~ 4. Kapitel ~
In dem Dorian Prior sich an Vergangenes erinnert
und
Geplantes in die Tat umsetzt
Diese Vampire, diese Hirudo geben ja so gern mit ihrem guten Gedächtnis, ihren zahlreichen Talenten und ihrer Unsterblichkeit an. Sie prahlen mit ihrer unermesslichen Macht und suhlen sich in Selbstzufriedenheit wie fette Maden in faulem Fleisch.
Pah! Gedächtnis. Scheiß drauf! Und scheiß auch auf eure ach so viel gerühmten Instinkte, mit denen ihr gleiches Blut spürt, dachte Dorian Prior. Bittere Laute ohnmächtigen Zorns fanden als dumpfes Knurren ihren Weg aus seiner Kehle.
Nicht einer von dieser Sippe erinnerte sich mehr an ihn als den Mann, den sie vor vielen, so unendlich vielen Jahren in ihre blutbesudelte, lichtlose Hölle der Unsterblichkeit gezerrt hatten.
Mit hasserfüllter Geste fegte Dorian Prior den schweren Vorhang beiseite und betrat sein geräumiges Atelier im hinteren Teil des Gebäudes. Seine Werkstatt war ein einziges Chaos. Überall lagen Stoffreste verstreut, fingen sich lose Fäden in den Werkzeugen, die er zum Nähen der Kleider und dem Anfertigen der Gliederstützen für seine »Puppen« brauchte. Das Make-up, mit denen er ihre Gesichter tönte, legte seine puderigen Pigmentfinger auf sämtliche Oberflächen.
Zu allem Überfluss lag über dem ganzen Szenario auch noch die rote Patina seiner Mahlzeiten. Man mochte meinen, dass hier ein sehr ungeschickter Arbeiter am Werk war. Doch nicht sein Blut war hier vergossen worden, sondern das anderer. Männer wie Frauen. Einige von ihnen waren fast noch Kinder. Keiner von ihnen unschuldig. Alle zahlten hier für ihre Sünden und bereiteten mit ihrem Leid und anschließendem Tod den Besuchern seines kleinen Geschäftes Freude und Staunen.
In gewöhnlichen Nächten störte Dorian Prior sich nicht weiter an dem Durcheinander, doch heute Nacht musste er ein wenig Ordnung in diesen ›unheiligen Hallen‹ schaffen. Schließlich erwartete er hohen Besuch.
Er hatte seinen Wächter geschickt, um Serena zu holen. Seine Schwester Serena. Sie wusste nicht, dass er ihr Bruder war. Dieses ignorante Miststück wusste ja nicht einmal, dass er überhaupt noch existierte. Sie glaubte, er wäre tot. Aber ungeachtet dessen verdiente ihr Besuch einen angemessenen Empfang.
Seine Rache an ihr verlangte eine gewisse Vorbereitung. Ihr Tod sollte stilvoll sein.
Drei Dinge hatte er mit in die Vampirwelt, welche die Hirudo Melacar nannten, genommen. Damals, als er vor beinahe 400 Jahren an jenen schrecklichen Ort gerissen wurde. Gewaltsam hatte ihn der blutige Strom davongetragen. Noch immer konnte er seinen eigenen, gellenden Schrei hören, wenn er sich erinnerte.
Der Vortex der Hölle hatte ihn ohne Erbarmen verschlungen und direkt in den Hort der Dämonen geschleudert. Diese Bestien suchten die Erde und alle auf ihr Lebenden heim.
Erst versuchte er hilflos und zitternd wie im Fieberwahn zu leugnen, dass auch er nun einer von ihnen war. Doch musste er einsehen, dass er verloren war. Obwohl er in hellen Flammen gestanden hatte, was die verblassten Narben auf seinem Leib bewiesen, war er nicht geläutert. Er war ein schrecklicher Teufel, dessen Sünden niemals getilgt werden konnten.
Nachdem ihm das endlich klar geworden war, wollte er die Sühne derer, die ihn seiner einst reinen Seele beraubt hatten. Dann erst konnte er sich in Frieden um seine eigene Erlösung kümmern.
Lange bevor er Melacar endlich verlassen durfte, hatte er etwas für diesen besonderen Moment des Wiedersehens vorbereitet. In einer kleinen hölzernen Truhe mit Messingbeschlägen verwahrte er die Andenken an seinen letzten Tag als Mensch auf Erden.
Behutsam öffnete er jetzt den Deckel der Truhe, die er die übrige Zeit auf einem Tisch wie auf einem Altar mitten in seinem Schrein aufbewahrt hatte. Vorsichtig schlug er das blaue Tuch zurück, das die Andenken einhüllte.
Zuoberst kam eine goldene Fibel* , wie man sie einst zum Schließen von Umhängen benutzte, zum Vorschein. Sie war geformt wie eine geflügelte Sonne. Das Symbol der Heiden und Jünger falscher Götter. Verflucht seien sie alle! Doch er war derjenige, der verflucht war. Denn kaum berührte er dieses Amulett, war er gezwungen, seine Augen zu schließen und sich rituell an jede Einzelheit zu erinnern. Ihr Anblick führte ihn zurück zu jenem Abend, an dem er der Trägerin dieser Fibel zum ersten Mal begegnet war. Phoebe war ihr Name. Mit ihrem verführerischen Hexenleib und aufrührenden Worten hatte sie Unschuldige an den Rand der Sünde getrieben. Er, Dorian Prior, war es gewesen, der sie aufgehalten hatte. Er hatte sie vom Antlitz dieser Erde getilgt. In einem heiligen, reinen Feuer hatte er sie verbrannt. Ihre Rächer, Arweth, Serena und Malcolm, hatten Dorian Prior für diesen Tod bezahlen lassen.
Dorian nahm zwei eiserne, zu einem Halbrund gebogene Stangen aus der Truhe. Mit diesen Eisenstangen, zu Fesseln gebogen, hatten sie ihn auf den Kirchenaltar gebunden. Zu einem blutsaugenden, seelenlosen Monster hatten sie ihn gewandelt und ihm dann seine Kinder und seine Frau zum Fraß vorgeworfen. In seinem Wahn hatte Dorian Prior seine eigene Familie umgebracht.
Erst, als sie alle tot waren, war er wieder zu Bewusstsein gekommen. Aber was war das für ein Bewusstsein? So schwere Schuld hatte er auf sich geladen, dass er glaubte, sie niemals begleichen zu können. Wie sehr müssen seine Frau und die Kinder gelitten haben, als sie den eigenen Vater als blutrünstige Bestie sahen. Dagegen war die Erinnerung an sein eigenes Leid unbedeutend.
Doch auch Dorian Priors Leid war groß. Sein körperlicher Schmerz war unermesslich gewesen, als die Teufel ihn an das Portal der kleinen Kirche genagelt hatten. Sie dachten, das Licht der Sonne würde ihn töten und die Eisennägel ihn halten, wenn sich ein Tor nach Melacar öffnete, um ihn vor dem Verbrennen zu retten. Anstatt in Flammen aufzugehen, hatte ihn jedoch der mächtige Sog des Tores von der Kirchentür losgerissen. Die fest ins Holz geschlagenen Nägel hatten seine Hände zerfetzt. Noch immer waren die knotig aufgeworfenen Narben sichtbar.
Vierhundert Jahre waren seither auf Erden vergangen. Für ihn, Dorian Prior, war jedoch nur ein Jahr verstrichen. Die Zeit in Melacar fließt anders als auf Erden. Eine Erkenntnis und nur eine von vielen, die ihm bei seiner Rückkehr einen gewaltigen Schock versetzt hatte. All die Veränderungen, von den Dämonen in die Köpfe der Menschen geflüstert, ließen die Erde zu einem weiteren Kreis des Orkus der Hölle werden.
Vierhundert Jahre, um genau zu sein, dreihundertsechsundsiebzig Jahre herrschte das Übel unbeachtet. Die Menschen bemerkten nicht einmal, was mit ihnen geschah. Doch heute Nacht wollte er seinen Teil dazu beitragen, die Welt von dieser Brut zu befreien.
Sorgfältig legte er die Eisenstangen zurück in seine Truhe und nahm erneut die kleine Fibel zur Hand. Ging sein Plan auf, würde seine ganz persönliche Leidenshistorie von jetzt an sehr bald enden. Wie Gott einst die sündigen, verbrecherischen Menschen mit der Sintflut heimsuchte, so wollte Prior die Hirudo mit seinem Schrecken bezwingen. Sein Schicksal verlangte grausame Rache und die sollten sie bekommen. Zwar würde seine Schuld dadurch nicht beglichen und ihre Sünden nicht ungeschehen gemacht. Aber sie erhielten ihre rechtmäßige Strafe und auch die war eine Art der Gerechtigkeit.
Seinen ganzen Hass in diese Geste legend, rammte er sich den spitzen Dorn der Fibel in die geöffnete Hand. Gebannt betrachtete er das Blut, das in dicken dunkelroten Tropfen aus der Wunde rann und schließlich von seinen Fingerspitzen auf den ohnehin besudelten Boden fiel.
Für jeden Tropfen, so schwor er, sollte ein ganzer Strom aus den gequälten Leibern jener Schuldigen fließen.