Teil V

 

Einst Begonnenes endet hier

 

~ 1. Kapitel ~

 

In dem ein vermeintliches

Wunder geschieht

 

Leise raschelnd schloss sich der eierschalenfarbene Vorhang. Schritte entfernten sich. Eine Tür fiel leise ins Schloss. »Aber ja, wenn ich es Ihnen doch sage. Hätte ich’s nicht mit eigenen Augen gesehen, würde ich’s selber nicht glauben. Diese Röntgenaufnahme ist vor zwei Stunden gemacht worden. Und jetzt ... Sie sehen ja selber. Dass dieser Mann überhaupt noch am Leben ist, grenzt an ein Wunder.«

»Also, wenn Sie mich fragen, wurden die Aufnahmen ganz eindeutig vertauscht. Wir sollten auf jeden Fall noch einige Tests machen, bevor wir ihn verlegen. Aber vorher muss ich mit Poulter reden. Dann sehen wir weiter.«

Die gedämpften Stimmen hinter der Tür verstummten. Das Licht kehrte zurück. Gequält wandte sich Turner von der grellen, kalten Neonflut ab, die ihm schmerzhaft in die Augen stach.

Scheiß Funzel, dachte er gereizt. Und wo zum Henker ist dieser bekloppte Wecker? Ärgerlich suchte er nach der Quelle des nervtötenden Pieptons, der sich ihm wie mit spitzen Rattenzähnen ins Hirn nagte. Hustenreiz kratzte ihm in der Kehle, doch als er zu schlucken versuchte, spürte er, dass etwas in seinem Hals steckte. Etwas Großes, Hartes. Stechender Schmerz ließ ihn würgend nach Luft ringen. Eine Stimme befahl ihm, zu husten. Seine Stimme? War sein Freund zurück? Oh, mein Freund, ich danke dir, dachte Turner hilflos röchelnd. Helfende Hände waren sofort zur Stelle und entfernten den Schlauch, durch den seine Lungen mit Sauerstoff versorgt wurden.

»So ist es gut, John. Sie machen das prima. Und hier haben wir ihn.« Die Stimme klang sanft und die Finger auf seiner Stirn fühlten sich wunderbar kühl an. Dankbarkeit, echte, aufrichtige Dankbarkeit erfasste ihn. Allerdings erst, nachdem er nicht mehr glaubte, sein Innerstes wolle sich nach außen kehren. Ein derart infernalischer Hustenanfall schüttelte seinen mageren Körper, dass er glaubte, kotzen zu müssen.

Als er sich beruhigt hatte, öffnete er zögernd die Augen. Das lächelnde Gesicht einer Frau begrüßte ihn. »Hallo, John, können Sie mich hören?«, fragte sie leise.

Er versuchte zu nicken. Wer war diese Frau? Und wer um alles in der Welt war John? Sie jedenfalls sah wunderschön aus. Sein Blick wanderte über ihr dunkelbraunes Haar, ihre wasserblauen Augen und verweilte lange auf ihren weichen Brüsten, die sich im Ausschnitt ihres weißen Kittels drängten.

»Ich bin Dr. Harris«, sagte die Frau und wies auf ein schmales Plastikschild über ihrer linken Brust. Turner grinste. Er war entschlossen, ihren Namen oft nachzulesen. »Sie sind im St. Patricks Hospital. Sie hatten einen Unfall, erinnern Sie sich?«

Er erinnerte sich nicht. Was soll der Blödsinn? Hektisch zerrte er an den Hand- und Fußfesseln, die ihn an sein Bett ketteten.

»Oh, warten Sie, ich mach‘ Sie los.« Eilig öffnete Dr. Harris die Schnallen und er konnte die Arme heben. »Sie waren ganz schön aufgeregt, John. Deshalb mussten wir die Fixierungen anbringen. Wie fühlen Sie sich jetzt?«

»Großartig«, krächzte Turner. Warum nennt sie mich John?, überlegte er.

»Weil sie deinen richtigen Namen nicht kennt, du Idiot. John Doe, klar, so nennen sie alle, die blöd genug sind, keinen Ausweis mitzuschleppen, wenn man sie von der Straße kratzen muss.«

Da war sie wieder. Seine Stimme, sein Vertrauter, sein Freund. Erleichtert lehnte er sich in die verschwitzten Kissen zurück. Doch gleich riss er erschreckt die Augen wieder auf. Von der Straße kratzen mussten sie ihn? Warum? Was war geschehen? Entsetzt erkannte er, dass er sich nicht erinnerte, wie er hierher gekommen war. Da war nichts. Totaler Blackout.

»Ich muss Sie kurz allein lassen, John. Bitte bleiben Sie ganz ruhig liegen. Ich bin gleich wieder mit einem Kollegen zurück, ja?«

Turner nickte. Klar, auf so einen Doktor wartete er gern. »Den Teufel wirst du tun, Turner«, schnauzte ihn sein Begleiter an. »Wenn die Kuh weg ist, setzt du gefälligst deinen Arsch in Bewegung und machst, dass du wegkommst, klar.«

Aber warum sollte er das tun? Er fühlte sich wohl hier. Und dann war da noch Dr. Harris. Und wo sie herkam, waren bestimmt noch mehr von ihrer Sorte.

»Ach halt doch die Klappe, Trottel. Glaubst du, ich habe dir deine neuen Talente demonstriert, damit du dich hier faul ausruhen kannst. Los jetzt, auf! Beweg dich!«

Ein heftiges Zucken erfasste seine Beine und zwang ihn, sich aufzurichten.

»Zieh die Dinger raus! Mach schon!«

Damit war ganz offensichtlich die Kanüle in seinem rechten Handrücken und der gelbe Schlauch in seinem Penis gemeint.

»Aber ...«, versuchte er zu protestieren.

»Nun mach endlich, ich hab nicht den ganzen Tag Zeit!«

Die Nadel war mit einem Ruck draußen. Der Schlauch in seiner Blase erwies sich als hartnäckiger.

»Zeig ein bisschen Dankbarkeit! Schließlich hab ich dir deinen Arsch gerettet. Ohne mich wär' dein Brustkorb nicht mal mehr als Wurmgehege zu gebrauchen.«

Letztendlich jedoch flutschte der Schlauch, gefolgt von einer Blutfontäne aus der Harnröhre. Klatschend landete er auf dem fleckigen Krankenhauslinoleum.

»Gut, und hör gefälligst auf zu winseln. Du bist wirklich ein Jammerlappen.«

Warum war sein Freund nur so gemein zu ihm. Tat er nicht alles, was er von ihm verlangte?

»Schon gut, du machst deine Sache wirklich sehr gut. Und jetzt komm! Ich kenne den Weg. Du brauchst mir nur zu folgen.«

So wie gestern? Die Ärztin sagte was von einem Unfall. Und gestern hast du mich doch auch geführt, dachte Turner.

»Aber natürlich, du Dummerchen«, lachte die Stimme. »Das war auch nötig. Sonst hättest du nie bemerkt, wie besonders du bist.«

Besonders? fragte Turner.

»Unsterblich«, antwortete die Stimme und dirigierte ihn energisch in Richtung Tür.