1. Kapitel

 

Schlagartig war sie hellwach. Mit weit geöffneten Augen lauschte sie regungslos in die Stille. Jemand war da. Karen konnte die Anwesenheit ganz deutlich spüren. Ein mit den Jahren so vertraut gewordenes Gefühl sagte ihr, dass sie beobachtet wurde. Vor Angst krampfte sich ihr Magen zusammen und eine Welle der Übelkeit, die ihr den kalten Schweiß auf die Stirn trieb, jagte durch ihren Körper. Was sollte sie tun? Sollte sie so tun, als schliefe sie? Oder sollte sie ...?

Zögernd streifte sie die Bettdecke, die ihr im Schlaf übers Gesicht gerutscht war, beiseite. In dem nachtdunklen Zimmer konnte sie kaum etwas erkennen. Ihr Blick suchte die Fensterreihe, die sich als vier helle Rechtecke vor dem dunklen Raum abhoben. Dort! Der Schatten einer Gestalt, der nicht zum gewohnten Anblick gehörte? War das eine Schulter? Die Silhouette eines Kinns darüber?

Sie zitterte am ganzen Leib, und ihr Herz schlug so wild, dass sie fürchtete, der Eindringling könnte das laute Klopfen hören. Auf gar keinen Fall wollte sie ihn wissen lassen, dass sie seine Anwesenheit bemerkt hatte. Sie musste sich um jeden Preis beruhigen und herausfinden, wer oder vielmehr, was es war. Umsonst, sie konnte sich einfach nicht konzentrieren. Dabei war sie schon unzählige Male in eine ähnliche Situation geraten und hatte im Laufe der Jahre gelernt, ihre Furcht in den Griff zu bekommen. Diesmal jedoch war irgendwas anders. Sie fühlte, dass von diesem Wesen am Fenster von vornherein etwas Bedrohliches ausging, dem sie sich nicht entziehen konnte.

Verschwinde doch, lass mich zufrieden, dachte sie. Hau ab! Mit einem heftigen Ruck schleuderte sie die Decke hoch und sprang aus dem Bett.

Ein schnelles Huschen, fliegende Haare, ein Wabern ...

Ehe sie erkennen konnte, wohin die Gestalt verschwand, war sie in den Spiegel neben den Fenstern gesprungen, und wie vom Erdboden verschluckt. Mit noch erhobenen Armen, um den erwarteten Angriff abzuwehren, stand sie mitten im Schlafzimmer.

Keuchend starrte sie ungläubig auf die Spiegelfläche. Eben hatte sie noch wie verrückt geflimmert. Jetzt aber war sie wieder ruhig und vollkommen still. Nur das Zimmer und sie selbst waren darin als helle Schemen zu sehen.

Sie hatte es vertrieben. Wie die meisten dieser Art waren sie offenbar sehr schreckhaft und nicht darauf gefasst, für die Augen eines Menschen sichtbar zu sein. Karen konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Jetzt, wo die Angst wieder in ihren Käfig gesperrt und sie selber in ihrem weißen Nachthemd das einzige Nachtgespenst in diesem Haus war.

«So was Blödes», sagte sie kichernd zu sich selbst, «und ich fürchtete mich wie ein kleines Kind.»

Dabei war sie weiß Gott gewohnt, mitten in der Nacht von lauten Geräuschen geweckt zu werden. Sogar bei Tag sah sie oft seltsame Lichter und Luftzüge und sogar schemenhafte Gestalten. Schon als Kind war sie so »anders« gewesen und hatte früh lernen müssen, nicht jedes Mal vor anderen auszuplaudern, was sie sah oder hörte.

Für sie selbst war über diese Fähigkeit zu verfügen so normal gewesen, wie es für einen von Geburt an Blinden normal war, sich mittels seines Tastsinns zurechtzufinden. Erst viel später war ihr klar geworden, dass sie sich von anderen unterschied und Menschen wie sie, meistens für seltsam und im schlimmsten Fall, für völlig verrückt gehalten wurden.

Zu Hause war alles in Ordnung gewesen. Da durfte sie soviel erzählen wie sie wollte. Für ihre Mutter Aimee und Peter, ihren Stiefvater, waren Karens Begabungen etwas Besonderes gewesen und nichts, vor dem man sich fürchten musste.

Der arme Peter. Das Leben mit ihr nach dem Tod ihrer Mutter vor einem Jahr war wirklich nicht leicht für ihn und sie wusste das, konnte aber nichts daran ändern. Dass sie anfing, nach ihrem »richtigen« Vater zu suchen, war nur schwer für ihn zu verstehen, auch wenn er behauptete, damit klarzukommen.

Seine Sorgen und Gedanken, die nicht nur, aber wohl zum größten Teil ihr galten, hielten ihn oft nächtelang wach. Auch heute konnte sie ihn in der Küche umherlaufen hören.

Sie blickte zum Wecker auf ihrem Nachtschrank. Grüne Ziffern leuchteten im Dunkeln. Elf Uhr schon. Das war spät für sie beide. Für ihn, um schlafen zu gehen, und sie selber sollte eigentlich schon längst unterwegs sein. Wie so oft klapperte sie die üblichen Plätze in der Stadt ab. Immer auf der Suche nach jemandem, der ihr helfen konnte, Informationen über ihren Vater zu bekommen.

Im Grunde war eine so planlose Suche völlig sinnlos, und auf diese Art bestand für sie nur wenig Aussicht auf Erfolg. Ziellos nach jemandem zu suchen, der vor mehr als zwanzig Jahren spurlos verschwunden war, war einfach schwachsinnig. Doch was blieb ihr anderes übrig als das?

Träge ließ sie sich auf ihr Bett zurückfallen und knipste die Nachttischlampe an. Das helle Licht blendete sie. Schnell kniff sie die Augen zu und tastete blind in dem ständig wachsenden Kleiderhaufen nach den Sachen, die sie gestern schon getragen hatte.

Während sie sich umzog, überlegte sie, ob sie sich nicht besser aus dem Haus schleichen sollte, damit Peter gar nicht erst mitbekam, was sie vorhatte.

Aber allein der Gedanke daran, ihn so zu hintergehen, bereitete ihr ein unangenehmes Gefühl von Schuld. Nein, viel schlimmer wäre, wenn er entdeckte, dass sie einfach abgehauen war, als wenn sie jetzt ganz offen ihre Jacke von der Garderobe holte und an ihm vorbei durch die Küche ging.

Karen hörte unten in der Küche leises Stühlerücken und kurz darauf, wie eine Schranktür auf- und wieder zugemacht wurde. Sie seufzte leise. Vermutlich war Peter wieder einmal dabei, seinen Wachposten für die nächsten Stunden zu beziehen. Vielleicht war er zu einem Gespräch aufgelegt?

Sie beschloss, hinunterzugehen und herauszufinden, wie er gelaunt war. Leise schlich sie die Treppe hinunter durch den Flur und weiter zur Küchentür. Durch einen schmalen Spalt drang das gelbe Licht der Lampe, die ihre Mutter in einem Anfall von rustikaler Nostalgie gekauft hatte. Ein scheußlich hässliches Ding, das eher an einen verbeulten Strohhut erinnerte. Absolut grausam. Und weil Peter es nicht übers Herz brachte, auch nur ein Stück von Aimees Sachen wegzugeben, blieb sie ihnen wohl auf immer erhalten.

Also gut, dann auf jetzt in die Höhle des Löwen, dachte sie, packte den Türknauf und versuchte, ihrem Gesicht einen möglichst neutralen Ausdruck zu verleihen. Sie wusste, Peter war nicht leicht zu beeindrucken. Sah sie zu harmlos aus, dann witterte er sofort, dass sie was vorhatte, was ihm nicht gefallen würde. Wirkte sie zu fröhlich, galt desgleichen.

Doch sie hatte Glück. Als sie die Tür öffnete und eintrat, nahm er seine Brille ab und putzte die Gläser mit dem Ärmel seiner Strickjacke. Jetzt sah er nur vage Umrisse seiner Umwelt, und ihr Gesicht war nichts weiter, als eine verschwommene Fläche.

«Oh, du bist auf?» Er setzte die Brille wieder auf und wendete den Kopf wie ein neugieriger Vogel im Licht der Lampe, um zu prüfen, ob die Gläser sauber waren.

«Jaaa», antwortete sie träge und setzte sich ihm gegenüber auf die gepolsterte Bank. Mit einem Mal hatte sie nicht mehr die geringste Lust, zu reden. Sie brauchte ihn nur anzusehen und wusste, dass sie stumm bleiben würde, anstatt ihm zu erklären, warum sie nach einem Mann suchte, der sie und ihre Mutter noch vor ihrer Geburt verließ.

Peters Anblick reichte aus. Er war die wandelnde Anklage, das Mahnmal ihrer Schuldgefühle.

«Was ist los?», wollte er wissen. Er wartete eine Zeit lang, doch mehr als ein Schulterzucken brachte Karen nicht zustande. «Willst es mir nicht sagen?»

Sinnlos mit ihm zu diskutieren, dachte sie und sprang auf. «Ich geh noch mal weg. Du brauchst nicht aufzubleiben, es kann spät werden.»

«Spät oder früh?»

Sie grinste schräg. «Sehr witzig.»

«Du warst gestern schon so lange aus. Ich mache mir nur Sorgen, dass ...»

«Dafür gibt es aber keinen Grund. Ich gehe seit Jahren allein in die Stadt. Und ...? Ist mir was passiert? Nein! Siehst du, kein Grund sich Sorgen zu machen.»

«Ich dachte nur, vielleicht ... Möchtest du einen Kaffee?» Peter sah so hoffnungsvoll aus. Eine Tasse konnte ja nicht schaden. Sie setzte sich wieder, als er eine zweite Tasse aus dem Schrank holte.

«Gern, aber nicht so viel, bitte.»

«Darf ich fragen, was du vorhast?» Vorsichtig stellte er die Tasse mit dampfendem Kaffee vor Karen auf dem Tisch. Natürlich wusste er, was sie vorhatte, oder ahnte es wenigstens. Warum fragte er?

«Ich möchte nur nicht, dass du dich unnötig in Gefahr begibst und den Überblick verlierst. Ich habe Angst, dass es dann zu spät ist und du verletzt wirst. Nicht körperlich weißt du, sondern dass deine Enttäuschung dich genauso hart trifft, wie ... und dann ...»

«Oh, bitte, ich bin nicht Aimee! Bei mir liegt die Sache doch wohl etwas anders, oder? Können wir nicht einfach über was anderes reden?»

Der Kaffee roch köstlich. Sie griff nach der Tasse und blickte fragend zu ihm. Peter antwortete nicht.

«Ich weiß nicht, warum wir das jetzt schon wieder anfangen. Wir haben das doch schon hundert Mal durchgekaut. Du kennst meine Gründe. Du weißt, wieso ich Lucas finden will.»

«Ich weiß gar nichts, Karen. Ich weiß nur, dass du allmählich genauso besessen bist, wie Aimee von ihm.»

So ehrlich war er noch nie gewesen, wenn sie über die beiden gesprochen hatten. Sie war überrascht, dass er endlich aussprach, was ihn bedrückte.

«Sei nicht albern, Peter!»

«Ich und albern? Dann sag mir mal, wie du das nennst, was du tust! Rennst jede Nacht hinaus und treibst dich was weiß ich wo herum, und das nun schon seit Wochen. Und, bist du dabei auch nur einen Schritt weiter gekommen?»

Das war nicht fair. Glaubte er, sie wüsste nicht selber ganz genau, dass sie immer noch exakt dort stand, wo sie angefangen hatte?

«Oh ja, mach mich ruhig fertig. Darin bist du wirklich gut. Denkst du ...»

«Karen», unterbrach er, «ich will dich nicht fertigmachen, wie du das nennst. Ich will dich aufwecken. Das ist doch alles Irrsinn, was du treibst.» Er knallte seine geballte Hand auf die Tischplatte und fegte um ein Haar seine Tasse um. Karen sprang auf. Peter wirkte so ... lächerlich in seinem plötzlichen Anfall von Courage.

«Okay, das reicht! Ich gehe jetzt und wage nicht, mich aufzuhalten. Und versuch ja nicht, mir zu sagen, was ich tun oder lassen soll. Du hast doch gar keine Ahnung! Für wen zum Teufel hältst du dich eigentlich?»

Wutentbrannt stürmte sie zur Haustür.

«Ich bin dein Vater, gottverdammt! Nicht ein dahergelaufener ...»

Auf halbem Weg hinaus wirbelte sie herum. «Ah! Da haben wir es endlich. Du bist eifersüchtig. Der liebe Peter Rawlings ist eifersüchtig und flippt aus.»

«Natürlich bin ich eifersüchtig. Ich habe auch allen Grund dazu. Wer war denn dein Leben lang für dich da? Wo war dein Lucas, als du deinen ersten Zahn bekommen hast, deine ersten Schritte gemacht hast und als du weinend von der Schule gekommen bist? Wer hat diesen ganzen Scheiß Liebeskummer mit dir durchgemacht? Und wo war er, als Aimee starb? Gott, sie war besessen von ihm! Glaube nicht, dass ich nicht bemerkte, was los war. Dein ganzes Leben lang erzählte sie dir doch von ihm. Du dachtest wohl, ich weiß nichts davon? Natürlich wusste ich das. Doch was hätte ich schon sagen oder tun können? Hey, Schatz, hör auf, dem Mädchen solche Sachen zu erzählen? Sie wird sonst noch ganz wirr im Kopf und fängt zu spinnen an. Karen, wie hätte ich das sagen können? Ich dachte, es würde dir helfen, wenn sie dir alles erzählt. Ich dachte, es würde dadurch einfacher zu verstehen, was mit dir los ist.

 Auch wenn sie es meistens gut verstecken konnte, ihr großer Traum war, dass er eines Tages als Märchenprinz, wie sie ihn immer noch sah, auf seinem weißen Ross dahergeritten kommt. Sie aus ihrem, ach so tristen und ordinären Leben befreit, wie er es schon einmal tat.»

Keuchend rang er nach Luft. Die Brille war ihm schief über die Nase gerutscht und sein Gesicht rot angelaufen. Karen war erschrocken. So hatte sie ihn noch nie erlebt.

«Halt Mutter da raus! Du hast kein Recht ...»

«Kein Recht auf was?» Mit vor Aufregung zitternden Händen versuchte er, die Brille wieder gerade zu rücken. «Kein Recht auf was? Auf eine Meinung zu dem ganzen Mist, den ich hier all die Jahre mitmachte? Glaubst du denn, das war leicht für mich? Erst treffe ich diese Frau, ich verliebe mich Hals über Kopf in sie und glaube, dass sie ebenso für mich empfindet. Ich liebe sogar ihr Kind, über dessen Vater sie sich fünf Jahre lang ausschweigt. Dann fängt dieses Kind auf einmal an zu wissen, was ich denke, was ich fühle. Zu allem Übel entfacht das liebe, kleine Mädchen an jeder nur erdenklichen Ecke des Hauses ein Feuer und lässt alles, was nicht niet- und nagelfest ist, durch die Luft fliegen.» Mit erhobenem Zeigefinger unterstrich er seine Worte. «Und erst da erzählt mir meine Frau von dem Vater ihrer Tochter. Sie gab mir eine Geschichte zu lesen und erzählte mir Dinge, die sie erlebte und die derart unglaublich waren, dass jeder andere sie für vollkommen übergeschnappt gehalten hätte. Doch ich nicht, denn ich sah ja täglich, zu was die Tochter dieses Mannes fähig ist. Also, glaube ich an all diese Dinge und gewöhne mich sogar mit der Zeit daran.

Ich bin sogar dankbar dafür, dass sie nicht herumläuft und versucht, in Hälse zu beißen. Aber woran ich mich niemals gewöhne, ist, dass er von da an immer deutlich sichtbar zwischen uns stand. Und weißt du, was ich nicht ertragen kann?» Er machte eine kurze Pause um Luft zu holen. «Jetzt ist er auch zwischen dir und mir.»

«Das ist doch alles Blödsinn. Ja, ich will Lucas finden. Aber doch nur, um ihn zu fragen, warum er nie versuchte, mich oder Aimee zu sehen. Ich will wissen ... ich will ihn sehen und mit ihm reden. Kannst du das denn nicht verstehen? Wenn mein leiblicher Vater, wenn Lucas Vale noch existiert, dann muss ich ihn einfach sehen. Bitte, Peter!»

Ihr Versuch, sich zu rechtfertigen, machte alles nur noch schlimmer. Peters Gesicht verlor seinen zornigen Ausdruck. Stattdessen sah er jetzt einfach nur noch erschöpft aus, als falle er endgültig unter der Last seiner Enttäuschung über sie in sich zusammen.

«Tu, was du nicht lassen kannst, aber erwarte bitte kein Verständnis von mir. Ich lebte zu lange mit einer Frau zusammen, die von diesem Mann, oder was immer er ist, besessen war. Ich habe keine Lust, das jetzt auch noch mit dir durchzumachen.»

«Na fantastisch, dann eben nicht! Bisher hatte ich ja auch nicht viel Hilfe von dir, also wird mir nichts fehlen.»

Karen riss die Haustür auf. Sie wollte nichts weiter, als so schnell wie möglich raus hier. Sie hörte ihn noch hinterher rufen, zumindest versuchte er nicht, ihr zu folgen.

«Du kannst mich mal!», schrie sie zurück und rannte weiter. Erst als sie an der U-Bahn-Station ankam und sich auf die Holzbank setzte, um auf den nächsten Zug zu warten, erlaubte sie sich, in Tränen auszubrechen. Und dass die anderen Wartenden sie misstrauisch beäugten, war ihr dabei völlig egal. Scheiß drauf, dachte sie und wischte sich trotzig die Nase am Pulloverärmel ab. Du kannst mich mal, Peter! Ihr alle könnt mich mal!