~ 2. Kapitel ~
In dem eine weite Reise notwendig wird
Jarout antwortete nicht auf sein Rufen. Besorgt lauschte Calman in die Wohnung hinein. Nicht das leiseste Geräusch war zu hören. Im Hausflur flüsterte Karens Atem und Herzschlag. Von ihrem Bruder jedoch konnte Calman nicht das geringste Lebenszeichen wahrnehmen. Da stimmte doch etwas nicht.
»Ah«, schrie er laut, als er eine Berührung an der Schulter spürte. Erschrocken wirbelte er herum. Hinter ihm stand Jarout und grinste ihm frech ins Gesicht.
»Buh«, machte der junge Hirudo und lachte.
»Verflucht, du Idiot, was soll das?«, schimpfte Calman. Das Herz schlug ihm bis zum Hals. Vor Schreck war er außer Atem.
»Krieg dich wieder ein. Hier!« Jarout ließ ein Stück Papier vor Calmans Gesicht flattern. »Schau mal, was ich gefunden habe.«
»Was ist das?« Calman wollte ihm den Zettel aus der Hand reißen, doch Jarout zog ihn schnell zurück.
»Das, mein lieber Suchender, ist, wonach dich verlangt. Nicht der Heilige Gral, aber nahe dran.« Jarout ließ seine weißen Fänge blitzen. Er sah so triumphierend aus wie eine Katze, die einen Vogel im Flug gefangen hatte.
»Gib schon her!«, schnauzte Calman ungeduldig und diesmal überließ Jarout ihm das Blatt.
Flugbestätigung Dorian Prior Donnerstag 14. Januar
23:55 von Heathrow nach Köln – zurückrufen!!!
Er konnte kaum glauben, was er las. Eine Flugbestätigung für Dorian. Vom Vierzehnten. Das war gestern Nacht. Nach Köln. Und keine Frage, wer Dorian Prior war. Er war der Hirudo, dessen Wächter Turner war.
»Na, und was habt ihr inzwischen gemacht?«, fragte Jarout erwartungsvoll.
»Wo hast du den Zettel gefunden?«
»Gleich neben dem Telefon. Das übrigens nicht funktioniert, falls dich das interessiert.«
»Kein Problem. Ich werde Arweth und Lucas von der Telefonzelle aus anrufen. Wie ich Arweth kenne, wird er gleich hinter diesem Mistkerl herwollen.« Jarout nickte.
»He, wo ist Karen?«, fragte er, als Calman sich zum Gehen wandte.
»Sie wartet draußen.«
»Kommt sie auch mit?«
»Das werden wir sehen, wenn ich telefoniert habe. Aber die Chancen stehen nicht schlecht, dass Karen uns begleiten wird. Oder willst du ihr beibringen, dass wir sie ins Haus ihrer Mutter bringen?«
Jarout hob abwehrend beide Hände und schüttelte ernst den Kopf. »Bloß nicht. Halt mich da raus! Sie ist ohnehin nicht gut auf mich zu sprechen. Zum einen das und zum anderen werden wir ihre Hilfe vielleicht doch benötigen. Sie ist die Einzige von uns, die Informationen aus den Leuten herausbekommt, von denen nicht einmal die Befragten wissen, dass sie sie haben.«
Erneut erstaunte Calman Jarouts Besonnenheit. War er zu gutgläubig, dahinter Aufrichtigkeit zu vermuten? Zumindest glaubte er aus seinen Worten so etwas wie Respekt herauszuhören. Vielleicht hegte Jarout tatsächlich die aufrichtige Hoffnung, Karen zu versöhnen. Vielleicht.
Karen wartete neben der Eingangstür. Ihr unsteter Blick suchte in der Dunkelheit nach ihm.
»Wir sind hier«, sagte er leise. Sie atmete erleichtert auf. »Jarout ...«, flüsterte sie.
»Ist bei mir. Komm, wir gehen.«
»Wohin?«
»Ich muss mit Arweth sprechen.«
Karen konnte ein verächtliches Schnauben nicht unterdrücken. Verständnisvoll streichelte er kurz ihre Schulter und öffnete dann die Tür. Draußen reichte er ihr Turners Notiz, die sie im Schein der Straßenlaterne las.
»Stehen die Dinge in Genf nicht anders, führt uns unser nächster Schritt nach Köln. Es sei denn, du möchtest in Aimees Haus ... entschuldige, ich meine in dein Haus.«
Karen schüttelte heftig den Kopf. »Auf gar keinen Fall. Ich begleite euch. Und was Arweth dazu sagt, ist mir gelinde gesagt schweineteuer ...«
»Ja, genau. Aber wenn ich dir einen guten Rat geben darf, lass ihn das bloß nicht hören.«
»Und warum nicht, hä? Fallen ihm dann die Ohren ab?«
Jarout lachte laut heraus, doch Calmans Blick brachte ihn abrupt zum Schweigen.
»Das wohl nicht, aber glücklich würde ihn eine solche Bemerkung auch nicht machen.« Er ließ Karen und Jarout zurück und ging zu der Telefonzelle, die er bereits bei seinem letzten Gespräch benutzt hatte.
Während er wählte und dem durchdringenden Tuten lauschte, beobachtete er die beiden. Sie standen da wie zwei Hunde, deren Knochen beim Streit darum verloren gegangen war. Sie belauerten einander. Jarout scharrte mit den Schuhen auf dem Asphalt und Karen tat so, als bewundere sie die Struktur der grauen Hausfassade. Dazwischen warf einer dem anderen immer wieder einen verstohlenen Seitenblick zu. Wenn sie sich nicht bald ... Seine Gedanken wurden jäh von Blanches Stimme am anderen Ende der Leitung unterbrochen.
»Ja, ich bin’s, Calman«, sagte er rasch.
»Oh, du willst sicher Arweth oder Lucas sprechen. Die beiden sind im Arbeitszimmer. Sappho ist eingetroffen. Ich weiß nicht ...«
»Es ist dringend. Sie werden sicher für ein paar Minuten auf Lucas verzichten können. Holst du ihn bitte.«
Er hörte ein Seufzen und dann ein klackendes Geräusch, als Blanche den Hörer auf dem Tisch ablegte. Aufmerksam lauschte er auf die Hintergrundgeräusche. Das leise Öffnen und Schließen einer Tür, Schritte, gedämpfte Stimmen. Vor seinem inneren Auge sah er den spiegelnden Marmor in der Halle, die lange, gewundene Treppe und das große Dove-Gemälde an der Wand daneben. Dann schob sich das Bild seiner Schwester vor diese Vision. Sappho, wie er sie zuletzt in ihrem Domizil sah. Ihre schlanke, groß gewachsene Silhouette zeichnete sich unter dem transparenten Stoff ihres weißen Kleides ab. Eine Haube aus gestickten Perlen und Federn schmückte ihr Haupt und langes, seidig schwarzes Haar schmiegte sich ihr an Wangen und Hals.
So war sie ihm von ihrer letzten Begegnung in Erinnerung. Und er verstand nicht, warum sie immer noch in Tepoca war. Immer noch in dieser gott- und menschenverlassenen Pyramide hauste. Ihr Volk war nur noch eine Nation von Geistern. Trotzdem schimmerten in den Augen seiner Schwester immer noch die Feuer blutiger Rituale. Hell flackernder Schein erleuchtete den nächtlichen Himmel. Am Fuße des monumentalen, steinernen Bauwerks tanzten die Krieger und Frauen ihr zu Ehren in leuchtend bunten Gewändern.
Doch entgegen seinem ersten Verdacht war Sapphos Verstand nicht umnebelt und sie alles andere als weltfremd. Sie wusste, dass sie allein und ihr nur noch Parfait, ihr Geliebter, geblieben war. Dennoch weigerte sie sich bewusst, ihren versteckt gelegenen Zufluchtsort im brasilianischen Urwald zu verlassen. Sie zu überreden, nach Genf zu kommen, um ein gemeinsames Vorgehen gegen Maratos zu planen, war ein wortgewaltiger Kraftakt gewesen. Doch jetzt war sie da und Arweth tanzte nach ihrer hochherrschaftlichen Pfeife. Ganz so als käme der Abstieg aus ihrem Olymp einem Wunder gleich.
»Calman.« In Lucas Stimme klang ein gereizter Unterton. War die Situation wirklich so angespannt? Calman verkniff sich eine ironische Bemerkung.
»Ja, Lucas. Wir wissen jetzt, wo wir Malcolms Mörder aller Wahrscheinlichkeit finden.«
»Das ist gut, das ist sehr gut. Hör zu, ich habe mit Arweth besprochen, dass dir alle weiteren Entscheidungen in dieser Angelegenheit übertragen werden. Dein Bruder ist im Moment, wie soll ich sagen, zu beschäftigt.«
»Ich verstehe«, brummte Calman. »Dann sag ihm einen schönen Gruß und dass wir in Köln sind. Karen begleitet uns, wenn du nichts dagegen hast.«
Ein kurzes Schweigen folgte. In der Stille konnte Calman Lucas leise atmen hören.
»Nein, ist gut. Aber passt bitte auf sie auf, ja. Besser wäre natürlich, sie bliebe in Aimees Haus, aber ...«
»Nein, ich glaube kaum, dass wir sie dazu überreden können. Du weißt, sie hat das Haus seit damals nicht mehr betreten.«
»Ich weiß«, murmelte Lucas.
Calman wusste, auch Lucas war der Meinung, dass das Haus längst verkauft gehört hätte.
Seit vier Jahren stand das Gebäude leer und verkam immer mehr. Nach dem Verschwinden ihres Stiefvaters Peter, hatte Karen beim Betreten des Hauses schlimme Visionen. Obwohl sie sie nicht zu deuten vermocht hatte, mussten sie doch so quälend sein, dass sie sich geweigert hatte, zurückzukehren. Sie war davon überzeugt, dass Peter nicht einfach nur verschwunden war. Ihrer Meinung nach musste ihm etwas Schlimmes zugestoßen sein. Karens unheilvolle Ahnung hatte sich bestätigt, als sein stark verwester Leichnam Monate später ans Ufer der Themse getrieben wurde. Noch ein Mal hatte sie versucht, die Atmosphäre im Haus ihrer Kindheit zu ergründen. Ohne Erfolg. Danach hatte sie die Tür ein für alle Mal hinter sich geschlossen und überließ das Haus seinem Schicksal.
Zu Lucas Verteidigung musste Calman zugeben, dass er seine Tochter damals mit aller Kraft bei ihrer Suche nach ihrem Stiefvater Peter unterstützt hatte. Doch mit dem Auftauchen von Peters Leiche war auch Lucas Interesse an dieser Angelegenheit verschwunden. Seltsamerweise schien für ihn klar, dass das Thema Peter nun erledigt war. Das vergangene Erlebte seiner Tochter war abgeschlossen wie die Tür zum Haus ihrer Mutter. Lucas Vale konnte sich nun endlich wieder seinem Leben als Oberhaupt der Familie zuwenden. Geschäfte warteten darauf, dass er sich ihrer annahm. Reisen mussten unternommen und Verträge abgeschlossen werden. Er bat Calman, sich Karen anzunehmen. Eine unnötige Bitte, da der Älteste bereits die seltsame Verbindung zu dem Geist des Mädchens spürte. Selbst wenn er gewollt hätte, ihm blieb keine andere Wahl als diese Brücke zwischen seinem und ihrem Selbst zu erkunden. Sein Bedauern galt Lucas. Er wusste gar nicht, was er als ihr Vater an Karen versäumte.
Calman entschied, dass er ihn jetzt besser zu seinem Gespräch zurückgehen ließ. Lucas, in seiner Rolle als Golans Erbe, war mit seinem Kopf und Herzen zurzeit nicht bei seinen Kindern, sondern viel zu sehr bei dem, was in seinem Arbeitszimmer vorging.
»Ich rufe an, sobald wir etwas Neues herausgefunden haben.«
»Ja, ist gut. Viel Glück.«
»Danke.«
Mit einem Gefühl von Resignation, das Karen vermutlich oft Lucas gegenüber empfand, hängte er den Hörer ein.
»Wir reisen nach Köln«, rief er Karen und Jarout zu, als er über die Straße zu ihnen eilte.
Ein breites Lächeln erschien auf beiden Gesichtern. Ausdruck ihrer unschuldigen Freude über dieses unverhoffte Abenteuer. Calman wünschte, diese ungetrübte Begeisterung teilen zu können. Doch er dachte an die Gefahr, die sie am Ziel ihrer Reise erwartete.