22. Kapitel

 

Karen war klar, dass sie erklären musste, was mit der Statue geschehen war und sie wusste, dass sie nicht lügen durfte. Sie wollte auch gar keine fadenscheinige Ausrede erfinden. Jarout ging Ähnliches durch den Sinn sah sie, denn als sie vor dem roten Vorhang ankamen, zog er Aimees Buch unter seinem Hemd hervor und warf ihr einen nervösen Seitenblick zu.

Die angespannte Erregung, die sie den ganzen Weg nach unten noch gut unter Kontrolle hatte, bahnte sich unaufhaltsam ihren Weg an die Oberfläche und trieb ihr kalten Schweiß auf die Haut. Ihre Hände wurden feucht und ihr war, als vibrierte ihr ganzer Körper vor Anspannung, wie eine zu straff gespannte Saite.

«Ich werde nicht warten, bis er da ist», sagte Jarout leise. «Ich werde ihnen alles erzählen, bevor er sich einmischen kann und sie wieder nur ihm zuhören.»

Karen nickte zustimmend. Das hier war seine Show, sein Teil der Abmachung. Außerdem kannte er seine Familie und wusste ihre Reaktion einzuschätzen. Nicht, dass sie ihm viel Glück wünschte. Eigentlich wünschte sie ihm gar nichts. Sie konnte ja kaum einen klaren Gedanken fassen. Sie hoffte nur, dass Jarout zumindest halbwegs wusste, was er tat.

Mit einem Grinsen, das ihr wegen seiner Bösartigkeit einen Schauer über den Rücken jagte, steckte er das Buch zurück ins Hemd und schlug den Vorhang zur Seite.

Sofort fixierten sie vier Augenpaare und folgten jedem ihrer Schritte, als sie langsam den halben Raum durchquerten, bis sie vor der versammelten Gruppe standen. Auf der Couch hockten die beiden Schwestern mit angewinkelten Beinen und erinnerten mehr denn je an zwei lauernde Vögel, auch wenn ihre Flügel beinahe unsichtbar unter weiten Tüchern versteckt waren. Karen konnte den Blick nicht von den beiden abwenden. Der Schrecken der vergangenen Nacht steckte ihr noch immer in den Knochen. Wie bleich sie aussahen. Ihre Haut glich weißem, glattpoliertem Stein, und die vollen Lippen leuchteten viel zu rot. Aber am schlimmsten waren ihre Augen. Eiskalte Edelsteine, die das Licht einfingen und auf geradezu gespenstische Art reflektierten. Ihr Blick war grausam und verriet unmissverständlich, dass weder Gnade noch Mitleid jemals darin liegen konnte.

Entsetzt erkannte Karen, dass die größere, dunkelhaarige von beiden ein Fragment des Kopfes der Statue im Schoß hielt. Eiskalte Marmoraugen fesselten ihren Blick, unbewegt und starr, als wäre sie selber aus Stein. Schnell wandte Karen den Blick ab. Doch das Gefühl, von widerlich tastenden Händen berührt worden zu sein, ließ sie nicht mehr los.

Blanche stand neben einer hübschen, molligen Frau mit freundlichem Puppengesicht vor dem Kamin. Blanches ebenmäßige Züge verbargen perfekt, was immer sie gerade dachte, doch in ihren Augen spiegelte Besorgnis. Die Frau neben ihr zeigte ganz offen ihre Bestürzung. Verwirrte sie die Verletzung der Gastfreundschaft des Hauses so sehr? Flüchtig fragte sich Karen, ob sie tatsächlich, wie Jarout ihr vorwarf, einen großen Fehler begangen hatte, als sie eine derartige Verwüstung anrichtete. Wie groß war die Wahrscheinlichkeit, dass die Freundlichkeit, die Blanche ihr bei ihrer Ankunft entgegenbrachte, ohne jeden Hintergedanken war? Und auch, dass die Regel - keinen Menschen zu töten, tatsächlich Gültigkeit besaß und nicht nur eine Floskel war?

Oh, Karen, Schluss mit diesem Blödsinn! schalt sie sich selbst in Gedanken. Oder glaubst Du wirklich, dass du ihre sensiblen Gemüter verletzt hast? Wenn sie gekränkt sind, dann doch wohl nur, weil jemand überhaupt die Unverschämtheit besaß, sie anzugreifen. Ein bitteres Lächeln stahl sich auf ihre Lippen.

«Da!», kreischte Eliane so laut, dass alle zusammenzuckten und sich zu ihr umdrehten. «Seht ihr das unverfrorene Grinsen in ihrem hässlichen Gesicht?» Sie sprang von ihrem Platz auf und öffnete mit majestätischem Gebaren ihr verstecktes Flügelpaar.

«Setz dich sofort wieder hin!», schrie Blanche und stellte sich ihr in den Weg. Und an Karen und Jarout gewandt sagte sie leise: «Und ihr beide setzt euch auch!»

Kaltes Entsetzten packte Karen. Sie sollte sich auf einen der Sessel neben diese rasenden Dämoninnen setzen? Auf gar keinen Fall. Sie dachte ja gar nicht daran.

«Das wird nicht notwendig sein. Karen bleibt in meiner Nähe, maman», sagte Jarout und zog Karen an der Hand mit sich, hin zu seiner Mutter.

«Ich werde euch alles erklären und danach, glaubt mir, wird Karen die Letzte sein, der ihr noch etwas vorzuwerfen habt», verkündete er.

Bevor Blanche oder sonst jemand ihn unterbrechen konnte, zog er das Buch aus seinem Hemd hervor. In theatralischer Geste hielt er es hoch und drehte sich einmal in der Runde, damit jeder das Bild auf dem Cover ganz genau sehen konnte.

«Was bitteschön ist das, Jarout?» Blanche klang ein wenig unsicher, denn genau wie die anderen erkannte auch sie Lucas auf dem Buchcover im selben Augenblick, als sie es sah.

«Das hier», sagte er und reichte ihr das Buch, «ist die Wahrheit. Die ganze Wahrheit über euren geliebten Lucas.» Ein besonderer Glanz leuchtete in Jarouts Augen. Fanatismus. Er grinste wie ein Kastenteufel.

«Wusstet ihr, dass euer Prinz noch vor kaum zwanzig Jahren ebenso sterblich und gewöhnlich war wie jeder andere Mensch auf diesem Planeten? Ja, er war nichts weiter als ein Sterblicher. Er ist ein kleiner, dreckiger, verlogener Bastard!», rief er. «Wenn ihr das nicht glaubt, dann das, was diese Frau, die dieses Buch geschrieben hat, über ihn zu sagen hat. Karen ist ihre Tochter - ihre und Lucas. Karen ist der Beweis, dass ich die Wahrheit sage.»

Blanches Augen glühten dunkel. Mit unbewegtem Gesicht trat sie einen Schritt vor und versetzte ihm eine schallende Ohrfeige, die wie ein lauter Schuss in der betroffenen Stille im Raum klang.

«Du wirst sofort aufhören, so über deinen Vater zu sprechen!» Vergessen war die elegante Frau, die mit vornehmer Zurückhaltung Gäste bewirtete. Ihr wutverzerrtes Gesicht verwandelte sie in ein Wesen aus Fleisch und Blut, das ebenso die Beherrschung verlieren konnte wie eine ganz gewöhnliche Frau.

Jarout hielt sich die Wange und blitzte seine Mutter aus zornigen Bernsteinaugen an.

«Das werde ich ganz bestimmt nicht. Er hat euch alle genau wie mich belogen. Sogar Denis ist älter als er. Lucas ist ein Niemand. Hier lies!» Er hielt Blanche das Buch hin. «Lies es selbst. Er kam während seiner Wandlung zu dieser Frau. Eines der Tore in Melacar brachte ihn dorthin. Und hier ist Karen.» Jarout packte Karens Schulter und zog sie näher heran. Sie versuchte sich loszureißen, doch sein Griff war erbarmungslos. Wie kam er dazu, sie so brutal vorzuführen? Doch jetzt war er in seinem Element und duldete keine Gegenwehr. Er hätte sie, wenn nötig, bewusstlos geschlagen.

«Oh, Jarout», sagte Blanche kopfschüttelnd und sah ihn mit einer Mischung aus Mitleid und immer noch schwelendem Zorn in den Augen an.

Beryl brach in schallendes Gelächter aus.

«Einen solchen Beweis hättest du auch von dir selbst bekommen können. Armer kleiner Jarout», rief sie und warf laut lachend den Kopf in den Nacken. «Bei jedem Blick in den Spiegel hattest du ihn vor Augen. Zwanzig Jahre lang.» Eliane fiel in das zotige Lachen ein.

 «Still!», rief Blanche. «Ihr habt kein Recht, ihm auch nur das kleinste Sterbenswörtchen zu sagen. Das ist ganz allein Lucas Sache.»

«Was meint sie denn damit?», fragte Jarout und provozierte durch die Unsicherheit in seiner Stimme neue Belustigung bei den beiden.

Beryl öffnete den Mund. Sie brannte darauf, ihm zu antworten. Doch als Blanche ihr einen drohenden Blick zuwarf, zog sie den kürzeren und schloss wieder den Mund.

 «Was zum Teufel ist hier los?», fragte Jarout. Er sah jetzt so verwirrt und hilflos aus und auch Karen verstand nicht, was eigentlich geschah. Hatte er nicht behauptet, dass sie alle schockiert und mit rasendem Zorn auf Lucas Betrug reagieren würden? Er war sich so sicher gewesen. Doch was sie sah, war, dass irgendetwas gründlich schief lief. Seine Felle schwammen mit geradezu atemberaubender Geschwindigkeit davon. Und was war mit ihr? Was bedeutete das für sie? Panisch huschte Karens Blick von einem zum anderen. Unwillkürlich klammerte sie sich fest an Jarouts Hand. Oh, Himmel hilf mir, was passiert hier nur? betete sie stumm.

Blanche öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch dann ging ihr Blick an ihnen vorbei. Karen drehte sich um, und im selben Augenblick stockte ihr der Atem. Sie glaubte, der Boden müsste sich unter ihr auftun, als sie sah, was, oder vielmehr wer, Blanche ablenkte.

 «Ich hätte dir schon längst alles sagen sollen, doch wir hielten es für besser, wenn du erst später die Wahrheit erfährst.» Mit seinen ruhigen, beinahe farblos hellen Augen blickte der rothaarige Mann in die Runde, die sich ihm zu Ehren versammelt hatte. Das also war er, ihr Vater, der Vater dieser Familie. Lucas Vale.

Als erlösche eine eben noch hell strahlende Flamme, zerstob das Phantom ihrer Kindheit zu einem Nichts. Und im nächsten Augenblick verblasste auch der Glorienschein, den Aimee mit ihren Geschichten um Lucas wob. Karen blinzelte und sie fühlte sich so benommen, als wäre sie gerade aus einem langen Traum erwacht.

Wie in Zeitlupe sah sie Lucas näherkommen. Ein kleiner Mann, kaum größer als sie selbst, mit halblangem, roten Haar, das wie ein zweites Feuer im Widerschein der Flammen des Kaminfeuers schimmerte. Mit ernstem Blick aus seinen hellen Augen fing er ihren Blick mühelos ein und hielt ihn fest. Das war gar nicht nötig, denn sie dachte nicht daran, ihm auszuweichen. Sah er sie, sah er, wer sie war, und weshalb sie gekommen war? Karen hörte Stimmen wie von sehr weit her. Jarouts und Blanches Münder bewegten sich, doch sie verstand nichts von dem, was sie sagten. Wie durch eine unsichtbare Wand, durch die außer Lucas nichts anderes drang, waren sie von ihr getrennt.

Erkannte er sie denn nicht? Wieso wandte er jetzt den Blick ab? Nein! Sie wollte rufen, doch kein Laut kam über ihre Lippen. Sie konnte sich nicht einmal bewegen. Dieselbe Wand, die alles andere ausschloss, hielt auch sie fest und sie konnte nichts dagegen unternehmen. Hilflos sah sie Lucas, an ihr vorbei, zu Blanche gehen und ihre Hand ergreifen, wie er sie an seine Lippen führte und einen sanften Kuss auf ihre schlanken Finger hauchte.

Dann blickte er wieder zu Karen. Und wieder legte sich sein Denken über das ihre. Er kam auf sie zu, immer näher, bis sie den schwachen Duft seines Parfüms riechen konnte. Mit dem Finger der rechten Hand strich er leicht, ganz leicht über ihre Stirn und die Wange entlang.

Er liest mich, dämmerte Karen und Panik riss wie eine übermächtige, alles verschlingende Flut jegliche Kontrolle in ihr nieder. Wie konnte er wagen, sie auf diese Art zu berühren? Nein, das durfte sie nicht mit sich geschehen lassen. Verschwinde aus mir! schrie sie so laut sie konnte. Nimm deine gottverdammten Finger weg! Die Berührung seiner Gedanken war wie ein kalter Windhauch, der mit lähmenden Eisfingern bis in ihr Innerstes drang.

Doch niemand außer Lucas konnte sie hören. Und wenn doch, wen scherte, was er ihr antat?

Eine Hand drängte sich zwischen sie. Jarout beschloss, dem Spuk ein Ende zu bereiten und packte Lucas Schulter. Er riss ihn gewaltsam herum, und im selben Augenblick, da er den Blick von Karen abwandte, lösten sich auch die unsichtbaren Fesseln von ihr.

«Was meinst du damit, du hättest mir schon lange alles sagen sollen?», schrie Jarout und seine Stimme überschlug sich vor Wut.

Karen musste Halt an einem der Stühle suchen, sonst wäre sie wie ein Stein zu Boden gefallen. Blanche legte stützend einen Arm um sie. Benommen schüttelte Karen den Kopf und unternahm den halbherzigen Versuch, sich gegen sie zu wehren. Sie brauchte ihre Hilfe nicht.

«Die Wahrheit, Jarout. Die Wahrheit über mich und Golan und diese Familie. Glaub mir, ich wollte dir sagen, wer du bist und wer ich bin und ...», antwortete Lucas seinem Sohn und Karen unterbrach ihn mit bebender Stimme: «Und wer ich bin? Das hast du doch nicht etwa vergessen, Lucas Vale, du herzloser Scheißkerl. Los, komm schon, sag ihnen, wer ich bin!»

Jetzt fühlte sie sich wieder vollkommen klar und wischte mit einem Ruck Blanches Hand, die sich auf ihrem Arm wie der klamme Fühler eines widerlichen Insekts anfühlte, fort.

«Soll das heißen, alle haben davon gewusst?», fragte Jarout, und sein Blick jagte von einem zum anderen, «ihr habt davon gewusst? Sogar dieser Idiot?» Er zeigte auf Denis, der sich schutzsuchend hinter Seamus stellte.

Beryl lachte rau. «Allerdings. Was hast du denn gedacht? Dass man uns so leicht täuschen kann?»

«Dein Vater kam als Golans Erbe zu uns», fiel Seamus ihr ins Wort und trat einige Schritte vor.

«Doch keiner außerhalb der Familie hätte ihn als Oberhaupt akzeptiert, hätten wir ihnen sein wahres Alter verraten», ergänzte Blanche. Sie stellte sich neben Jarout und versuchte, ihre Hand auf seine Schulter zu legen, doch mit einem wütenden Hieb schlug er ihren Arm beiseite.

«Nein, so einfach kann das nicht sein? Ich glaube das nicht! Was ist mit Arweth und Calman? Wussten sie auch davon?», rief er aus.

«Wen interessiert das denn schon? Siehst du nicht, dass dein toller Plan nach hinten losgegangen ist?», schrie Karen. «Keiner von ihnen schert sich auch nur einen Dreck um deine alberne kleine Intrige.» Sie sah Lucas direkt an. Sollte er wieder versuchen sie einzulullen, sollte er sie kennenlernen.

«Na, was hast du jetzt vor, Vater? Hier steht der einzige Beweis für das, was wirklich geschehen ist. Sieh mich an! Eine bessere Gelegenheit, ein für alle Mal reinen Tisch zu machen, wirst du nicht bekommen, denn ich werde sie dir nicht geben. Komm schon, tu ihnen den Gefallen! Bestimmt sind schon alle ganz wild drauf zu sehen, wie du deine Kinder umbringst, um dein Leben zu retten.» Sie bebte am ganzem Körper und fühlte sich dennoch ruhiger als je zuvor.

«Wir sind die einzigen Zeugen», sagte sie mit lauter, fester Stimme, «und ich werde dir ganz sicher nicht den Gefallen tun und einfach wieder verschwinden, damit du mich vergessen kannst.»

In Lucas Gesicht trat ein Ausdruck verzweifelten Schmerzes und auch Hilflosigkeit. «Oh, nein», flüsterte er, «damit ist jetzt Schluss!» Er sah jeden Einzelnen von ihnen mit traurigem Blick an.

«Ich ... ich ertrage das auch nicht mehr länger. Viel zu lange schon verleugnete ich alles wirklich Wichtige in meinem Leben und erfand sogar Ausreden.» Er sah Karen an. «Ich erwarte nicht, dass du mir verzeihst, ich erwarte nicht, dass irgendjemand mir verzeiht. Das kann ich nicht erwarten, das wäre zu viel verlangt. Aber ich kann versuchen, einiges von dem wieder gut zu machen, was ich anrichtete. Jarout!» Lucas Blick ging zu Jarout, der ihn mit misstrauisch-finsterem Gesichtsausdruck anstarrte. «Die Familie wusste von meinem wahren Alter und auch von Aimee. Sie entschieden, das geheim zu halten, weil Golans Persönlichkeit und seine Erinnerungen praktisch vollständig in mir erhalten sind. Ihre Absicht war es, auf diese Art Streitereien und Zweifel der Hirudo außerhalb der Familie zu vermeiden. Sie sagten mir auch, ich müsse alle Beweise für meine wahre Vergangenheit entweder auf unsere Seite holen oder auslöschen. Aimee war damals psychisch schon so verwirrt, dass sie keine ernst zu nehmende Gefahr mehr für uns darstellte und ich beschloss, sie in Frieden zu lassen. Dich brachte ich hierher. Karen musste ich zurücklassen, weil ... ich wurde überrascht und musste fliehen. Ich sagte ihnen bei meiner Rückkehr nicht, dass du nicht das einzige Kind warst, das Aimee und ich hatten.»

«Karen.» Jarout verstand. Karen war ... sie war mehr als nur jemand, dessen Vater zufällig auch sein eigener war. Und er selber? Ihre Mutter, Aimee, war auch seine Mutter. Karen war seine Schwester. Ihre Eltern waren auch seine. Lucas sein Vater. Aimee seine Mutter, die er nie kennenlernte. Karen, seine Schwester, die er niemals sah. Er selber, nur durch einen Zufall hier. Und sie alle haben davon gewusst. Sie alle haben davon die ganze Zeit über gewusst.

Karen hörte fassungslos Lucas Worte und bemerkte dabei als Erste das gefährliche Leuchten in Jarouts Augen. Er blickte sie einen Moment direkt an. Im nächsten Augenblick stürzte er mit einem markerschütternden Schrei, der an das Heulen eines verletzten Tieres erinnerte, auf Lucas zu. Einen Moment lang umarmten sie einander wie zwei im Tanze vereinte Liebende und taumelten unter dem Ansturm von Jarouts Sprung gegen den Esstisch. Lucas suchte an einem Stuhl halt. Doch der rutschte unter seinem unsicherem Griff weg. Krachend polterte er zu Boden, als Jarout die Haare seines Vaters packte und ihm den Kopf brutal nach hinten zwang.

Sein Mund war weit aufgerissen und die spitzen Fänge sahen aus wie Giftzähne einer tödlichen Schlange. Mit der Brachialgewalt eines völlig außer Kontrolle geratenen Raubtieres rammte er sie mit voller Wucht in Lucas schutzlose Kehle. Völlig überrumpelt von der Wucht und der Kraft des Angriffs blieb ihm nicht einmal die Zeit, über Gegenwehr nachzudenken.

Alle standen wie unter einem lähmenden Schock. Niemand war fähig, Lucas zu Hilfe zu kommen. Erst Blanches entsetzter Schrei löste den schrecklichen Bann. Seamus rannte los. Doch Karen war schneller. Ohne nachzudenken, sah sie nur, dass Jarout Lucas umbrachte. Das durfte nicht sein. Nicht jetzt! Niemals! Und wie aus einem Instinkt heraus warf sie sich auf Jarout, krallte mit beiden Händen nach seinem Gesicht, seinen Augen. Blind und ohne Rücksicht darauf, dass er nach ihr schnappte und sich die rasiermesserscharfen Spitzen seiner Fänge auch in ihre Finger und Handgelenke bohrten.

Immer wieder rutschten ihre Finger von Jarouts blutverschmiertem Gesicht ab. Einen irrwitzigen Augenblick lang musste sie daran denken, dass sich nun auf seltsame Art das Blut von Vater und Kindern wieder vermischte. Sie spürte Hände auf ihren Schultern, die sie von ihm fortreißen wollten, und schickte einen Gedanken los, der denjenigen, der versuchte sie aufzuhalten, mit einem gnadenlosen Schlag durch das halbe Zimmer katapultierte. Schrille Schreie drangen in ihr Bewusstsein. Worte ohne Bedeutung wurden gerufen, Namen. Wieder Hände.

Endlich drehte Jarout sich zu ihr, packte ihre Handgelenke und zog sie zu sich heran. Sie spürte seinen Atem, roch das warme, metallene Aroma seines, ihres und Lucas Blutes darin. Wir sind verloren, dachte sie, ohne zu wissen warum. In Jarouts Augen sah sie, dass er sie hören konnte. Du, Lucas Vale und ich. Verloren.

Dann kam der Schmerz. Schlagartig und unerwartet brach er über sie herein. Seine Allesverschlingende Flut riss sie mit sich fort, ließ sie leer zurück und erfüllte zugleich jede Faser ihres Denkens und Fühlens, als Jarout seine Fänge in die dünne Haut ihrer Kehle grub.

Dunkelheit umspülte sie mit eiskaltem Sog, in dem die aufgebrachten Stimmen um sie herum zu einem fernen Flüstern verhallten.

Karen spürte ihren Körper in atemberaubender Geschwindigkeit taub werden. Sie schwebte und fühlte im selben Moment, dass sie fiel. Und dann nichts mehr. Nur noch Schwärze, Kälte. Ein letztes Aufbegehren, ehe allumschließende Nacht sie endgültig forttrug.