~ 7. Kapitel ~
In dem steter Regen fällt und die Sonne aufgeht
Dass sie die Intimität eines Taxis als willkommen empfunden hatte, lag eine Ewigkeit zurück. Sie störte sich nicht einmal an dem unangenehmen Geruch, den unzählige Körper, an denen Schweiß, Parfüm und weiß der Teufel was klebte, in den abgenutzten Polstern zurückgelassen hatten. Heute war sie einfach nur dankbar, den Blicken und Stimmen der aufdringlichen Menschen entronnen zu sein.
Erleichtert atmete Serena auf, schloss die Augen und lehnte sich in die muffigen Sitze zurück. Schrecklich, dass die Leute in diesem Land so etwas wie eine Reinigung offenbar nur aus dem Fernsehen kannten.
Ich bin so müde, mein Gott, so müde und Arweth, Arweth, Vater ..., dachte sie erschöpft. Während des Fluges nach Köln hatte er wieder von Maratos, dem Ersten der Hirudo, gesprochen. Natürlich erinnerte sie sich an ihn. Und sie erinnerte sich an Melacar. Auch an die Goldene Stadt T’ael erinnerte sie sich. Oft war sie an jenem märchenhaften Ort gewesen, bevor Maratos Lilith, seine Gefährtin, in den Stein von Karm verbannt und damit begonnen hatte, all seine Nachkommen auszurotten. Verzauberte Stunden hatte sie in den Gärten des Palastes verbracht. Und nun war Melacar nur noch ein ferner Traum. Maratos hatte jede Hoffnung auf eine Rückkehr zunichtegemacht. Er hatte all seine unendliche Macht eingesetzt, um Liliths Blut bis zum Letzten ihrer Erben auszulöschen.
Sein letztes Opfer war Golan von Byzanz gewesen. Ausgerechnet sein Erbe, Lucas, und die Mitglieder seiner Familie sollten sich nun mit Maratos verbündet haben? Sie wollte kaum glauben, was Arweth ihr erzählt hatte.
Die Familie plante, den blutigen Wahnsinn ihres Urvaters in die Welt der Menschen auszubreiten. Sie wollten ihm dabei helfen, die letzten seiner und Liliths Kinder abzuschlachten. Im Gegenzug dafür schonte Maratos ihr Leben und verlieh ihnen uneingeschränkte Macht über die Welt der Menschen. Arweths Worte entsetzten sie. Jeden anderen, der einen derartigen Verdacht gegen Lucas oder die Familie aussprechen würde, hätte sie mit Sicherheit halb tot geprügelt. Aber Arweth, ihr eigener Vater, überbrachte ihr diese grauenvolle Nachricht. Und er bewies seine Ernsthaftigkeit, indem er Malcolm ... Oh mein Gott, er hat Malcolm, unseren geliebten Malcolm getötet.
Wieder füllten ihre Augen sich mit Tränen, die ihr wie glitzernde Tautropfen über die bleichen Wangen perlten und in den Kragen ihres Mantels rannen. Die vorbeiziehende, nächtliche Landschaft verschwamm und anstelle der Dunkelheit trat ein hell beleuchteter Ballsaal. Verrückt, dass ihr gerade jetzt dieses besonders heitere Bild der beiden in den Sinn kam. Sie sah die Männer wie ein glückliches Paar miteinander tanzen.
So schön waren sie in ihrer Freude anzusehen. Malcolm und Arweth tanzten und lachten. Glücklich winkten sie ihr zu. Sie sah ihre Augen in dem gelben Gaslicht der Kristalllüster leuchten. Funkelnde Sterne. Malcolms weiches Haar, das ihm in zarten Locken um den Kopf flog, als er herum und herumwirbelte. Sein albernes Kichern, wenn er auf dem glatten Marmorboden schlitterte und beinahe hinfiel.
Sie liebte diesen hinreißenden Jungen. Vom ersten Tag seiner Wandlung an war sie ihm verfallen. Und Arweth fühlte ebenso. Sein Schmerz über das, was er in den letzten Tagen über Malcolm erfahren musste, war mit Sicherheit unermesslich.
Serena war sicher, dass sie sein Leid nicht einmal annähernd nachempfinden konnte. Die Qual in seinem Herzen war so groß, dass sie seine Liebe ausbrannte und er nur noch den Tod für seinen Sohn sah. Sie konnte nicht anders, als ihn dafür zu bewundern. Wäre sie fähig gewesen, das zu tun, was er tat? Wie hart, wie bitter musste dieser Weg für ihn sein. Sie war die Einzige, der er jetzt noch vertrauen konnte.
Mit ihr stand er nun allein gegen alle anderen. Sie waren die Einzigen, die sich Maratos und seinen Handlangern widersetzten. Das war so schrecklich. Wie sollten sie nur einer so gewaltigen Macht begegnen? Und dabei sprach Jarout noch vor wenigen Nächten von Widerstand und der Eroberung Melacars. Mit keinem Wort erwähnte er seinen Bund mit diesem Teufel, der so viele von ihnen hingemetzelt und ihre Köpfe wie Trophäen auf zugespitzte Pfähle gerammt hatte.
Erschöpft durch ihre sich überschlagenden Gedanken, lehnte Serena ihre Stirn gegen das kalte Fensterglas. Im Licht des beinahe vollen Mondes sah sie Felder entlang der Landstraße, auf der sie Richtung Norden fuhren.
Regentropfen prasselten an die Scheibe und glitzerten im silbrigen Mondlicht. Nicht mehr weit entfernt tauchten die Lichter von Straßenlaternen auf. Sie hoffte, dass diese Fahrt bald enden würde. Sie verspürte Hunger. Habe ich überhaupt Lust zu trinken? fragte sie sich.
Ihr Seufzen ließ Dorian Prior aufhorchen. Sie war so still. Schon während des Fluges hatte sie kein Wort gesprochen und stellte gottlob auch jetzt keine dummen Fragen. Musste er sich deswegen etwa Sorgen machen? Vermutlich bereute sie jetzt ihre Sünden. Das wäre gut. Das wäre sogar sehr gut. Auf diese Art musste er dann nur noch die Weichen stellen, die sie auf ihren neuen, reinen Weg führten. Wie er vorausgesehen hatte, erinnerte sich Serena überhaupt nicht mehr an Köln oder Lörringen und auch nicht an die Ereignisse, die damals in der kleinen Kapelle stattgefunden hatten. Doch sie würde sich erinnern, aber erst dann, wenn er es so wollte.
Das verlassene Wirtshaus war nicht mehr weit. Es stand gleich neben der Kapelle, in der vor 400 Jahren sein Leiden begann. Keine zwei Kilometer mehr und sie kam nach Lörringen, dem Ziel ihrer Reise. Keine Minute zu früh. Er spürte schon den nahenden Sonnenaufgang. Ein leises Drängen, das ihm verriet, dass sie sich beeilen sollten, einen geeigneten Unterschlupf zu finden. Doch Dorian Prior hatte vorgesorgt. Zwei bequeme Betten in lichtgeschützten Zimmern warteten nur darauf, dass sie sich hineinlegten.
Bevor sie sich schlafen legten, würde er ihr noch einmal eindringlich klar machen, dass niemand sie finden durfte. Auch nicht in ihren Träumen. Auf gar keinen Fall durfte sie mit einem der Hirudo im Tagschlaf Kontakt aufnehmen. Er war sicher, dass sie seinen Anweisungen gehorchen würde. Falls nicht, dann war er in ihrer Nähe und achtete darauf, dass sie keinen unbeobachteten Schritt tat.