~ 5. Kapitel ~
In dem ein Geist erscheint und unerwarteter
Besuch eintrifft
Karen verwünschte den Tag oder vielmehr die Nacht, in der sie sich ausgerechnet dieses Zimmer für ihre Arbeit an der Fortsetzung von Golans Chronik der Hirudo ausgesucht hatte. Als ihr Vater sie eingeladen hatte, in das Haus der Hirudo zu ziehen, hatte Blanche ihr ein Zimmer angeboten, das warm und freundlich war. Doch Karen nutzte jenes lediglich als Schlafzimmer und, um dort ihre Kleider zu verwahren. Leben und ihrer neu entdeckten Aufgabe nachgehen, dem Schreiben der Chronik, wollte sie unter allen Umständen und ausgerechnet in Denis‘ Turm. Einen Entschluss, den sie jeden Winter aufs Neue bereute.
Der Raum war kalt. Elendig kalt und außerdem zog der Wind durch jede gottverdammte Ritze in dem miserabel isolierten Turm. Dagegen konnte selbst das Feuer, das in dem Kamin so viel versprechend prasselte, nicht das Geringste ausrichten. Zitternd zog sie die wollene Strickjacke enger um die schmalen Schultern.
Wie hatte sie damals nur glauben können, ausgerechnet in genau diesen Raum zu gehören? Denis, der das untere Turmzimmer als Atelier nutzte, erlaubte ihr gern, im oberen Zimmer Quartier zu nehmen. Der Turm schien ihr tatsächlich der beste Platz im ganzen Haus. Dieser Ort fühlte sich einfach richtig an. Er fühlte sich an, als könne sie nur hier die nötige Ruhe und Inspiration finden. Jetzt fühlte sie außer permanenter Gänsehaut kaum noch etwas. Denis hatte sie nicht gewarnt. Warum auch. Er war ein Vampir und wenn Karen eines in ihrem ersten Winter hier gelernt hatte, dann, dass Vampire eine enorm hohe Kältetoleranz besaßen. Die Einzige, die hier fror, war sie. Sie war jedes Mal geradezu dankbar, wenn sie zu Bett gehen konnte. Ihr Schlafzimmer war mit zwei großen Heizkörpern ausgestattet und in dem angrenzenden Badezimmer konnte sie sich gelegentlich ein wärmendes Vollbad gönnen. Warum konnte sie sich bloß nicht vorstellen, auch dort zu schreiben? Sie wusste keinen Grund dafür, nur, dass sie in jenem Raum keinen vernünftigen Satz zusammenbekam. Also war sie Winter um Winter kreativ, produzierte Seite um Seite, hauchte den vergänglichen Erinnerungen der Hirudo Ewigkeit ein, und fror dabei, anstatt gemütlich warm in ihrem zentralbeheizten Schlafzimmer zu sitzen. Vielleicht bist du aber auch einfach nur vollkommen meschugge, dachte sie und verzog den ebenmäßigen Mund zu einem zynischen Lächeln.
Auch in diesem Jahr hielt der Winter das Land fest im Griff. Karen sehnte sich nach England und seinen milden Wintern. Sogar fisseliges Regenwetter, bei dem sie früher schon zu erfrieren glaubte, wäre ihr jetzt um einiges angenehmer.
Schon den vierten Winter verbrachte sie in diesem alten zugigen Turm im Haus der Hirudo am Genfer See. Jedes Jahr schwor sie, für die kommende kalte Jahreszeit ihren Computer und die anderen Utensilien, die sie zum Arbeiten brauchte, mitsamt Schreibtisch in ihr anderes Zimmer zu bringen. Doch bestimmt kam auch nächstes Mal der Winter, ohne dass sie sich durchringen konnte, umzuziehen. Denn zwischen diesem und dem nächsten Winter lag der Sommer. Und der ließ sie mit Sicherheit die bitterkalten Nächte vergessen und würde sie mit der romantischen Schönheit, die er Denis‘ Turm verlieh, verführen.
Die eigene Torheit zu verwünschen war sinnlos. Der heutige Abend war gelaufen. Denn außer durchgefroren zu sein, wusste sie auch in der Geschichte, an der sie gerade schrieb, nicht mehr weiter. Seit einer halben Stunde versuchte sie sich zu erinnern, was Seamus ihr erzählt hatte, doch die Fragmente wollten sich einfach nicht zusammenfügen. Das hatte sie jetzt davon zu glauben, einige Stichworte würden als Notiz ausreichen. Karen Grant, lern endlich in ganzen Sätzen zu schreiben, du dumme Pute! schimpfte sie in Gedanken.
Das gleichmäßige Blinken des Cursors auf dem Computermonitor war nervtötend, und als der Monitor dieses Mal auf Stand-by schaltete, sprang sie auf. Sie wollte in den Salon, der im Erdgeschoss des Hauses gleich neben der Eingangshalle lag, um sich ein wenig aufzuwärmen. Fröstelnd tappte sie hinunter in Denis Zimmer. Auf halben Weg stoppte sie jedoch wie angewurzelt. Sie wusste, dass Denis heute Nacht nicht in seinem Atelier im unteren Teil des Turmes arbeitete. Er war mit Jarout, seinem Stiefbruder, unterwegs. Dennoch offenbarte sich ihr das bestimmte Gefühl eines Anwesenden als aufgeregtes Prickeln im Nacken. Jemand war dort unten. Jemand, den sie nicht kannte.
Jeden Bewohner des Hauses konnte sie an der vertrauten Aura identifizieren. Anwesenheit zu spüren, ohne denjenigen zu sehen, war eines der Talente, die sie von ihrem Vater geerbt hatte. Sie wusste damit umzugehen und darauf zu vertrauen.
Nervös strich sie sich eine Strähne ihres langen roten Haars aus der Stirn. Was sollte sie jetzt tun? Ihr Herz klopfte so schnell und laut, dass sie fürchtete, der Eindringling könnte sie hören. Zwar galt in diesem Haus, dass kein Hirudo eine Sterbliche angreifen durfte, doch wusste das auch jemand, der zum ersten Mal hier herkam? Außerdem war keinesfalls sicher, dass der Besuch eingeladen war.
Fieberhaft suchten ihre Gedanken nach den Mitgliedern der Familie. Dank der von ihrem Vater Lucas an sie vererbten Talente vermochte sie jeden von ihnen telepathisch zu erreichen.
Nach kurzer Suche fand Karen Galina und Seamus im großen Salon und Jarout, der offenbar von seinem Ausflug zurück war, in seinem Zimmer. Arweth war ebenfalls im Haus. Sie alle nutzten Karen nicht viel. Sie konnten ihre Gedanken nicht hören. Zu gut funktionierte ihre angewohnte Abwehr gegen fremde Zugriffe. Wo war Lucas? Oh, ausgerechnet heute war er nicht zu Hause. Ihn hätte sie durch ihre, für Notfälle wie diesen, gegenseitig verabredete Technik alarmieren können.
Denis! Wenn Jarout daheim war, musste auch Denis irgendwo sein. Sie traf ihn in der Küche bei Blanche. Erleichtert spürte Karen seine Gedanken, die ihr mitteilten, dass er schon auf dem Weg sei. Dank seiner schwach ausgeprägten und in der Welt der Vampire eher nutzlosen Talente war er der Einzige, dessen Geist ihr jederzeit und ohne viel Mühe zugänglich war. Wie oft hatte sie ihm gesagt, dass auch seine Art von großem Nutzen sein konnte. Heute war seine Schwäche ihre einzige Chance auf Hilfe und sie dankte in einem Stoßgebet, dass es Denis gab.
Jetzt wagte sie, weiter zu gehen. Vorsichtig setzte sie einen Fuß vor den anderen, damit sie nicht auch noch stolperte und sich den Hals brach. Unten in Denis‘ Atelier brannte der kleine Kronleuchter mit den elektrischen Lampen, den Denis in seiner geteilten Vorliebe für alles Antike und das Moderne angeschafft hatte. Das Halogenlicht erhellte das Zimmer bis in den letzten Winkel. Eilig sah sie sich um. Das Zimmer war leer und so als wäre nie etwas gewesen, war auch das Kribbeln im Nacken verschwunden. Niemand war mehr da.
Alles schien unberührt. Auf den ersten Blick konnte sie nichts Ungewöhnliches entdecken. Doch da! Ihr Blick blieb an der großen Leinwand hängen, an der Denis während der letzten Nächte gearbeitet hatte. Einen Meter breit und beinahe doppelt so hoch, nahm sie die eine Wand des Zimmers ganz für sich in Anspruch. Er hatte sie gegen zwei schwere Holzbalken gelehnt, da er keine so große Staffelei besaß.
Viel war noch nicht auf der gefärbten Fläche zu erkennen. Die Grundierung war aufgetragen und erste Umrisse des Motivs waren grob dargestellt. Ein schemenhaftes Gesicht, die geschwungene Linie der Schultern, und Arme, die sich ein wenig vom unvollständigen Rumpf der dargestellten Person abspreizten. Von den angedeuteten Hüften verliefen die flüchtig skizzierten Falten eines Rockes oder weiten Gewandes bis an den unteren Rand der Leinwand. Gemalt in stumpfem Grau auf dem dunklen Indigo-Ton der Grundfarbe. Karen brauchte eine Weile, um sich darüber klar zu werden, was sie an der Leinwand irritierte.
Denis war seit letzter Nacht nicht mehr hier gewesen, um weiterzumalen. Und letzte Nacht, als er ging, war da noch keine Skizze für ein Motiv. Karen war sicher, dass er seitdem nicht mehr hierher gekommen war. Schließlich saß sie selbst seit Sonnenuntergang oben. Sie hätte ihn gehört. Und letzte Nacht noch hatte er sich beschwert, nicht weitermalen zu können, weil die Farbe so lange zum Trocknen brauchte.
Was war also mit der Leinwand geschehen? Karen beschloss, sie genauer in Augenschein zu nehmen. Ohne Angst konnte sie nun den Raum durchqueren. Wer immer noch vor wenigen Minuten hier gewesen war und seine Spuren auf der Grundierung hinterlassen hatte, war nun fort.
Misstrauisch näherte sich Karen dem Bild und streckte zögernd die Hand danach aus. Sie berührte nur ungern Gegenstände, von denen sie nicht wusste, wem sie gehörten oder wer sie zuletzt in Händen gehalten hatte. Mehr als einmal machte sie aufgrund ihrer mangelnden Vorsicht schlechte Erfahrungen. Das Talent, Gedanken, Emotionen und sogar lange zurückliegende Ereignisse über die Oberfläche eines Objektes zu spüren, stammte vermutlich von einem Vorfahren Lucas’. Er selbst verfügte nicht über diese Fähigkeit. Von ihm hatte Karen nur das Talent der Telepathie und das Beeinflussen toter Materie geerbt.
Vergangenes über Gegenstände zu spüren war die Fähigkeit, die ihr am meisten zu schaffen machte. Und niemand konnte ihr helfen, damit zurechtzukommen.
Wenn sie auf einen Gegenstand reagierte, empfand sie eine solche Berührung als reine, konzentrierte Aufnahme zahlreicher Informationen. Und das nicht etwa in geordneter Abfolge. Vielmehr brachen sämtliche Bilder und Gedanken, einer meterhohen Flutwelle gleich, über sie herein.
Doch diesmal musste sie das Risiko eingehen. Schließlich war jemand unangekündigt in dieses Haus gekommen. Sie musste unbedingt herausfinden, wer das war und vor allem wollte sie mehr über das Motiv dieses Eindringlings erfahren.
Sachte legte sie eine Fingerspitze nach der anderen auf die abgebildeten Schultern. Sie erwartete etwas Außergewöhnliches, doch nichts geschah. Irritiert wiederholte sie die Berührung. Wieder nichts. Enttäuscht zog sie die Hand zurück. Außer, dass ihr jetzt Farbe an den Fingern klebte und ihre Fingerabdrücke die Leinwand verunzierten, blieben ihre Bemühungen erfolglos.
Doch als sie ihre Finger an einem der ölbefleckten Tücher, mit denen Denis seine Pinsel reinigte, abwischte, bemerkte sie, dass nicht Farbe an ihren Fingerspitzen klebte, sondern Staub.
Verdutzt rieb sie Daumen und Zeigefinger aneinander. Tatsächlich, Staub. Aber wie kann das sein? dachte sie. Mit dem Zeigefinger tappte sie noch einmal auf das grundierte Leinen. Eine feine, pudrige Wolke rieselte zu Boden, als sie mit dem Fingernagel an der beinahe durchsichtigen Schicht kratzte. Doch wer oder was um alles in der Welt hatte mit Staub auf die Leinwand gemalt?
Karen hatte in ihrem Leben schon einige seltsame Dinge wahrgenommen. Sie sah schimmernde Lichter in Form menschlicher Körper in verlassenen Häusern, hörte Stimmen in leeren Räumen, sogar Personen sah sie, die schon lange nicht mehr am Leben waren. Das hier war jedoch etwas eindeutig Neues.
Welches Wesen war nur auf die Idee verfallen, mit Staub den Umriss eines Körpers auf das Leinen zu malen? Ihr suchender Blick fiel auf die Hände des Abbilds.
Moment mal, dachte sie. Vielleicht ist diese Gestalt gar nicht gemalt. Ihr kam die irrwitzige Idee, dass diese Abbildung vielmehr wie ein Abdruck aussah. Doch wie hatte der Besucher das nun wieder fertiggebracht?
Hastig griff sie nach einer der Farbtuben, die auf einem Tisch neben der Leinwand lagen, und schraubte den Verschluss ab. So, ein kleiner Klecks dürfte genügen, überlegte sie. Gründlich verrieb Karen die Farbe zwischen ihren Handflächen und presste dann die Innenfläche ihrer Linken fest gegen die Leinwand. Gleich neben den Handabdruck aus Staub. Und tatsächlich. Bis auf den Größen- und Farbunterschied zwischen ihrem und dem Staubabdruck konnte man ganz deutlich erkennen, dass bei beiden dieselbe Technik angewandt wurde.
Ein Abdruck also, urteilte sie. Der Abdruck eines Körpers, der sich gegen die Leinwand gepresst hatte oder ... »durch sie hindurchgerauscht war und dabei den Staub zurückließ«, rief sie laut.
Karen überlegte kurz. Das genaue Vorgehen war ja nicht so wichtig. Aufgeregt studierte sie die Staubschicht. Das war fantastisch. Wie machte dieses Wesen das nur. Wenn sie nur wüsste, wie sie hinter das Geheimnis kommen konnte. Ob es diesen Trick schon öfters ausgeführt hatte? Sie seufzte, als ihr einfiel, das, was immer auch in Denis Turm passiert war, sich vermutlich nicht wiederholen würde. Abrupt wurden ihre Überlegungen unterbrochen, als Denis die Tür aufriss und eilig auf sie zulief.
»Karen, was ist ...«, rief er. Doch dann stutzte er verwirrt. Sein Blick fiel auf die Leinwand. »Mon dieu, die Grundierung! Was hast du gemacht?«
»Nicht, was habe ich gemacht! Was hat es gemacht. Ich habe nur imitiert, um herauszufinden, was passiert ist«, erklärte sie hastig.
»Oh nein, jetzt kann ich noch mal von vorn anfangen.« Verzweiflung verzerrte seine weichen Züge. Seine opalgrünen Augen verdunkelten sich vor Schreck. Besorgt lief er zu seiner ruinierten Arbeit.
Wie rührend er aussieht mit seinem unordentlich geknöpften Hemd und den viel zu weiten Hosen. Der ewig verwirrte, fahrige Denis. Fern von der Realität und nur selten mit seinen Gedanken fünf Minuten bei der Sache, dachte Karen. Dass er ihr zu Hilfe eilen wollte, weil sie in Gefahr war, schien er vergessen zu haben.
»Ach Unsinn, Denis. Das kannst du doch ganz einfach übermalen. Und das andere ist nur Staub. Aber was für welcher. Schau dir das genauer an! Jemand oder etwas hat auf deiner Leinwand seinen persönlichen Abdruck hinterlassen.« Sie lachte amüsiert. »Wie eine Signatur nach dem Motto: Schaut, ich war hier und bin ich nicht gut?«
»Karen, es tut mir leid, aber ich verstehe kein Wort von dem, was du da sagst.«
»Nun komm her und sieh es dir an.« Karen schubste ihn näher an die Leinwand heran. »Hier, an dem Kleid zum Beispiel.« Sie wischte über die graue Fläche. »Siehst du: Staub.«
Vollends verwirrt betrachtete er die krümelige Schicht auf ihrem Finger, den sie ihm direkt vors Gesicht hielt.
»Staub?«
Sie nickte. »Jemand war hier, Denis. Jemand, ich weiß auch nicht, ein Geist vielleicht. Oder jemand, der seine Gedanken formen kann. Möglicherweise ein Hirudo mit einem seltsamen Talent. Ist ja auch egal. Jedenfalls hat es seinen Abdruck auf deiner Leinwand zurückgelassen. Und zwar in Staub.«
Ihre Stimme bebte vor Aufregung. Sie war so aufgekratzt, dass sie nicht stillstehen konnte und wie ein kleines Kind von einem Fuß auf den anderen trat. Ihre Augen glänzten wie im Fieber.
»Warum?«, fragte Denis blinzelnd. Er war immer noch verwirrt und begriff nicht, was sie ihm zu erklären versuchte. Wie schon so oft irritierte ihn ihre Impulsivität. Sie machte ihn nervös und ließ ihn sich wie ein begriffsstutziger Idiot fühlen.
»Keine Ahnung, warum. Ich saß oben und plötzlich hatte ich das Gefühl, dass jemand hier unten ist. Und da habe ich erst dich gerufen und bin dann runter. Aber derjenige war schon wieder weg. Doch das hier war da.« Sie wies auf die Leinwand. »Das war kein Mensch, soviel dürfte klar sein. So etwas habe ich noch nie gesehen, Denis.«
»Und was ist das?« Er deutete vorsichtig auf den roten Farbabdruck neben der ›Geisterhand‹.
»Oh, das war ich. Siehst du, so!« Ehe er protestieren konnte, klatschte sie mit der flachen Hand auf das Leinen. »Um zu sehen, ob meine Idee mit dem Abdruck richtig war, und siehst du, es ist ein Abdruck.«
»Aha!«
»Das ist alles? Du sagst aha und damit ist es gut?«
»Ja, ich meine, nein. Lucas sollte das sehen.«
Sie erstarrte. »Meinst du wirklich? Ich weiß nicht, ob es das wert ist, ich meine ...«
»Wenn jemand hier war, muss Lucas davon erfahren.«
Karen nickte. Lucas miteinzubeziehen gefiel ihr zwar nicht, aber sie wusste auch, dass ihn zu informieren wohl unumgänglich war. Zumindest sollte ihr Vater sich die Sache ansehen. Dann konnten sie immer noch gemeinsam entscheiden, was zu tun war. Außerdem erinnerte sie sich an die eigene Furcht, als sie die Anwesenheit des Fremden spürte.
»In Ordnung. Du hast vermutlich recht. Ich weiß nur nicht, ob es tatsächlich so wichtig ist. Meistens kommen diese Wesen nur einmal und dann nie wieder. Außer, man lebt in einem Haus, in dem einer von ihnen spukt. Das hier war vermutlich nur eine Durchreisende, die so was wie Hallo sagen wollte. Vielleicht hat sie gespürt, dass ich Wesen wie sie sehen kann«, vermutete sie, wobei sie bei dem Wort »Wesen« mit den Fingern Anführungsstriche in die Luft zeichnete.
»Du hast aber auch gesagt, es könnte ein Hirudo sein, und dass du nicht genau weißt, was es tatsächlich war.«
»Ja, du hast ja recht. Ist schon gut. Ich werde Lucas holen.« Karen wandte sich zum Gehen. Sie zögerte noch, da ihre ehemals enthusiastische Begeisterung angesichts der Aussicht, Lucas deswegen in Alarmbereitschaft zu versetzen, verpufft war.
»Am besten bleibst du hier und passt auf die Leinwand auf. Wenn sich was tut, rufst du mich. Du weißt wie.«
Denis nickte und legte ihr kurz seine Hand auf die Schulter.
Eilig rannte sie die Treppe hinunter in die schummerige Finsternis der schlecht beleuchteten Gänge des oberen Stockwerkes. Ehe sie die letzte Stufe erreichte, rief Denis nach ihr. Als sie sich umdrehte, stand er mit verschränkten Armen in der Tür zum Turmzimmer.
»Wir haben Besuch bekommen«, sagte er. »Calman ist da. Ich dachte, das würde dich vielleicht interessieren.«
Sein Gesicht sprach dabei Bände. Denis war eifersüchtig. Seit ihrer ersten Begegnung mit Calman neidete Denis dem Älteren ihre Gesellschaft und Aufmerksamkeit. Dass Lucas Calman die Aufgabe anvertraut hatte, seine Tochter mit der Gesellschaft der Hirudo, mit deren Umgang und Gepflogenheiten vertraut zu machen, musste Denis als Verrat an seiner Loyalität erschienen sein. Schließlich war er der erste Hirudo gewesen, zu dem Karen ein Verhältnis des Vertrauens und der Freundschaft aufgebaut hatte.
Doch Denis Eifersucht scherte Karen in genau diesem Augenblick wenig. Calman, der liebe, großzügige Calman. Er war da. Calman war gekommen und bestimmt nicht ohne Grund. Was für ein Abend. Erst die Geisterfrau, die ihren Körperabdruck in Staub auf Denis Leinwand zurückließ und nun Calman. Interessante Zeiten versprachen anzubrechen.