Teil IV
Was am Tage geschieht
und die Nacht darauf bringt
~ 1. Kapitel ~
In dem eine wartet,
ein Zeitungsartikel neugierig macht
und auf eine nützliche Idee bringt
Mit einem in Gedanken geflüsterten Befehl ließ Karen die schweren Vorhänge aufgleiten und trat an eines der mannshohen Fenster. Winterblaues Tageslicht mischte sich mit dem blassgelben Schein der Tischlampen.
Die dicke Schneedecke, welche den Garten in ein eisiges Gewand hüllte, sah aus wie ein sorgfältig glatt gestrichenes Leinentuch. Reinstes Weiß erstreckte sich bis zum nahen Waldrand. Der heftige Wind war ruhiger geworden. Karen wunderte sich, wie friedlich die Welt hinter Glas aussah. Den warmen Kaminatem im Rücken stand sie lange vor dem Fenster und ließ ihren Blick über die Winterlandschaft wandern.
Die dicken Wolken machten kaum Hoffnung auf einen freundlichen Wintertag. Tiefgrau und wie aus Eis hingen sie am Himmel. Und der Schnee lag jetzt schon so hoch, dass die Stufen der Steintreppe nicht mehr zu sehen waren. Wenn das so weiterging, schneiten sie noch völlig ein. Sie liebte die Abgeschiedenheit dieses Hauses. Doch die war nur in dem Bewusstsein erträglich, jederzeit ausbrechen zu können. Die Aussicht, hier festzusitzen, war nicht unbedingt verlockend.
Einen leisen Seufzer ausstoßend, wandte sich Karen von dem Ausblick auf den verschneiten Garten ab und ging in die Eingangshalle. Jetzt kämen die Männer wohl kaum noch aus London zurück. Um eine Rückkehr zu wagen, war das Tageslicht schon viel zu hell. Die Standuhr neben der Treppe zeigte Viertel nach acht. Sicher verbrachten sie den Tag im «porch». Die anderen waren bereits vor einer halben Stunde in den Keller gegangen. Vermutlich schliefen sie jetzt schon tief. Karen war auch müde, aber kein bisschen schläfrig. Sie wünschte, Lucas hätte sie mit nach London genommen. Hier langweilte sie sich noch zu Tode. Sie wäre sogar bereit gewesen, in Jarouts Begleitung durch die Spiegel zu reisen. Was sie wohl bei ihrer Suche herausfanden? Sicher hätten sie ihre Hilfe brauchen können. Stattdessen ließen sie sie untätig hier herumsitzen. Wenigstens von Calman hätte sie erwartet, dass er an sie dachte.
Aus Gewohnheit griff sie den Haustürschlüssel von einem der Haken neben der Vitrine und schloss die mit einem Baummotiv verzierte Eingangstür auf. Die Eisblumen auf dem Glas der Tür verhießen nichts Gutes.
Sich innerlich gegen die Kälte wappnend, trat Karen ins Freie. Bibbernd warf sie einen Blick auf das Außenthermometer. Scheußliche zwanzig Grad minus. Mit kältestarren Fingern wischte sie den Schnee von der Plastikhülle der Zeitung, die auf dem Boden lag, und hob sie auf. Sie verstand nicht, wie es jemand übers Herz brachte, in aller Herrgottsfrühe aufzustehen, sich durch meterhohen Schnee zu quälen, nur um eine Zeitung abzuliefern. Trotzdem war sie froh, dass dieser jemand seinen Job auch bei einem derart miesen Wetter erledigte. Das brachte ihr immerhin die Neuigkeiten aus London ins Haus. Da sie nicht mehr in England lebte, vermittelte ihr der Daily Telegraph eine Art behagliche Nähe. Jene Art sentimentales Heimweh, dass man nur weit entfernt vom langweilig Gewohnten empfindet.
Im Grunde war sie dankbar, nicht mehr in dem kleinen Londoner Vorort, in dem sie aufgewachsen war, leben zu müssen. Dort war nichts, was sie noch hielt. Das alte Haus ihrer Mutter barg zwar Erinnerungen, die ihr wertvoll schienen, doch ebenso mahnte es an Dinge, die sie liebend gern vergessen wollte. Ihre Mutter Aimee war tot und Peter, ihr Stiefvater verschwand vor fünf Jahren spurlos. Seine Leiche trieb ein Jahr später ans Ufer der Themse. Ob er Selbstmord begangen hatte oder umgebracht worden war, konnte nicht mehr ermittelt werden. Seine Leiche war zu stark verwest und nur noch anhand des Gebisses zu identifizieren. Karen hatte sich überwunden, seine Überreste zu berühren, doch gesehen hatte sie nichts. Gott wusste vielleicht eine Antwort auf das Wie und Warum. Aber zu ihm hatte Karen nie sprechen gelernt und sie nahm nicht an, dass der ihr überhaupt zuhören würde, wenn sie einen Erstkontakt versuchte.
Und wie konnte sie um Vergebung bitten? Selbst wenn ein anderer ihr verzeihen mochte - sie selbst konnte es nicht. Sie war zu Lucas gegangen und hatte Peter zurückgelassen. Er starb, weil sie nicht anwesend war, als er sie brauchte. Sie war so egoistisch gewesen und hatte damals nur an sich selbst gedacht, was die grauenvolle Konsequenz seines Todes zufolge gehabt hatte. Nein, verzeihen konnte sie sich das niemals.
Mühsam vertrieb Karen die düsteren Gedanken und huschte zurück in die Wärme des Hauses. Erleichtert schob sie die Tür zu. Das Kaminfeuer im Salon war bis auf die glimmende Asche heruntergebrannt. Eilig legte sie einen Holzscheit nach und ließ die Zeitung auf den Tisch fallen, ehe sie in die Küche ging, um sich ein Frühstück zuzubereiten.
Mit einer Tasse Kaffee in der einen und drei belegten Brotscheiben in der anderen Hand, kehrte sie in den Salon zurück. Die Tasse und Brote legte sie neben der Zeitung auf dem Tisch und griff gleichzeitig nach der Fernbedienung des Fernsehers. Wie gewohnt drückte sie den Einschaltknopf, doch das Gerät blieb stumm.
Lucas, fiel ihr ein. Gestern hat er das Ding in seiner Wut ... wie nennt man das ...? Ausgedacht?
Dabei waren seine Emotionen wohl derart überladen, dass er die Kraft seiner Gedanken zu hoch dosierte und dem Gerät den Todesstoß versetzt hatte. Zu dumm. Jetzt musste sie auch noch aufs Fernsehen verzichten. Enttäuscht ließ Karen die Fernbedienung fallen. Dabei fiel ihr Blick auf die Zeitung. Erstaunt kniff sie die Augen zusammen. Was sie sah, konnte nur eine optische Täuschung sein. Klar, sie war völlig übernächtigt. Das konnte Halluzinationen auslösen.
Zaghaft streckte sie die Hand nach dem Papier aus, das von einer dicken Staubschicht bedeckt war. Die Zeitung lag noch keine fünfzehn Minuten auf dem Tisch. Wie hatte sich in so kurzer Zeit so viel Staub darauf niederlassen können? Das war doch unmöglich. Seltsam wirkte auch, wie sich der Staub absetzte. Er war keineswegs gleichmäßig verteilt, sondern bildete eine Form, die stark an den Abdruck einer ausgestreckten Hand erinnerte. Karen schluckte trocken. Was sich am Vorabend in Denis Turmzimmer ereignet hatte, wiederholte sich hier.
»Also gut, meine Liebe. Ich weiß, dass du hier bist und diesen Zirkus veranstaltest«, sagte sie laut in den Raum hinein, ohne den Blick von der Zeitung zu wenden.
»Wenn du Aufmerksamkeit willst, die hast du jetzt.« Karen schwankte zwischen Angst und Aufregung über diesen ungewöhnlichen Besucher. In erster Linie aber fühlte sie sich beunruhigt. Die Anwesenheit desjenigen, der diese Spuren hinterlassen hatte, schien nicht ganz so zufällig zu sein, wie das noch beim ersten Mal der Fall gewesen war. Diese Spur war kein Zufall. Dafür war sie viel zu deutlich. Mit zitternden Händen nahm sie die Zeitung auf.
Sie neigte das Papier in Richtung Fenster, sodass das einfallende Morgenlicht die Staubschicht schräg beleuchtete und deutlicher sichtbar machte. Tatsächlich, der Abdruck einer Hand. Daumenballen und alle Finger waren ganz klar zu erkennen. Als habe sich jemand auf der Zeitung abgestützt.
Unerwartet, noch während sie das Papier hin und her wendete, kam mit einem Mal Bewegung in die Partikel. Urplötzlich überkam sie das Gefühl, jemand sei mit ihr im Raum. Genau dasselbe empfand sie gestern in Denis Turmzimmer. Alarmiert blickte sie auf. Sie war allein im Raum. Und dennoch meinte sie, die eindringliche Präsenz einer zweiten Person zu verspüren.
Karen schauderte, als fremder Atem an ihr vorüberzog. Ein warmer Hauch, so nah, dass sie das feine Aroma darin riechen konnte. Der Duft von Holz. Fein und würzig. Nein, kein Holz. Karen schloss die Augen, um sich besser konzentrieren zu können. Rauch. Der Duft eines brennenden Kamins oder offenen Feuers auf dem Feld. Sie erinnerte sich, dass ihre Mutter manchmal im Garten hinter ihrem Haus das gefallene Herbstlaub verbrannt hatte. Ein vertrauter Duft. Ein Duft, der sie beruhigte und ihr zeigte, dass ihr keine Gefahr drohte. Und ein Gefühl schwang darin.
Hör mir zu! sagte dieses Gefühl. Hör mir zu! Schau mich an! Karen spürte Dringlichkeit darin. Sie ahnte, dass jemand verzweifelt ihre volle Aufmerksamkeit forderte. Ist in Ordnung, es ist schon gut, dachte sie. Ich schaue und ich höre. Ich bin still. Niemand macht dir deinen Platz streitig. Niemand will dich vertreiben. Du kannst sprechen.
Karen zitterte am ganzen Körper. Etwas Ähnliches war ihr noch nie zuvor passiert. Sicher, das von Lucas geerbte Talent ließ sie schon als Kind Dinge sehen, die man im Allgemeinen als Geister bezeichnete. Sie spürte die Emotionen und Gedanken dieser Wesen, wie sie ebenso die von Lebenden wahrnahm. Doch so nah wie jetzt war ihr noch nie zuvor eine dieser Erscheinungen gekommen. Karen fühlte sich ganz von der Persönlichkeit der Besucherin eingehüllt. Eine Frau. Das war keine Einbildung. Karen war sich ganz sicher, dass dieses Wesen weiblich war und das nicht aufgrund der Abbildung des Körpers auf Denis‘ Leinwand. Sie fühlte ihr Sein. Ihr war, als lege sich die geistige und körperliche Form der Fremden ganz über ihre eigene.
Ein leichtes Beben ließ das Papier in ihren Händen erzittern. Ganz allmählich steigerte sich das Beben zu einem heftigen Flattern, bis sie die Zeitung nicht länger halten konnte. Mit einem heftigen Schlag als wäre er aus Stein, fiel der Papierstoß zu Boden. Erschrocken machte Karen einen Satz zurück. Mit schreckgeweiteten Augen und wild hämmerndem Herz starrte sie auf die Zeitung zu ihren Füßen.
Sie lag aufgeschlagen. Zu erkennen war der Fortsetzungsbericht der Schlagzeile vom Titelblatt. Das Papier war mit einer dunklen Flüssigkeit getränkt, die feucht schwarz im matten Tageslicht glänzte.
Noch immer glaubte Karen, den weichen Mantel der Gestalt, die sie eben so dicht umhüllt hatte, zu spüren. Doch der Eindringling war fort. Sie war allein. Ihr Kopf fühlte sich seltsam leicht an. Zögernd machte sie einen Schritt voran. Ihr war, als ginge sie gegen einen Strom. Als liefe sie durch schweres Wasser. Was zum Teufel ist nur los mit mir? fragte sie sich benommen. Sie konnte sich kaum bewegen, doch ihre Gedanken forschten hektisch nach einer Erklärung für das eben Geschehene.
Taumelnd suchte sie nach einem Halt, fand einen Sessel und stützte sich auf die Lehne. Mit bebenden Fingern tastete sie nach der Zeitung. Kaum, dass sie das feuchte Papier berührte, zog sie entsetzt ihre Hand zurück.
»Igitt, widerlich«, nuschelte sie. Mit glasigen Augen betrachtete sie ihre Fingerspitzen. Eine klebrige, salbenartige Flüssigkeit war daran haften geblieben. Als sie sich eine Haarsträhne aus der Stirn streichen wollte, bemerkte sie, dass dieselbe Substanz nicht nur an ihrer Hand, sondern auch in ihren Haaren klebte. Entsetzt blickte sie auf die feuchte Strähne zwischen ihren Fingern. Angewidert fühlte sie schmierigen Schleim auf der Haut. Das Zeug war überall. Wie Rotz tropfte es von ihrer Nasenspitze in den Pulloverausschnitt.
Was um alles in der Welt war das? Wieder fiel ihr Blick auf die aufgeschlagene Zeitung. Jetzt erst entdeckte sie, dass sich auf dem Artikel und dem Foto darunter bestimmte Muster abzeichneten. Irritiert runzelte Karen die Brauen. Die Muster bildeten Kreise und Pfeile, die bald hierhin, bald dorthin liefen. Sie schienen auf trockene Textstellen zu zeigen. Auf dem Foto war das Gesicht eines bärtigen Mannes verschont geblieben.
Mit spitzen Fingern zog sie das obere Blatt, das jetzt wieder so leicht wie ganz normales Papier war, zu sich heran. Die Feuchtigkeit bildete einen Kreis um eines der brennenden Häuser auf der Fotografie. Darunter verlief ein Pfeil nach unten, der über einem der Fenster desselben Hauses endete.
Ein weiterer Pfeil deutete zu der Straße im Vordergrund, auf der Feuerwehrmänner, Fotografen, Kameramänner, Passanten und Fernsehleute mit Mikros wild durcheinanderliefen. Ein einziges Chaos. Doch die schleimige Flüssigkeit dunkelte einen Großteil der Fläche ab, sodass nur eine kleine Stelle frei blieb. Dort war das angstverzerrte Gesicht eines Mannes zu erkennen, der geduckt an einem Feuerwehrmann, der ihn offenbar gerade ansprach, vorbeilief. Sie versuchte sich zu erinnern, ob er ihr irgendwie bekannt vorkam. Doch ein struppiger Bart verdeckte mehr als die Hälfte seines Gesichts, das ohnehin nur undeutlich auf der körnigen Aufnahme zu erkennen war. Doch er musste wichtig sein. Zumindest der fremden Besucherin, die ihn ihr offensichtlich zeigen wollte. Das brennende Haus, das Fenster und dieser Mann. Was wollte sie ihr damit sagen? Da erinnerte sie sich, dass sie zuvor brennendes Holz roch. Oh mein Gott, dachte Karen. War die Frau etwa dort verbrannt? Womöglich wollte sie ihr ein Zeichen, einen Hinweis auf ein Verbrechen geben.
Schnell überflog sie den Artikel. Erleichtert las sie, dass der Brand am Vorabend gegen halb zwei nachts ausgebrochen war. Zu der Zeit war die Frau schon in Denis Zimmer und hatte ihre Spur hinterlassen. Also kein Opfer dieses Feuers. Vielleicht ein anderer Brand? War der Kerl derjenige, der das Feuer gelegt hatte? Ein Brandstifter? Schon möglich. Aber warum das Fenster? Was sollte sie tun? Die Besucherin wollte ganz offensichtlich, dass sie etwas unternahm. Sicher käme sie zurück und Karen verspürte nicht die geringste Lust auf einen weiteren Besuch. Wer weiß, was sich diese Person noch ausdenken würde, um ihre Aufmerksamkeit zu erregen. Und außerdem war die Sache viel zu aufregend, als dass sie sie ignorieren konnte.
Allerdings brauchte sie unbedingt mehr Informationen, als sie in diesem Artikel fand. Als Verfasser stand darunter HF. Hastig blätterte sie in den restlichen Seiten der Zeitung. Ihre Benommenheit war wie weggeblasen. Irgendwo musste das Impressum stehen. Sie wollte die Internetadresse. Das erschien ihr wesentlich sinnvoller als ein bloßer Anruf in der Redaktion. Dort waren sicher lauter arrogante Schnepfen nur dafür angestellt, lästige Anrufer abzuwimmeln. Ein Besuch auf der Internetseite wäre wesentlich gehaltvoller, entschied sie. Vielleicht käme sie so an die direkte Nummer oder E-Mail-Adresse des Journalisten, der den Artikel geschrieben hatte. Vergessen waren die schon fast trockenen Reste des seltsamen Plasmas.
Ah ja, dachte sie. Da steht es ja. Neben HF war der Name Harold Fawkes eingetragen. Mit einem Ruck riss sie das Impressum aus der Seite und stopfte es in ihre Hosentasche. Sie sprang auf, schnappte sich die schleimverklebte Doppelseite und lief in Lucas Arbeitszimmer. Karen wusste sehr wohl, dass Lucas nichts mehr hasste, als wenn jemand seinen PC benützte, ohne vorher um Erlaubnis zu fragen. Trotzdem schaltete sie ohne zu zögern das Gerät ein und setzte sich auf den breiten Bürosessel an den Schreibtisch.
Zum einen arbeitete sein Computer schneller als ihrer und zum anderen stand der ja oben in Denis Turm. Sie hätte erst durchs ganze Haus laufen müssen und das kostete Zeit. Zeit, die ihr nicht blieb. Sie erschrak beim Blick auf die Uhr. War denn so viel Zeit vergangen? Das war doch unmöglich. Die Sonne war doch gerade erst aufgegangen. Und doch blieb keine Stunde mehr, bis die Abenddämmerung hereinbrach und die Hirudo aufwachten. Und wie um sie anzutreiben, schlug die Standuhr in der Halle vier Mal hintereinander, womit sie den Beginn vom Ende des Tages ankündigte.