe, getan hatte. Doch etwas so Dummes wie Stolz hielt ihn zurück.

Sich derart schwach und unbestimmt zu zeigen, bedeutete, zwanzig Jahre weit in ihre gemeinsame Vergangenheit zurückzufallen, und wieder der Lucas Vale zu sein, der damals zitternd und am Rande des Irrsinns vor dem Haus der Familie am Genfer See stand.

Ein erbärmliches Stück Leben, das unfähig war, den Prozess der Wandlung zu verstehen, und ohne Hilfe zu überleben. Er hatte ihn angefleht, ja, gebettelt hatte er. Er solle ihn aus diesem Zustand befreien und den Dämon, als welchen er seinen Erzeuger Golan damals und zuweilen heute noch sah, vertreiben.

Und Seamus? Zu akzeptieren, dass sein Mentor, der über einhundert Jahre lang wie vom Erdboden verschluckt gewesen war, endlich wieder auftauchte, aber in dem Körper eines Fremden eingesperrt und hinter dessen unzulängliche, menschliche Persönlichkeit gezwungen war, musste unvorstellbar schwer für ihn gewesen sein.

Ihm jetzt zu zeigen, dass gerade Lucas wieder einmal die ganze Bühne für sich beanspruchte, bedeutete, einen erneuten Bruch zu riskieren.

Er schuldete ihm ein Schauspiel. Dass er vorgab, Golans Anteil in ihm sei ebenso stark und unverrückbar wie in Golans eigenem Körper, war Seamus eine Bestätigung für seine eigene Existenz, für seine eigene Stärke.

So mitfühlend und verständnisvoll Seamus auch immer sein mochte; für ihn ist Lucas Vale wie ein Flugzeug - er bedeutete Unsicherheit und Angst vor einem Absturz.

«Du hättest wenigstens versuchen können, ihn noch einige Wochen hinzuhalten. Das wäre ein Leichtes gewesen, und jetzt komm mir bloß nicht mit irgendeiner dummen Ausrede.»

«Das habe ich nicht vor. Ich war abgelenkt, es tut mir leid. Darf ich jetzt wieder spielen gehen?»

Seamus funkelte ihn unter zusammengekniffenen Brauen zornig an. Das war nicht schlimm. Sollte er ruhig wütend bleiben. Das half ihm, den letzten Abschnitt der Reise durchzustehen, ohne sein weiteres Misstrauen zu erregen.

Bald waren sie wieder zu Hause. Innerhalb der grauen Mauern ihres kleinen Heiligtums und in der Sicherheit der Gegenwart der anderen.

Lucas patziges Verhalten zeigte überraschenden Erfolg. Seamus zog sich beleidigt in die Polster seines Sitzes zurück und ließ die Sache auf sich beruhen, vorerst.

 Die Sache war noch nicht erledigt, egal ob Seamus ihn nun in Ruhe ließ oder nicht. Lucas wusste, dass er nicht eher zur Ruhe kommen konnte, ehe er nicht herausfand, warum diese quälende Erinnerung ausgerechnet jetzt zurückkam.