~ 9. Kapitel ~
In dem alte Erinnerungen
nur noch wenige Stunden entfernt sind
Dorian Prior war keine Minute länger fort gewesen als geplant. Kaum drei Stunden hatte er gebraucht. Bei seiner Rückkehr hatte er nachgesehen, ob Serena im Haus war. Unruhig wanderte sie durch die unteren Zimmer. Sie wartete auf ihn. Ehe sie seine Anwesenheit bemerkte, zog sich Dorian Prior lautlos zurück und ging den schmalen Pfad entlang zu der Kapelle, die keine zweihundert Meter von dem Wirtshaus entfernt stand.
Knirschend gab das rostige Schloss dem Drängen des Schlüssels nach. Dorian zog die mit Eisenstreben verstärkte Tür auf. Die nach außen strömende Luft roch muffig und feucht. Nach altem Holz und kaltem Weihrauch. An der Fassade bröckelten Steinfragmente. Das Dach war an mehreren Stellen eingedrückt und an vielen Stellen fehlten Ziegel, die zu ersetzen sich niemand die Mühe gemacht hatte.
Feuchtigkeit war in die Bausubstanz eingedrungen und als Pilzkolonie nach außen gewachsen. Dennoch schien ihm das halb verfallene Gotteshaus kaum verändert. Oder war seine Erinnerung ein allzu belebender Deckmantel für Verfall und Alter?
Dieselben grauen Mauersteine, die schlichte, geradlinige Bauweise und die geschnitzte Inschrift über der Tür. Eine Jahreszahl und die Mahnung, dass der Herr über alle wacht. Nur das Kupferkreuz war vom Dachfirst verschwunden. Erstaunlicherweise waren alle Fenster erhalten. Rot, blau, gelb und purpurviolett leuchteten Heilige und Märtyrer im Licht des Mondes. Die Mutter Gottes mitten unter ihnen mit dem Christkind im starren Arm. Wunderhübsch und ohne den kleinsten Riss in dem kostbaren Glas. Die Farben jedoch wirkten fahl und wie ausgewaschen von der Zeit.
Innen verwitterten die schlichten Holzbänke. Der steinerne Altar war ungeschmückt, das Weihwasserbecken trocken und von tiefen Rissen durchzogen. Auf den zweiten Blick sah er, dass die Wände lieblos und kahl waren. Jeglicher Schmuck, ob Statuen oder Bilder waren entfernt worden. Wer brauchte sie noch. Da war niemand, der herkam, um sie zu sehen. Die Dorfbewohner nannten das Gebäude nun Kapelle. Ihnen war ein neues, großes und hässliches Gotteshaus errichtet worden. Viel Glas und brauner Stein. Ein eckiger Bau. Modern und unglaublich hässlich. Die neue Kirche stand weit entfernt. In sicherem Abstand zu diesem Ort, von dem abergläubische Greise und dumme Junge sagten, der Geist des Hexenjägers ginge um.
Dorian lächelte grimmig. Woran sich die Leute selbst dreihundert Jahre später noch erinnerten, war erstaunlich. Sie erinnerten sich an ihn. Doch die Erkenntnis, dass dieses Gedenken so verfälscht war, traf ihn beinahe schmerzlich. Verbrannt haben sie ihn, den Hexenkommissar, hatte der Mann gesagt, der ihm den Schlüssel zu der alten Dorfkirche gegeben hatte. Verbrannt, von »vernünftigen Leuten«, die nicht länger das Grauen der Verfolgung mit ansehen wollten. Wie gern hätte er diesem Idioten die Wahrheit ins Gesicht geschleudert. Nicht die rechtschaffenen Leute richteten ihn. Sondern eben jene Hexe und ihre Dämonen, deretwegen ihn Lörringens Priester Wilhelm Hartmann rief.
Die verfluchte Satansbrut hatte ihn bezwungen. Sie sind diejenigen, die sie fürchten sollten. Nicht den Geist des Hexenjägers. Denn der lebt und leidet immer noch für euch, dachte Prior und schwieg, als der Mann fortfuhr, seine dumme, kleine Geschichte zu erzählen.
Leise schloss er jetzt die Tür hinter sich. Wie in Trance ging er den Weg, den sie ihn entlang geschleift hatten. Dort war die Bank, auf der seine Kinder und die Frau gelegen hatten. Und dort der Altar, auf dem er selbst in eiserne Fesseln gebunden worden war. Die Spuren der in den Stein geschlagenen Eisen waren noch da. Sie waren mit Mörtel aufgefüllt worden, doch immer noch deutlich sichtbar.
Der Mann erzählte auch, dass den Bürgern wegen Mordes der Prozess gemacht wurde. Drei von ihnen haben sie gehenkt. Und seither habe niemand mehr die kleine Kirche betreten. Die Lörringer gingen künftig in die Kirche des Nachbarortes. Sie fürchten den rachsüchtigen Geist des Hexenrichters.
Dummes Volk, dachte Prior zynisch. Zu der Zeit war er weiß Gott mit anderen Dingen beschäftigt gewesen. Gedankenverloren strichen seine kalten Finger über den unebenen Stein. Sie brannten sich wie glühende Stränge in seine kalte Haut. Sorgsam ertastete er die Rillen und Gruben, fuhr mit den Handflächen immer wieder über die raue Oberfläche. Dort, wo Arweth die Eisenstäbe in den harten Stein gerammt hatte, um Dorian Prior zu bändigen, verharrten seine Hände kurz, ehe sie weiterwanderten zu den ausgebleichten, aber immer noch sichtbaren Spuren des Blutes seiner Frau und der Kinder.
Er legte seine Wange auf den Stein, der sogar noch kälter und härter als sein Fleisch war. War sie wirklich da, die alte Spur oder sah er nur das Echo seiner Erinnerung? Oft war er nicht sicher, wie er zwischen Erinnerung und Realität unterscheiden sollte. Wie ein Fötus rollte er sich auf dem steinernen Tisch zusammen. Das Gesicht barg er Schutz suchend zwischen den Knien und schlang seine Arme fest um die angezogenen Beine. Liebevolle Erinnerungen wollte er rufen. Statt dessen sah er die schreienden Münder und angsterfüllten Augen seiner Frau und Kinder. Dahinter waberten die Fratzen seiner Peiniger. Malcolm, Serena und Arweth. Ihre Namen wiederholten sich in endloser Litanei. Hasserfüllt versuchte er sie fortzujagen, doch sie ließen sich nicht vertreiben. Daran konnte auch Serenas Demut nichts ändern. Sie war immer noch eine von ihnen. Sein Werk musste sich erfüllen. Und sie war nicht zu retten, das sah er ein. Sie war das Kind und das Kind war die Rache. Ihm blieb noch diese Nacht, um seinem Besuch einen würdigen Empfang zu bereiten. Dann musste er nur noch abwarten. Die Frage, ob Arweth seine Botschaft verstehen würde, stellte er sich nicht.
Sie war so unmissverständlich, dass der Albino sofort wissen würde, wer der Absender war. Dann wusste er auch, wo er ihn fand und dass Serena bei ihm war. Um ganz sicher zu gehen, hatte er Arweth einen Brief beigelegt. Möglich, dass der Albino ebenso vergesslich war wie Serena.
Triumphierend stellte sich Prior Arweths Reaktion vor. In genau neuneinhalb Stunden von jetzt an brach seine heile Welt zusammen. Zu gern hätte er das Gesicht des Vampirs gesehen. Dann könnte er die Überraschung und die Angst darin lesen, wenn den rotäugigen Hirudo die Erkenntnis wie ein Blitzschlag durchfuhr und er rein gar nichts würde unternehmen können, weil die Sonne aufging und ihn zwang, bis zur nächsten Nacht auszuharren.