~ 4. Kapitel ~
In dem drei umherirren und
Karen ihren Augen kaum glaubt
»Ja, glaubst du denn, ich habe eine Karte der ganzen beschissenen Welt im Kopf?«, fluchte Jarout. Drei Mal waren sie völlig planlos irgendwo in Köln aus den Spiegeln getreten. Beim ersten Versuch landeten sie auf einer stinkenden, mit Exkrementen besudelten Bahnhofstoilette. Dann im Niemandsland am Stadtrand. Und jetzt standen sie auf einer belebten Straße in der Innenstadt.
»Nein, das erwarte ich nicht. Aber schließlich bist du derjenige, der von uns die Außenwelt am deutlichsten erkennen kann. Und sieht das hier etwa wie ein Flughafen aus?«, schnauzte Calman zurück.
»Oh Mann, wenn das so weitergeht, kommen wir am Ende in Katmandu raus. Vor allem, wenn ihr jetzt nicht aufhört, euch zu streiten.« Abrupt machte Karen auf dem Absatz kehrt. Genervt stapfte sie über die regennasse Straße zu einer windschutzverkleideten Bushaltestelle. Vor einer großen Tafel, auf der neben dem Verkehrsnetz auch eine Stadtkarte aushing, blieb sie stehen und winkte den Streithähnen, ihr zu folgen.
»Hier, kannst du eventuell genug Verstand aufbringen, dir diesen Plan zu merken?«, fragte sie Jarout, der mit einem schiefen Grinsen auf die provokative Ironie ihrer Frage antwortete.
»Gut, dann sollten wir uns beeilen.« Sie wies auf die Uhr neben der Haltestelle. »Wir haben noch gut vier Stunden, ehe die Sonne aufgeht.«
»Vielleicht sollten wir ein Taxi nehmen«, stichelte Calman.
»Sehr witzig, du Intelligenzbestie«, erwiderte Jarout mit zornig blitzenden Augen.
»Nein, Calman hat recht. Ich möchte auch nicht wieder Gott weiß wo rauskommen.« Seufzend strich sie sich eine feuchte Haarsträhne aus den Augen. »Nicht bei dem Sauwetter.«
»Was soll der Mist? Ist doch gleich um die Ecke«, widersprach Jarout. Rasch trat er einen Schritt zu Seite und verschwand in der reflektierenden Plastikoberfläche des Windschutzes. Nur seine ausgestreckte Hand ragte heraus. Die geöffnete Spiegelfläche umwaberte seinen Arm wie aufgewühltes Wasser. Um eventuelle Beobachter schien er sich keinen Deut zu scheren.
Calman sah sich nervös um. Hastig verdeckte er mit seinem Körper den Blick auf Jarouts Hand.
»Los, beeil dich, bevor noch jemand neugierig wird«, drängte er Karen.
Widerwillig gehorchte sie und ergriff die Finger ihres Bruders. Mit einem Ruck tauchte sie in die Spiegel. Kurz darauf streckte sich Jarouts Arm wieder heraus. Calman packte ihn knapp unter dem Ellbogen, schloss die Augen und sprang. Keine zwei Minuten dauerte der Übelkeit erregend schnelle Flug. Als er die Augen wieder öffnete, fand er sich neben Karen und ihrem Bruder inmitten einer grell beleuchteten Halle wieder. Dicht gedrängte Schwärme gepäckbeladener Menschen eilten scheinbar ziellos umher. Ohrenbetäubendes Stimmgewirr zwang ihn, sich abzuwenden. Zu überraschend kamen diese gewaltigen Sinneseindrücke.
»Alles in Ordnung?«, hörte er Karen besorgt fragen. Er schüttelte energisch den Kopf. Für sie war dieses Chaos sicher nicht angenehm, doch ihre Sinne waren wesentlich schwächer. Ihr war sein Schmerz fremd.
»Geht gleich wieder«, presste er hervor. Er beneidete Jarout, der keinerlei Probleme zu haben schien. Gelobt sei der allnächtliche Discobesuch, dachte Calman gequält. Nur allmählich konnte er die dröhnenden Stimmen, das blendende Neonlicht und die lähmenden Erschütterungen der laut stampfenden Schritte ausblenden.
»Ich bin so einen Mist einfach nicht gewohnt«, murmelte er. Mit schmerzerfülltem Blick raffte er sich auf. »Na los, dann wollen wir mal.«
»Wo sollen wir anfangen zu suchen?«, fragte Jarout mit unsicherem Blick auf die vorbeiströmende Menschenflut.
»Erst einmal sollten wir herausfinden, an welchem Gate sie rauskamen. Karen kann dann versuchen, Serenas Bild in einem der Angestellten zu finden.«
Karen nickte und erinnerte sich an Serena, die sie schon öfter im «porch» oder bei einem Treffen der Hirudo, die der Familie nahe standen, gesehen hatte. Gemeinsam eilten Calman, Jarout und Karen zu einem der Informationsschalter.
»Ich hoffe, die sprechen hier Englisch«, sagte Karen.
»Das werden wir gleich herausfinden«, meinte Calman und drängte sich an Reihen wartender Passagiere vorbei.
»Entschuldigen Sie, Miss.«
Hinter ihnen schimpften aufgebrachte Stimmen unverständliche Forderungen. Besorgt sah Karen in die zornigen Augen der Leute. Sie waren wütend, weil sie sich vorgedrängt hatten. Wenn sie nur verstehen könnte, was sie sagten. Halt, warnte sie sich, besser nicht. Derartiger Zorn war jetzt nicht das, was sie suchte. Sie wollte Serenas Bild und sie musste vorsichtig sein, um nicht abgelenkt zu werden.
Langsam öffnete sie ihre Wahrnehmung. Zögernd tastete sie sich voran. Auf keinen Fall wollte sie die Gedanken und Gedächtnisbilder dieser Menschen aufnehmen. Mit aller Kraft konzentrierte sie sich auf die jugendlich aussehende Frau hinter dem Tresen. Ihr gehetzter Blick aus sorgfältig geschminkten, blauen Augen war mitleiderregend. Hilfe suchend packte Karen Calmans Hand. Seine Finger waren kalt und hart wie polierter Marmor. Doch seine Energie prickelte wie ein warmer Funkenregen auf ihrer Haut. So geduldig, als entwirrte sie ein verknotetes Fadengespinst, teilte sie die Gedankenstränge der blonden Frau. Ein gelegentliches Lächeln huschte über ihre Lippen, als sie auf amüsante Informationen stieß. Was wohl deine Kollegin davon hält, dass du mit ihrem Freund pennst, dachte Karen grinsend. Tststs, dabei bist du doch schon über dreißig. Die Gute log ganz ungeniert, was ihr Alter anging.
»Miss, können Sie uns helfen«, rief Calman noch einmal. Sein Trick funktionierte. Lächelnd wandte sie sich von dem Mann ab, der wild gestikulierend mit gereizter Ehefrau und quengelnden Rotznasen vor dem Schalter stand. Jetzt war ihre Aufmerksamkeit bei ihm und somit auch bei Karen, die direkt neben ihm stand. Klar, dachte Karen. Sicher ist der hübsche Kerl mit den umwerfenden Augen viel interessanter als der Idiot da vorn. Sie konnte ein leises Kichern nicht verkneifen. Jarout stieß sie in die Seite. Karen ignorierte ihn, notierte sich diese Aufmerksamkeit allerdings für eine spätere Revanche.
Da, da ist was. Gezielt wischte sie das Bild des entblößten Geschlechts ihres Gefährten beiseite. Pfui, dieses Weib hat eine wirklich schmutzige Fantasie. Dahinter jedoch wurde sie fündig. Was sie sah, verwirrte sie eher, als dass sie sich über ihren Erfolg freute. Vor ihrem inneren Auge stand ein auffälliges Paar, das schnellen Schrittes vorübereilte. Wie ein Traumbild und doch deutlich genug, nahm sie die Erinnerung der Frau am Ticketschalter wahr. Sicher, in der großen, blonden Frau erkannte sie eindeutig Serena. Der Mann in ihrer Begleitung war ein mindestens zwei Meter großer Hirudo mit langem, weißen Haar. Seine bleiche Haut leuchtete unwirklich in dem grellen Neonlicht. Rote Augen reflektierten das einfallende Licht wie funkelnde Granatsteine. Sie sah beide die Halle verlassen und in ein Taxi steigen. Dann fuhr der Wagen an und die blitzartige Erinnerung verlosch.
»Arweth«, keuchte Karen und ließ los. Taumelnd klammerte sie sich an Calmans Arm. Vor Anstrengung zitterte sie am ganzen Körper. Kalter Schweiß rann ihr in wahren Sturzbächen den Rücken hinunter.
»Das, das verstehe ich nicht.« Wie wild zerrte sie an Calmans Arm. Verwirrt ließ er sich von ihr aus der aufgebracht schimpfenden Menschentraube ziehen.
»Was ist denn?«
»Ich habe sie gesehen. Undeutlich zwar, aber es war eindeutig Serena. Sie war nicht allein.«
»Sag schon, wer war bei ihr. Konntest du sein Gesicht erkennen? Kennen wir ihn?«, drängte Calman.
»Ja. Aber das kann unmöglich sein.«
»Wer war es?«
Sie blickte stirnrunzelnd zu ihm auf. Mit gepresster Stimme antwortete sie: »Arweth.«