~ 2. Kapitel ~

 

In dem man nach London aufbricht

und sich um höhere Ziele sorgt

 

Sie waren im Salon versammelt. Alle, außer Beryl und Eliane, die gleich nach dem Abendessen verschwunden waren und bestimmt erst kurz vor Sonnenaufgang zurück kommen würden. Doch die anderen waren da und einer wirkte verlorener als der andere.

Am schlimmsten schien Arweths Verfassung. Malcolm und Serena waren seine »Kinder«. Er hatte sie zu Hirudo gemacht. Und nun war der eine tot und die andere verschwunden. Als Calman mit Karen und Jarout den Salon betrat, eilte er sofort zu seinem Bruder Arweth und schlang wie ein hilfloses Kind seine Arme um den reaktionsunfähigen Älteren.

Himmel, sind wir denn so ein armseliger Haufen?, dachte Lucas grimmig und ließ seinen Blick von einem zum anderen wandern. Er stand noch immer neben dem Telefon und versuchte zu begreifen, was tatsächlich geschehen war. Viel konnte er von Colin, dem Barmann des «porch», während des Telefonats nicht in Erfahrung bringen. Die wenigen Worte jedoch erschütterten die mächtige, die unantastbare, die unsterbliche Welt der Hirudo. Einer von ihnen war getötet worden. Diese Nachricht ließ sie alle für einen viel zu langen Moment in Hilflosigkeit erstarren.

Colin berichtete, dass Malcolm und Serena gemeinsam den Club verlassen hatten. Ein Mann, dem Aussehen nach zu urteilen ein Obdachloser, begleitete die beiden. Und seit ihrem Verschwinden kam kein Lebenszeichen von Serena. Malcolms grauenvoll zugerichtete Leiche fand einer der Angestellten vor gut einer halben Stunde bei den Abfallcontainern im Innenhof des Gebäudes. Sein Mörder musste ihn dort hingebracht haben. Der noch warme Körper war in einen Teppich gewickelt. Sein abgeschlagener Kopf lag auf dem Deckel einer Abfalltonne. Wer auch immer dieses Verbrechen begangen hatte, handelte gewiss nicht aus einer Laune heraus. Der Mord war geplant durchgeführt worden und der Täter wollte sie das wissen lassen. Er wollte, dass sie genau so dastehen, wie Lucas sie jetzt vor sich sah. Eine Herde kopfloser Schafe, deren Anführer bis ins Mark getroffen und unfähig ist, einen klaren Gedanken zu fassen.

 »Wir werden sofort aufbrechen, hörst du!« Lucas packte Arweths Arm, doch der Ältere schien ihn gar nicht zu sehen.

Jeder kannte Arweths Zorn. Sie durften ihn erleben, als Jarout vor fünf Jahren versucht hatte, das Geheimnis um Lucas wahres Alter und die tatsächlichen Verhältnisse um seine Herkunft zu offenbaren.

Arweths Rage war beinahe außer Kontrolle geraten, sodass Lucas all seine Überredungskunst aufbringen musste, um ihn zu beruhigen. Nur Lucas Eingreifen verdankte Jarout, dass er noch lebte.

Arweth so kraftlos zu sehen, war wirklich beunruhigend. Lucas wusste, welcher Gedanke den Ältesten lähmte. Dieser Verdacht war um einiges schlimmer, als die Vermutung, dass jemand dort draußen herumlief, der die Kraft besaß, einen Hirudo zu töten. Die Frage, die Arweth quälte, war dieselbe, die auch ihn beschäftigte. Was war, wenn sie nicht in einem Fremden, sondern in Serena Malcolms Mörder fanden?

»Könnte wohl jemand den Fernseher ausschalten!«, fauchte Lucas. Als niemand reagierte, benutzte er kurzerhand seine Gedankenkraft. Ein kurzer Funkenregen und schon verstummten Sirenengeheul und die leidenschaftslos-britische Stimme des BBC-Reporters, der live von einem Brand im Ostteil Londons berichtete.

»Schon besser.«

Doch die Stille offenbarte ihre Ratlosigkeit nur umso eindringlicher.

»Wir gehen durch die Spiegel. Jarout, du kommst mit. Vielleicht brauchen wir deine Hilfe auf dem Rückweg«, bestimmte Lucas. »Außerdem warst du heute Abend noch mit Malcolm und Serena zusammen. Dir könnte auffallen, was wir übersehen.«

Calman löste sich von Arweth. »Ich komme auch mit«, sagte er mit bebender Stimme. Lucas nickte ihm stumm zu.

»Kommt, wir sollten keine Zeit verlieren. Ich möchte vor Sonnenaufgang noch einige offene Fragen klären.«

Den anderen voran verließ er den Salon und führte sie hinunter in den Keller. Die restaurierten und ausgebauten Gewölbe unterhalb des Hauses dienten der Familie als Schlafstätte während des Tages. Jedem Mitglied der Familie stand ein eigener Alkoven zur Verfügung. Die einzelnen Schlafkammern waren durch schwere Vorhänge voneinander getrennt und boten dadurch die notwendige Intimität. Zugleich waren sie nicht vollständig separiert, sodass ihre Gedanken im Tagschlaf leicht zueinanderfinden konnten.

Dort unten stand auch ein Spiegel, den Lucas für seine seltenen Reisen durch die Spiegel nutzte. Er stammte aus einem der oberen Zimmer und gehörte einst Blanche. Die glatte, sorgfältig gefertigte Fläche war groß genug, dass sogar Arweth ihn bequem und aufrecht stehend betreten konnte.

Lucas drängte sie zur Eile. Nicht wegen der Sonne, oder weil er scharf darauf war, herauszufinden, wer Malcolm umgebracht hatte. Bis Tagesanbruch blieben noch gut dreieinhalb Stunden und den Toten kannte er kaum. Seine Motivation war, diese lästige Angelegenheit so schnell wie möglich aus der Welt zu schaffen.

 Arweth musste sich unbedingt wieder fangen. Ohne seine Autorität waren all ihre Pläne hinfällig. Sie brauchten Arweths Kraft. Nur er verfügte über die Fähigkeit, die Hirudo außerhalb der Familie von dem Nutzen einer Allianz zu überzeugen. Dabei stand mehr auf dem Spiel als die Trauer um den Verlust eines Sohnes und Freundes und das Verschwinden Serenas.

Sollte sich ihr Vorhaben aufgrund dieses Zwischenfalls verzögern oder sogar daran scheitern, war bald mehr als nur der Tod eines Einzelnen zu betrauern. Wenn Jarout, der die letzten Jahre in Melacar, der ursprünglichen Welt der Hirudo verbracht hatte, nicht maßlos übertrieb, durften sie in der Tat mit viel Schlimmerem rechnen. Maratos Pläne, in die Welt der Menschen einzudringen, konnten sie nur mit geeinten Kräften vereiteln.

Misslang die Allianz, gingen die Hirudo einer Katastrophe entgegen.