~ 6. Kapitel ~
In dem Jarout seinen Teil des Handels erfüllt
Lucas saß zusammen mit Seamus, Arweth und Calman in seinem Arbeitszimmer. Die Unstimmigkeit zwischen ihnen schien als fünfte Person anwesend zu sein und entlud sich, als Karen eintrat. Vier Augenpaare blickten gereizt zur Tür, die sie am liebsten gleich wieder zugeworfen und die Flucht ergriffen hätte. Sich unerlaubt in die gerade von den vier Hirudo geführte Diskussion einzumischen, schien ihr mit einem Mal keine so gute Idee wie noch vor einer Minute zu sein.
»Karen, gut, dass du kommst. Wir wollten dich gerade rufen. Bitte, setz dich doch einen Moment zu uns.« Lucas Stimme klang freundlich und auch die anderen schienen wieder beruhigt. Sie versuchte ein Lächeln, das vorhersehbar aufgesetzt wirkte. Zögernd setzte sie sich auf den freien Stuhl neben Calman, der ihr ein aufmunterndes Blinzeln schenkte. Lucas räusperte sich leise. »Ich vermute, dass du dich fragst, warum wir dich sprechen wollen, nicht wahr?«
Bevor sie antworten konnte, fuhr Arweth dazwischen: »Was soll das, Lucas? Wir können uns dieses zeitraubende Herumgerede sparen.« Seine Stimme war leise und dennoch so durchdringend, dass sie Karen einen kalten Schauer den Rücken hinunterjagte. Mit dem Blick seiner rot glühenden Augen schien er sie durchbohren zu wollen. Respekt, der an Angst grenzte, kroch in ihr hoch und ließ sie erstarren.
»Wir haben beschlossen, dass du uns hilfst«, sagte Arweth. »Du wirst für uns sehen, was zu sehen ist. Leider verfügt kein Mitglied der Familie, auch Calman und ich nicht, über dein Talent. Bedauerlicherweise muss ich eingestehen, dass wir mit unseren Nachforschungen keinen Schritt weiterkommen. Du musst Malcolm berühren, um in Erfahrung zu bringen, was geschah.«
Arweths Worte klangen hart in ihr nach. Damit machte er unmissverständlich klar, dass dieser Schritt keineswegs von ihm gebilligt wurde. Er fügte sich lediglich der Mehrheit und dem Mangel an Alternativen. Karen fühlte Verbitterung in sich aufsteigen. Wie hoheitsvoll dieser alte Vampir auf sie herabblickte. Offensichtlich war er unverrückbar der Ansicht, dass sie unwürdig war. Und doch brauchst du mich, du blasierter Idiot, dachte sie zornig.
»Das wird nicht notwendig sein«, erwiderte Karen schlicht, ohne Arweth dabei anzusehen. Sie reichte Lucas den dünnen Papierstapel, den sie bislang fest umklammert hielt, um das Zittern ihrer Hände zu unterdrücken.
»Was ist das?«, fragte er.
»Die andere Lösung«, warf Jarout ein. »Karen hat diesen Artikel gefunden und meine Wenigkeit hat darauf den Typen erkannt, der Serena gestern den Brief brachte.« Unverhohlener Stolz schwang in seiner Stimme.
»Die Aufnahme wurde in Bethnal Green gemacht. Der Mann wird gesucht, weil ihn Leute aus dem brennenden Haus laufen sahen. In dem Gebäude befand sich ein Wachsfigurenkabinett. Wax hieß es. Offenbar ging auch von eben jenem Haus, der Brand aus«, erklärte Karen und beugte sich vor, um die dritte Seite aus dem Stapel zu nehmen. »Hier ist die Adresse des Vermieters. Randolph Somers. Vielleicht weiß er mehr über diesen Mann.«
»Ja, das ist nämlich derselbe Penner, den ich gestern gesehen habe und der ist der Wächter«, erklärte Jarout noch einmal. Karen schickte einen warnenden Blick in seine Richtung. Er sollte verdammt noch mal nicht so aufdringlich sein. Sonst verdarb er noch alles.
»Wie bist du auf diesen Artikel gekommen? Ich meine, so was fängt man doch nicht in der Luft auf«, meinte Seamus und nahm Lucas die Seiten aus der Hand. Dabei fiel Karen auf, wie müde er aussah. Sein Gesicht wirkte grau und tiefe Ringe lagen unter seinen Augen. Vermutlich machte er sich wieder einmal die meisten Sorgen von allen. Seamus, der im Alter von vierzig Jahren zum Hirudo geworden war, wirkte, verglichen mit den anderen, ohnehin ungewöhnlich alt. Kleine Fältchen säumten seine Augen und Mundwinkel und sein langes blondes Haar war von silbernen Strähnen durchzogen. Doch heute schien er um Jahre gealtert.
Arweth, der neben Seamus saß, beugte sich über dessen Schulter, um ebenfalls einen neugierigen Blick auf das Blatt zu werfen. Gleich darauf richtete er seinen erwartungsvollen Blick auf Karen.
Ihr fiel Lucas Frage wieder ein. Verzweifelt suchte sie nach einer Antwort. Aus unerfindlichem Grund sträubte sich alles in ihr, ihnen die Wahrheit zu sagen. Warum das so war, wusste sie nicht. Vielleicht ließ sie dummer, kindischer Trotz so fühlen. Die Familie verheimlichte ihr etwas. Nun erschien ihr die Begegnung vom Morgen wie ein Schatz, ein eigenes Geheimnis, das sie hüten wollte. Vor allem Arweth gönnte sie nicht, dass er ihre Erfahrung teilen sollte. Doch eine einleuchtende Erklärung wollte ihr auch nicht einfallen.
»Recherche«, sagte Karen hastig. Ihre Antwort klang eher wie eine Frage, was auch Arweth nicht entging, der sie misstrauisch ansah. »Für eine Geschichte«, fügte sie hinzu.
»Das ist doch nicht so wichtig, oder? Ein Zufall, sonst nichts«, meinte Jarout. Sein Rettungsversuch war nett gemeint, aber vermutlich gänzlich wirkungslos.
»Wichtig ist doch jetzt nur, dass wir einen Anhaltspunkt haben. Jemanden, nach dem wir suchen können. Also, wenn ihr mich fragt, die Jagd ist eröffnet«, tönte er weiter.
»Setz dich, Jarout! Setz dich und halt für einen Moment den Mund!«, schnauzte Arweth, dem egal war, wer wann, wen oder wo gefunden hatte. Er wollte nachdenken und das fiel ihm mit diesem plappernden Kind im Zimmer schwer.
»Ich meine, sie sollte es trotzdem mit Malcolm versuchen«, sagte er und seine roten Augen fingen Karens Blick mit Leichtigkeit.
»Das muss sie nicht tun, wenn sie es nicht möchte«, schaltete sich Calman ein.
»Wir haben entschieden, dass es das Beste so ist. Vergiss das nicht!«, warnte ihn Arweth.
»Arweth, bitte. Vermutlich würde sie auch nur Gesichter, aber keine Namen oder Orte sehen. Ich kenne ihr Talent. Schließlich habe ich ihr geholfen, es auszubilden. Sie kann uns keine Namen nennen. Das kann aber der Mann, dem dieses Haus gehört. Er kann uns vielleicht sogar sagen, wer der Kerl von gestern Abend ist.«
Karen warf Calman einen dankbaren Blick zu.
»Und wenn nicht, dann verlieren wir nur kostbare Zeit«, schimpfte Arweth, ungeachtet der vorgebrachten Argumente.
»Ihr könnt mich nicht dazu zwingen und wenn doch, dann ist es meine Entscheidung, ob ich euch hinterher auch nur ein Sterbenswörtchen verrate«, sagte Karen energisch.
Arweth überhörte Karens Einwand. Was bildete sich dieses Mädchen bloß ein?
»Was haltet ihr davon, wenn ich mit Jarout nach London gehe und wir schauen, was wir herausbekommen«, schlug Calman vor.
»Eigentlich bräuchten wir dich noch eine Weile hier ...«, gab Lucas zu bedenken.
»Oh, ich bin sicher, ihr bekommt das auch ohne mich ganz gut hin. Ich bin ja nicht lange weg und bestimmt wieder zurück, ehe ihr mich benötigt«, meinte Calman.
»Ich komme mit«, fuhr Karen dazwischen.
Wie kommt sie dazu, ihr Gespräch schon wieder zu unterbrechen. Lucas sollte ihr unbedingt mal etwas Benehmen beibringen, dachte Arweth empört und wollte sie gerade zurechtweisen, als Jarout dazwischen fuhr.
»Ich denke, sie hat es verdient, dabei zu sein. Schließlich hat sie das Foto gefunden. Und ohne sie hätte ich den Kerl auch nicht erkennen können und wir wären immer noch keinen Deut weiter und ...«
»Das reicht!«, unterbrach ihn Calman. »Aber ich glaube, Jarout hat recht. Vielleicht kann sie uns vor Ort helfen. Ich meine, falls der gute Mann nicht so zugänglich ist, wie wir das gern hätten.«
»Oder, wenn sie was in dem Haus findet. Was meinst du, Vater?«, fragte Jarout.
Lucas sah aus, als überlegte er kurz. Dann sah er auf und seine hellen Augen wanderten ernst zwischen Jarout und Karen hin und her.
»Meinetwegen. Du kannst sie begleiten, Karen. Aber du, Jarout, wirst mir dafür verantwortlich sein, dass ihr nichts zustößt. Wir wissen, wie gefährlich unser Gegner werden kann. Falls die Situation zu riskant wird, bringst du sie zurück, verstanden?«
Sie war erstaunt, wie leicht Lucas sein Einverständnis gab. Doch seine Entscheidung zu hinterfragen wäre dumm. Sie wollte auf keinen Fall riskieren, dass er womöglich erkannte, dass seine Zustimmung vorschnell war und ihr doch verbot, Calman und Jarout zu begleiten.
Calman nickte und stand auf. »Wir sollten sofort aufbrechen, sonst beschließt Mister Somers noch auszugehen und dann können wir auch noch ihn suchen«, meinte er.
Die anderen stimmten ihm zu. Zu dritt gingen sie in den Keller.
Calman entriegelte die schwere Eichentür und lief die elektrisch beleuchtete Treppe hinunter. Karen zögerte kurz. Sie war nicht zum ersten Mal hier unten. Allerdings war ihr der Zugang normalerweise verwehrt. Das Betreten der unterirdischen Räume, in denen die Hirudo ihren Tagschlaf hielten, erschien ihr wie die Verletzung eines Tabus. Heute kam hinzu, dass Malcolms Leiche dort unten lag. Allein schon bei dem Gedanken an ihn wurde ihr unwohl. Was sie wohl getan hätten, wenn sich keine Alternative geboten hätte? Hätten sie versucht, sie zu zwingen, ihn zu berühren?
Als sie am Fuß der Treppe ankamen, fiel ihr Blick sofort auf das weiße Tuch. Als heller Schemen war das Leinentuch im Halbdunkel am anderen Ende des Kellergewölbes zu erkennen. Dort auf dem Tisch unter dem Laken lag er. Gänsehaut kribbelte Karen über die Arme und stellte die feinen Härchen ihrer Haut auf. Sie fuhr erschrocken zusammen, als Jarouts Stimme leise hallend von der gewölbten Decke reflektierte.
»Dann lasst uns damit anfangen, dass wir uns mit diesem Randolph Somers unterhalten«, meinte er und war als Erster am Spiegel.
»Vielleicht sollten wir erst zu dem Haus gehen. Wer weiß, womöglich finden wir etwas, was andere übersehen haben«, schlug Calman vor.
»In Ordnung, dann gehen Karen und du meinetwegen dorthin und ich kümmere mich um Randyboy.« Jarouts Gesichtsausdruck ließ nichts Gutes ahnen.
»Ja, und lebt der Mann noch, wenn du wieder gehst?«, fragte Karen und warf ihrem Bruder einen prüfenden Blick zu. Ein breites Grinsen war seine Antwort.
»Wir bleiben zusammen«, entschied Calman und schubste Jarout in Richtung Spiegel. Seine Worte klangen streng. Trotzdem fragte sich Karen, ob er ahnte, wie schwer Jarout von etwas abzuhalten war, das er sich in den Kopf gesetzt hatte.