21. Kapitel

 

Selten war Lucas den Weg von Genf zu dem Haus der Familie mit so gemischten Gefühlen gefahren.

Unter der warmen Vorfreude, heimzukommen und Blanche und die anderen wiederzusehen, lauerte unbestimmte aber eiskalte Furcht. Visionen von dem, was ihn bei seiner Ankunft möglicherweise erwartete, lenkten ihn so sehr ab, dass er sich kaum auf den Verkehr konzentrieren konnte. Er war heilfroh, dass sie unversehrt die Stadt hinter sich brachten und er auf der kilometerlangen, waldgesäumten Landstraße wesentlich gefahrloser seinen Gedanken nachhängen konnte.

Der CD-Player spielte Billie Holiday. Sie sang - East of the sun in ihrer ureigenen festen, schmeichelnden Art, die ihm für gewöhnlich ein Gefühl von Zuversicht bereitete. Diesmal sang Billie umsonst, und er fühlte sich mit jedem Kilometer, den sie dem Haus näher kamen, unruhiger. Mist, jetzt hätte er beinahe die Auffahrt verpasst. Im letzten Moment riss er das Lenkrad herum und trat gleichzeitig auf die Bremse. Nur knapp verfehlte der Wagen das unscheinbare Ortsschild in der Kurve und holperte wild über den unbefestigten Straßenrand.

Seamus stieß ein verärgertes Fluchen aus, doch ihm fehlte die Energie für eine echte Schimpftirade. Er sah müde aus. Gern hätte Lucas gewusst, was er dachte, wagte aber nicht, ihn zu fragen. Am allerwenigsten konnte er jetzt auch noch einen seiner Vorträge gebrauchen.

Der letzte war keine halbe Stunde her und den ganzen Weg vom Zug bis zum Parkplatz auf ihn niedergegangen. Und jeder Satz glich einem eisigen Regenguss, der ihn bis auf die Seele durchtränkte.

Seamus hatte ja keine Ahnung. Er hielt Jarout immer noch für Lucas einziges Kind. Dass damals zwei Kinder in der Wiege lagen, wusste er bis heute nicht. Ein Junge, Jarout und ein Mädchen ... Zwillinge. Nervös fuhr Lucas mit den Fingern durch sein Haar und kniff die Augen zu. Als er sie wieder öffnete, erblickte er vor sich mitten auf der Straße einen hellen Schemen. Beinahe unbewusst registrierte er die undeutlichen Umrisse einer menschlichen Gestalt. Und das Auto raste genau darauf zu.

Himmel! Diese verdammten Idioten, die in ihren dunkelsten Kleidern nachts zu Fuß auf der Straße herumlaufen, dachte er noch. Dann riss er hastig das Steuer herum und trat mit voller Kraft die Bremse durch. Die Räder blockierten, das Wagenheck brach aus. Das Fahrzeug schleuderte unkontrolliert und mit quietschenden Reifen über den Straßenrand auf eine Baumreihe zu. Das Lenkrad bohrte sich schmerzhaft in Lucas Rippen und Seamus wurde brutal gegen die Seitenscheibe geschleudert. Wie durch ein Wunder kam das Auto kurz vor dem drohenden Zusammenstoß mit einem der Bäume zum Stehen. «Oh mein Gott, oh mein Gott, Scheiße!», keuchte Lucas. Mit bebenden Händen löste er den Sicherheitsgurt und drehte den Zündschlüssel rum.

«Willst du uns umbringen, verdammt?», kreischte Seamus völlig außer sich.

«Da war jemand auf der Straße!», schrie Lucas zurück. Er packte den Türgriff und sprang aus dem Wagen.

«Wo?», fragte Seamus.

«Da hinten. Mitten auf der Straße. Ich hätte ihn beinahe überfahren.»

Das Herz klopfte ihm so wild, als wollte es zum Hals heraus.

«Los, setz dich sofort wieder ins Auto! Ich geh hin und seh nach», befahl Seamus, und kletterte aus dem Auto. Lucas sah nicht so aus, als wäre er in der Lage, jetzt auch nur halbwegs vernünftig zu reagieren.

 «Ja, das ist doch ...?» Seamus Blick ging an Lucas vorbei. «Dieser dumme Junge!»

Was meinte er damit? Lucas wirbelte herum. Keine fünf Meter von ihnen entfernt sah er in der Dunkelheit einen taumelnden Schatten die Straße überqueren. Und als er genauer hinsah, erkannte er den lebensmüden Nachtwanderer ebenfalls.

Das war Denis. Wild gestikulierend kam er auf sie zugelaufen.

«Lucas! Seamus!», rief er laut.

«Na warte, du ...», knurrte Seamus. Wie oft hatte er Lucas gewarnt, dass er dem Jungen zu viel durchgehen ließ. Diesmal war das Maß endgültig voll. Wenn Lucas ihn diesmal nicht gehörig zurechtstutzte, dann ...

 «Was hast du armer Irrer dir eigentlich dabei gedacht, he!», brüllte er und stürmte auf Denis zu.

Erschrocken blieb er stehen und hob abwehrend die Hände. «Seam! Ich ...», japste er, doch Seamus wartete seinen hilflosen Erklärungsversuch nicht ab.

«Setz dich sofort in den Wagen!», schrie er. «Und dann wirst du uns gefälligst erklären, was dieser Blödsinn bedeutet.» Seamus packte erbarmungslos Denis Arm und schleifte ihn zum Auto.

Denis winselte wie ein verschrecktes Tier. «Nein! Nicht!»

«Seam», fuhr Lucas dazwischen, «das reicht! Lass ihn los!»

Schnell langte er nach Seamus Hand und löste sie von Denis Hemd. Mit zornigem Blick funkelte Seamus ihn an, doch Lucas dachte nicht daran, nachzugeben.

«Geh, Denis, setz dich rein!», sagte Lucas leise. «Und du auch, Seamus. Wir werden uns jetzt alle beruhigen und dann sehen wir weiter.»

Mit dankbarem Blick, aber am ganzen Körper schlotternd, schlüpfte Denis auf die Rückbank.

Seamus riss sich von Lucas, der seine Hand immer noch festhielt, los. «Du wirst schon sehen, was du davon hast, wenn dir das hier noch nicht reicht», fauchte er.

Wütend stapfte er zum Auto, setzte sich wieder auf dem Beifahrersitz und schlug die Tür so heftig zu, dass der ganze Wagen bebte. Lucas folgte ihm kopfschüttelnd. Jetzt, wo der größte Schreck vorbei war, war er nur mehr erleichtert, dass sie alle unversehrt waren. Ärger über Denis dummes Verhalten war da doch wirklich nebensächlich.

Als er sich zu den beiden in den Wagen setzte, spürte er Denis Angst. Wie eine fast greifbare, vierte Person, stand sie zwischen ihnen.

«Es tut mir ja so leid, Lucas, Seamus, ich ... », stotterte er völlig aufgelöst.

Auch Lucas wünschte, er würde nicht so herumstammeln. Aber er wusste auch, dass Seamus Reaktion von eben nicht gerade zu seiner Beruhigung beitrug.

«Jetzt ist es ja wieder gut. Es ist nichts passiert und uns allen geht es gut, Denis», sagte er. Dabei bemühte er sich, seine Stimme ruhig klingen zu lassen, obwohl ihm der Schrecken noch immer in den Knochen steckte.

 «Bitte, du darfst nicht, ich meine, du musst, Lucas. Sie ist deinetwegen gekommen. Jarout brachte sie mit. Ich weiß nicht, er weiß nicht, oder nein, ich glaube, sie ist gefährlich. Sie will etwas von dir», brach es aus Denis heraus.

«Schcht», zischte Seamus, der schon wieder ungeduldig wurde, «ruhig jetzt, und noch mal von vorne. Wer will was von wem? Du musst der Reihe nach erzählen.»

«Wer ist sie?» Lucas sah ein weißes Gesicht und langes, dunkelrotes Haar ausgebreitet auf einem purpurfarbenen Kissen. Er streckte seine Hand nach Denis Gesicht aus und zwang ihn, ihm in die Augen zu sehen. Denis, zeig es mir! Versuch nicht zu reden, zeig es mir! dachte er.

Unter Lucas Einfluss klärte sich Denis Verwirrung und seine Gedanken waren zwar leise, aber um einiges eindeutiger als seine gesprochenen Worte.

Sie kam deinetwegen, hörte Lucas, Jarout brachte sie mit. Karen, es ist Karen ...

Wer ist Karen? Diesmal ließ er Lucas den vagen Umriss eines Gesichts sehen. Schwarze, große Augen, die mehr von dem Zorn in der Person dahinter erkennen ließen, als sie verbargen. Sie ist eine von Jarout. Er brachte sie zu uns. Sie stritten sich. Habe sie gemalt. Gesprochen. Über dich, über uns. Sie weiß, wer wir sind und will dich. Habe sie gehört. Sie schrie, sie schrie deinen Namen.

Aus heiterem Himmel schoss das verzerrte Bild der Eingangshalle durch sein Gehirn. Mit ohrenbetäubendem Krachen, wie unter der Druckwelle einer Explosion erbebte sie. Dann tauchte das Gesicht des Mädchens vor seinen Augen auf. Bestürzt zog Lucas seine Hand zurück, als habe er sich an Denis Gesicht verbrannt. Was war nur geschehen? Von welcher Katastrophe war Denis Zeuge geworden?

«Gut, es ist gut, ich habe genug gesehen.» Entschuldigend streichelte er kurz über Denis weiches Haar, das am Ansatz feucht geworden war.

«Ich weiß nicht, was sie will. Ich habe Angst, Lucas. Karen ist seltsam. Sie kann auch in mich hineinsehen, genau wie du», flüsterte Denis zähneklappernd.

«Er meint das Mädchen, von dem mir Blanche erzählte», warf Seamus ein. Denis nickte und packte Lucas mit beiden Händen am Arm.

«Du darfst nicht nach Hause kommen. Ich weiß nicht, was sie will. Sie kann verletzen. Die Statue in der Halle ist völlig zerstört», wisperte er, «ihre Gedanken. Sie war so wütend, und als sie sie angesehen hat, da ...»

«Denis», unterbrach Lucas ihn, «beruhige dich, bitte.» Und an Seamus gewandt: «Hoffentlich springt der Wagen noch an. Wir müssen uns beeilen.» Seamus nickte zustimmend. Auch ihm war klar, dass Lucas Befürchtungen wohl nicht ganz so aus der Luft gegriffen waren, wie er bislang vermutete.

 «Das klingt wirklich, als wäre sie deinetwegen da. Kennst du sie denn?», wollte Seamus wissen.

«Keine Ahnung», murmelte Lucas grimmig mit zusammengebissenen Zähnen, «das werde ich erst wissen, wenn ich sie sehe.»

Noch früh genug sollte Seamus die Wahrheit erfahren. Gott, so viele Lügen. Wie sollte er nur für alles eine Erklärung finden. Das Geflecht aus Halbwahrheiten, verschwiegenen Tatsachen und offenem Schwindel war in zwanzig Jahren zu einem so dichten Netz gewoben, dass er selber kaum noch zwischen der Wahrheit und dem von ihm konstruierten Lügengebilde unterscheiden konnte.

«Denis, wer ist zu Hause?», fragte er.

Denis überlegte kurz. «Als ich wegging, waren alle da.»

«Gut!» Lucas versuchte ein aufmunterndes Lächeln. Ja, genau, immer schön die Fassade wahren und jede Aufregung zu einer unbedeutenden Kleinigkeit herabspielen, dachte er zynisch. «Dann fahren wir jetzt nach Hause. Ich bin sicher, alles ist nur halb so wild.»

Lucas erwartete nicht, dass ihm Denis und Seamus glaubten. Er glaubte ja selber nicht, was er da so leichthin sagte.

Als er den Zündschlüssel umdrehen wollte, rutschte er unter seinen schweißfeuchten Fingern weg. Er versuchte nochmals zu starten. Erleichtert atmete er auf, als der Motor sofort ansprang. Wie weit waren sie noch vom Haus entfernt? Drei, vier Kilometer? Keine zehn Minuten, wenn der Wagen durchhielt.

Und wenn er behauptet hätte, dass er sich wie ein Delinquent auf dem Weg zur Hinrichtung fühlte, dann wäre das kaum übertrieben gewesen.

Sogar damals, als er zum ersten Mal auf dem Weg zu Golans Haus diese Straße entlang gefahren war, fühlte er sich um einiges wohler in seiner Haut.