18. Kapitel
Geduldig wartete Denis bis auch Galina endlich eingeschlafen war. Erst dann stand er vorsichtig auf und schlich die Treppe hinauf zur Kellertür. Dort angekommen zögerte er. Du weißt, dass du nicht mehr zurückkannst, wenn du sie öffnest, nicht wahr? dachte er, und zum ersten Mal kamen ihm Zweifel an seinem beherzten Vorhaben.
Er musste gut überlegen, was er tun wollte. Sein geheimes Talent barg weiß Gott nicht nur Vorteile. War er erst mal dem Sonnenlicht ausgesetzt, vollzog sich die Verwandlung von einer Minute auf die nächste. Dann war er so schwach, dass er sich kaum auf den Beinen halten konnte.
Doch was blieb ihm anderes übrig, als tatsächlich nach oben zu gehen, um herauszufinden, was gespielt wurde. Karens Fragen nach Lucas kamen ihm sehr seltsam vor. Geradezu verdächtig. Sie wollte unbedingt was über Lucas aus ihm rausquetschen, dass er sich gar nicht mehr richtig wehren konnte. Außerdem war er so müde gewesen, dass er kaum noch klar denken konnte. Aber nicht müde genug, dass er nicht misstrauisch war und ihr tatsächlich etwas Wichtiges verriet. Das mit Lucas Zimmer war eine Lüge. In Wahrheit war hinter der Tür, zu der er ihr den Weg beschrieb, nichts weiter als ein weiteres Schlafzimmer, und es war abgeschlossen, was sie eine Weile beschäftigen dürfte.
Natürlich glaubte er nicht, dass Karen Böses im Schilde führte. Nicht seine Karen, nein, ganz bestimmt nicht. Aber Jarout, oh ja, dem traute er durchaus so einiges zu. Deshalb musste er auch aufpassen, was Karen dort oben anstellte. Und dann, heute Abend, wollte er zur Straße hinunter gehen und Lucas abpassen. Von Blanche wusste Denis, dass Lucas und Seamus heute noch zurückkamen. Denis wollte auf sie warten und ihnen von den seltsamen Vorgängen hier berichten. Wer weiß, was sein Halbbruder plante. Wenn er Lucas warnte, konnten sie vielleicht gemeinsam überlegen, was das sein konnte und sich zumindest auf eine Überraschung einstellen.
Hoffentlich entdeckte Karen ihn nicht. Doch musste er sich denn überhaupt sorgen, dass sie ihn vielleicht erkannte? Vermutlich nicht. Sogar Jarout hielt ihn für den von Lucas eingestellten Gärtner, als er ihm einmal zufällig kurz nach Sonnenuntergang begegnete und seine normale Gestalt noch nicht vollständig hergestellt war. Wie sollte sie ihn erkennen, wenn er ihr als Greis gegenübertrat?
Auch für Karen könnte er der Gärtner sein, oder jemand aus dem Dorf, der den Bewohnern einen Besuch abstatten wollte. Oder er gab vor, jemand zu sein, den Jarout ins Vertrauen gezogen und den er geschickt hatte, um auf Karen aufzupassen. Mit der letzten Identität käme er auch schneller ans Ziel. Andererseits war das auch sehr gewagt und Karen war nicht dumm. Also doch der alte Rasenmäher, dachte er und kicherte leise. Das gibt einen Anblick. Ein alter Mann, der behauptet, ganz allein eine Gartenanlage von der Größe eines Fußballfeldes zu bearbeiten. Anblick? Sie konnte ihn dann immer noch an seinen Kleidern erkennen. Hoffentlich konnte er sich unbemerkt an ihr vorbei nach draußen schleichen und seine Sachen wechseln.
Vorsichtig, ganz vorsichtig zog er die Kellertür auf und lugte durch den schmalen Spalt in die Eingangshalle. Das graue Tageslicht war sanft zu ihm. Trotzdem ging alles rasend schnell. Im einen Augenblick war er noch der junge, wenigstens halbwegs kräftige Denis und im nächsten schon waren von seinem glänzenden, blonden Haar nur noch stumpfe, graue Strähnen übrig, die als dünne Haarbüschel wie räudige Federn von der faltigen Kopfhaut hingen. Seine Hände glichen knotigen Vogelklauen, arthritisch gekrümmt, mit dunklen Flecken übersät. Die zittrigen Finger waren kaum beweglich genug, um den Saum seiner Hose festzuhalten, die drohte, über die dürren Hüften runterzurutschen. Denis wusste, welch mitleiderregenden Anblick er bot. Ein Neunzigjähriger strahlte verglichen mit ihm geradezu jugendliche Vitalität aus. Seine Mutter war entsetzt in Tränen ausgebrochen, als sie ihn zum ersten Mal so sah. Aber Talent war Talent, und manchmal konnte sich sogar eine derart nutzlos scheinende Begabung als hilfreich erweisen. Für Lucas in erster Linie, wenn Denis ab und an tagsüber als greiser Gärtner nach dem Rechten sah oder einen seiner Geschäftspartner in Empfang nahm. Gottlob bat Lucas ihn nur sehr selten um eine derartige Gefälligkeit. So herumzulaufen war schrecklich kräftezehrend und alles andere als ein Vergnügen. Auch wenn er die Wärme der Sonne und die Farben der taghellen Welt jedes Mal aufs Neue genoss.
Zögernd verließ er den Schutz des Kellers und trat in die Halle hinaus. Karen war nirgends zu sehen. Bei der Frauenstatue blieb er stehen und lauschte aufmerksam. Wenigstens sein Gehör funktionierte noch hervorragend. Er hörte ihre Schritte und erkannte erschrocken, dass sie schnell näher kam.
Aufgeregt sah er sich suchend nach einem nahen Versteck um. In den Keller zurück? Oh nein, die Tür war ja zu. Was bist du doch für ein Esel? dachte er. Nächstes Mal musste er unbedingt besser planen. Ja, man soll besser nicht voreilig eine Tür hinter sich zufallen lassen, wenn man nicht die Kraft aufbringen konnte, sie auch wieder zu öffnen. Der Gang zur Küche? Schnell! Doch so schnell ging das nicht. Seine wackligen Beine wollten ihn kaum zwei Schritte weit tragen. Trotzdem erreichte er wie durch ein Wunder gerade noch rechtzeitig den schützenden Schatten des Korridors und versteckte sich eilig hinter der offenstehenden Tür.
Keine Sekunde zu spät, denn schon hörte er Karen rufen. Mein Gott, wie wütend sie klang! Wie eine Furie kam sie in die Halle gelaufen und schrie Lucas Namen. Von seinem Versteck aus konnte er sie gut sehen. Mit zorngerötetem Gesicht rief sie immer wieder nach Lucas, nannte ihn ihren Vater und verwünschte ihn und das ganze Haus.
Denis hätte sich am liebsten Augen und Ohren zugehalten. Er wollte sie so nicht sehen und hören. Sie war kaum wiederzuerkennen in ihrer Raserei. Und warum um Gottes willen nannte sie Lucas ihren Vater? War das etwa der Grund, warum sie so an ihm interessiert war? Aber das konnte unmöglich sein. Doch was war jetzt? Wie sich ihr Blick veränderte. Er wollte schon erleichtert aufatmen, weil er glaubte, sie beruhige sich wieder, doch da irrte er sich gewaltig.
Sie starrte zum Keller. Im Bruchteil einer Sekunde erbebte die Tür. Die Marmorstatue stürzte zu Boden und zerbarst mit einem markerschütternden Schlag. Denis entsetzter Aufschrei ging in dem lauten Poltern unter. Oh, Karen, warum hast du das getan? dachte er. Und das diese Welle der Zerstörung ihr Werk war, daran zweifelte er keinen Augenblick.
Karen war gefährlich. Gefährlich und vollkommen verrückt. Und sie war ganz allein in diesem Haus, ohne dass sie jemand aufhalten konnte. Denis konnte ein leises Wimmern nicht unterdrücken. Was sollte er jetzt bloß tun? Wenn nur schon Abend und Lucas zurück wäre. Er wüsste sofort, was zu unternehmen war.
Aber bis zum Abend blieb noch so viel Zeit. Stunden, in denen Karen wer weiß was tun konnte. Nein, er traute ihr nun nicht mehr. Denn egal, ob aus eigenem Antrieb heraus, oder weil Jarout sie für sich einspannte, war sie gekommen, um zu zerstören. Das konnte er nicht zulassen.
Als Karen aufgebracht die Treppe hinauflief und ihre Schritte nicht mehr zu hören waren, schlich er sich mit schlotternden Knien aus seinem Versteck. Ängstlich blickte er nach oben. Sie war verschwunden. Gut, jetzt wollte er sich ein Versteck suchen, die Nacht abwarten und beten, dass er früh genug aufbrechen konnte, um die Straße noch rechtzeitig zu erreichen.
19. Kapitel
Durchgeschwitzt und bitter enttäuscht ließ Karen den völlig verbogenen Kleiderbügel fallen. Stundenlang war sie auf der Suche nach einem brauchbaren Werkzeug, mit dem sie diese verdammte Tür zu Lucas Zimmer aufbrechen konnte, durch das ganze Haus gelaufen. Doch alles was sie fand, waren Messer, deren Klingen gleich beim zweiten Versuch, das Schloss damit aufzuhebeln, abbrachen. Und von wegen, mit einer Haarnadel konnte man Schlösser knacken. Nichts da! Stattdessen verschwand das Teil auf Nimmerwiedersehen in den Tiefen des Türschlosses.
Den Kleiderbügel schließlich fand sie in ihrem Zimmer in Blanches Schrank. Aber das dumme Ding war ebenso nutzlos wie die anderen Sachen. Warum war in diesem dämlichen Haus nicht einmal ein Schraubenzieher aufzutreiben? Wie konnten die Hirudo nur leben ohne Werkzeug? Ging denen denn niemals was kaputt?
Mit schmerzenden Fingern strich sie das schweißverklebte Haar aus ihrem Gesicht. Sie roch, war müde und hätte am liebsten den ganzen Mist einfach kurzerhand in Brand gesteckt, aber vermutlich war sie dafür schon viel zu erschöpft. Wie viel Zeit blieb ihr noch bis zur nächsten Nacht? Als sie zuletzt auf die Uhr unten in der Halle sah, war es schon kurz vor zwölf. Jetzt waren gut und gerne schon wieder einige Stunden vergangen. Ihr Gefühl für Zeit war völlig hinüber. Aber nicht nur das. Sie selbst war völlig hinüber.
Die Energieentladung vorhin in der Halle sorgte sogar dafür, dass sie nicht einmal fähig war, zu erkennen, wer als Letztes durch die Tür gegangen war. Karen kicherte und ihr Lachen klang erschreckend hysterisch. Bestürzt schlug sie die Hände vor den Mund. Aber sie konnte nicht aufhören. Sie hätte sich die Zerstörungswut für das Schloss aufheben sollen, dann säße sie jetzt nicht mit zwei abgebrochenen Fingernägeln und Staub, der ihr die Kehle verstopfte, in diesem finsteren Flur. Nein, dann stünde sie jetzt in einem Zimmer mit Holzsplittern in den Wänden und kaputten Fensterscheiben. Sie brach in lautes Lachen aus, bis ihr heiße Tränen die Wangen herunterliefen.
«Oh, Scheiße, Karen! Jetzt bist du auch noch übergeschnappt», fluchte sie und wischte mit dem Ärmel von Blanches Kleid die Tränen aus den Augen.
Kein Wunder. Wer wurde nach einigen Tagen in diesem Haus nicht verrückt. Das ist doch völlig normal. Das war die natürliche Sicherung die raussprang, wenn die Leitungen überlastet werden.
Sie konnte immer noch abhauen, wenn sie wollte. Aber gerade das war das Problem. Sie wollte nicht. Sie konnte nicht. Ginge sie, dann wäre ihr Leben ebenso verwirkt wie das ihrer Mutter, die all die Jahre, über die Zeit mit Lucas und dem nachtrauerte, was hätte sein können, wenn sie zusammengeblieben wären. Im Gegensatz zu Aimee blieb ihr selber die Wahl. Sie konnte bleiben und herausfinden was passierte, wenn sie Lucas zur Rede stellte oder einfach verschwinden und ... ja, zu einer zweiten Aimee mutierte.
Wenn sie blieb, führte kein Weg zurück. Dann musste sie die Sache bis zum Ende durchstehen. Und dabei gab es nichts, wovor sie sich mehr fürchtete. Und nichts konnte sie sich schwerer eingestehen, als dass ihr die Vorstellung, Lucas könnte sie als seine Tochter verleugnen, am meisten Angst machte. Schlimmer noch, er könnte sie dafür hassen, dass sie Jarout bei seinem gemeinen Plan half.
Dann wäre alles aus und vorbei, ehe sie überhaupt eine Chance bekam, an Lucas väterliche Schuldgefühle zu appellieren und sich seiner zerknirschten Erzeugerseele nach grausamen Vorhaltungen am Ende doch noch gnädig zu erbarmen.
Oh Gott, stellte sie sich ihre Begegnung mit Lucas etwa wirklich so vor? War sie wirklich ein so berechnendes Monstrum? Was war mit der Karen geschehen, deren Wunsch, ihren Vater zu finden allein darauf begründet war, mit ihm zu reden. Mit ihm zu reden, wie ein vernünftiger Mensch und nicht, um ihn mit kindischen Vorwürfen zu quälen.
Aber zum Teufel, er verdient diese Vorwürfe! meldete sich die zornige Stimme in ihr. Er verdiente sie und zwar jeden einzelnen davon.
«Diesmal kommst du nicht so einfach davon, Lucas Vale!», zischte sie und schnappte sich den verdrehten Bügel, sprang auf und machte sich erneut mit zusammengebissenen Zähnen über das Türschloss her. «Schließlich konnte ich auch nie davonkommen, nicht wahr? Und das hat dich keinen Deut geschert, mein lieber Vater.»
Mit widerlichem Quietschen kratzte der Bügel über das Metall des Schlosses.
Bestimmt war seine Tochter das Letzte, was er erwartete, wenn er sein privates, kleines Reich betrat, das er so sorgfältig vor neugierigen Blicken und Händen verbarg. Aber genau das sollte er finden. Seine peinliche Vergangenheit, die praktisch aus dem Nichts in sein geordnetes Leben einbrach und ihn aus seiner selbstzufriedenen Ruhe aufschreckte.
«Ich komm da schon rein, wart's nur ab! Und dann erlebst du die Überraschung deines Lebens, wenn du nach Hause kommst.»