23. Kapitel

 

Ganz vorsichtig und allmählich nur drang das entfernte Raunen und Flüstern in ihr erwachendes Bewusstsein. Ein leises Wispern hoch über ihr, wie von trockenen Blättern, durch die ein leichter Wind streicht. Sie aber lag noch still und halb gefangen im dumpf nachklingenden Schatten des Schlafes und lauschte dem leisen Flattern kleiner Flügel.

Hinter ihren geschlossenen Augen erstand das Bild einer wirren Landschaft aus kleinen Zweigen und Ästen, durch die geschäftige Sperlinge hüpften, umeinander schwirrten und sich gegenseitig eilige Grüße ... aber sie zwitscherten nicht. Sie waren still. Warum sangen sie nicht?

Stirnrunzelnd schlug Karen die Augen auf. Wie schwer ihre Lider waren. Als wären sie empört darüber, dass sie von ihnen verlangte, sich zu öffnen.

Sie wollte schlucken, doch ihre Kehle war so trocken geworden, dass der bloße Versuch schmerzhaft war. Getrockneter Speichel, der seltsam salzig schmeckte, klebte in ihren Mundwinkeln. Widerlich. Unwillkürlich musste sie würgen.

Die Vögel. Beinahe hätte sie sie vergessen. Allmählich wurde ihre verschwommene Sicht klarer. Hoch über sich erblickte sie riesige Schattenhöhlen zwischen dunklen Holzbalken und staubigen Spinnwebgirlanden, von ihren längst fortgezogenen Bewohnern zurückgelassen.

Doch da oben lauerten noch Bewohner ganz anderer Art. Dicht an dicht hingen sie festgekrallt und bewegungslos an den Balken herab und spähten mit feuchtfunkelnden Augen. Die kleinen, ledernen Flügelpaare eng um die pelzigen Leiber geschlungen. Doch immer wieder löste sich eines der haarigen Biester und flatterte taumelnd an eine neue, freie Stelle im Gebälk. Das schreckte andere auf, und unter ihnen hob ein aufgeregtes Flügelschlagen an, das tatsächlich wie das Rascheln trockener Blätter klang.

Was für hässliche Kreaturen ihr seid, dachte sie und schauderte. Diese ekelhaften, papierdünnen Häute ihrer Flügel, die gedrungene Nase, die ihre Gesichter zu einer leprazerfressenen Fratze entstellte. Übelkeit bohrte sich in ihren Magen, als sie lange, rosige Zungen aus aufgerissenen Schnauzen lecken sah.

Und die nadelspitzen, weißen Zähne ...

Die Erinnerung traf sie wie ein Faustschlag. Panikerfüllt keuchte sie, rang nach Luft und fuhr entsetzt auf. «Jarout!», schrie sie. Ihre Kehle brannte, als bohre sich ein glühendes Messer in ihren Rachen. Sofort drehte sich alles wie wild um sie. Jäher Schmerz wollte ihr schier den Kopf sprengen.

Dann spürte sie sanft drängende Hände auf ihren Schultern, die sie behutsam in die weichen Kissen unter ihr zurückdrückten.

«Ist schon gut, du bist in Sicherheit. Hab keine Angst!», flüsterte eine leise Stimme, so verführerisch zärtlich, dass sie versucht war, die Augen wieder zu schließen und sich in ihre Wärme zu ergeben. «Jarout ist nicht hier und er wird auch nicht mehr zurückkommen. Er kann dir nichts mehr antun, mein Liebling.»

Doch die Bilder kamen zurück. Mit voller Wucht drängten sie sich in ihre Erinnerung. Jarout, der seine Zähne mit der Wut eines hungrigen Wolfes in ihre Kehle rammte und gierig Zug um Zug ihr Leben aus ihr sog. Die marmorne Kälte seiner Hände, die sie gepackt hielten, während sich eisige, tödliche Gleichgültigkeit anstelle ihres Blutes in ihr ausbreitete.

Was um Gottes willen ist mit mir geschehen? schrie sie in Gedanken, immer noch unfähig mit der Taubheit ihres Mundes Worte zu formen. Nur ein rauer Schrei löste sich aus ihrer Kehle. Hatte sie Jarouts Angriff denn überlebt, oder ...? Unklare Bilder schossen durch ihren Kopf. Ihr bleicher Leib, leblos, kalt, dem Tode nahe. Was taten sie mit ihr? Welche fatale Entscheidung trafen sie? In Aimees Geschichte, erinnerte sie sich, schnitt Lucas dem getöteten Golan das Herz aus der Brust, um sein Leben in sich aufzunehmen und selber zu einem Blut trinkenden Monster zu werden. Wessen Herz hatten sie ihr gegeben?

«Niemandes Herz. Das würde ich niemals gegen deinen Willen zulassen.» Wieder drang diese wunderschöne, sanfte Stimme, deren warmes Timbre so beruhigend und zuversichtlich klang, an ihr Ohr. Karen drehte den Kopf zur Seite. Ihr Nacken schmerzte höllisch und einen Moment lang war sie überzeugt, dass ihr Hals gebrochen war. Doch sie lebte und ihrem Körper spürte sie auch noch. Sämtliche Muskeln fühlten sich an, als habe sie stundenlange Schwerstarbeit hinter sich.

Neben ihr hockte Lucas auf einem kleinen Stuhl. Mitfühlend blickte er zum Bett, auf dem sie lag. Seine Augen funkelten im schummrigen Licht der Stehlampe, neben der sie Denis stehen sah.

Wie besorgt Lucas aussah. Dabei war auch er beinahe gestorben, als Jarout über ihn herfiel. Leicht erhöhte, knotige Streifen schimmerten hell an seinem Hals und auf der weißen Haut seiner Wangen. Narben? Seine Wunden waren schon geschlossen und verheilt.

Hastig tastete sie nach ihrem Hals. Ihre Finger fühlten sich seltsam taub an auf der Haut. Vermutlich sah ihr Hals ähnlich aus wie der von Lucas. Wie hatten sie das angestellt? Was war mit Jarout? Wo war er jetzt? Hatten sie ihn getötet? So viele Fragen. Wieder versuchte sie, sich aufzusetzen. Diesmal streckte Lucas ihr helfend beide Arme entgegen und stützte sie, sodass sie die Beine über den Bettrand schieben konnte. Er setzte sich neben sie und wartete so lange, bis sie Halt fand, ehe er sie wieder losließ.

Seine Hände waren ihr nicht unangenehm, stellte sie überrascht fest. Eigentlich sollte sie doch ... aber sie konnte nicht ... wütend sein.

«Wie fühlst du dich?», fragte Lucas und strich ihr mit einem unsicheren Lächeln eine Haarsträhne aus der Stirn.

Wie fühlte sie sich? Wenn sie das nur wüsste?

«Wa ...», krächzte sie und musste augenblicklich so heftig husten, dass sie beinahe den Halt verlor. Schnell hielt Lucas sie wieder fest und reichte ihr einen Becher, der neben ihm auf dem Boden stand.

«Schon gut, Kleines, warte, hier, trink einen Schluck», sagte er leise. Was sie trank, schmeckte merkwürdig, nicht identifizierbar. Ein Geschmack, der sie im Hals würgte, doch zu Trinken tat gut.

«In Ordnung, das genügt!», raunte Lucas und zog den Becher fort. Er musste lächeln. Genau wie damals, dachte er. Aber sie hatte schon reichlich getrunken und mehr brauchte sie nicht, um zu leben.

«Denis» Er hielt den Becher hoch. «Hier, bring bitte den Rest fort!»

Denis war sofort zu Stelle, um ihm das Gefäß abzunehmen. Er zögerte. «Geh ruhig», drängte Lucas, «Karen geht es gut. Außerdem möchte ich gern einen Moment mit ihr allein reden, ja?»

Denis nickte gehorsam und huschte zur Luke und die Treppe hinunter. Vermutlich blieb er gleich hinter der Tür stehen, um zu lauschen, aber das war in Ordnung. Lucas wusste, dass Denis nicht horchte, weil er neugierig war. Denis war vorsichtig - eine seiner besten Eigenschaften.

Karen. Beinahe schmerzlich war er sich ihrer Nähe bewusst. Sie atmete unter seinen Händen. Ihr Blut vermischt mit seinem, pulsierte wie ein goldener Strom, den er beinahe sehen konnte. Wie wunderschön sie war. Die puppengleiche Feinheit ihres Gesichts, die kleinen, schmalen Hände, mit denen sie sich auf den Bettrand stützte. Die tiefdunklen Augen, mit denen sie ihn ansah, als sähe sie viel mehr in ihm, als jemals irgendjemand zuvor. Ernst und suchend. Wie sehr er sich nach diesem Augenblick der Nähe mit ihr gesehnt hatte. All die Jahre. Bewusst. Unbewusst.

Warum all die Jahre? Warum nur musste erst soviel Zeit vergehen. Soviel unnötige, vergeudete Zeit. Ein Leben, das er mit ihr hätte teilen können. Und eben diese Fragen spürte er auch in ihr. Wenn er nur eine Antwort darauf wüsste.

Zaghaft legte er seine rechte Hand auf ihre Wange. Einen Moment lang fürchtete er, sie könne sich ihm entziehen, doch sie wich nicht zurück. Am liebsten wollte er sie an sich ziehen und halten, halten bis ... ach auf immer.

«Erkläre es mir, Vater», flüsterte sie und ihr dunkler Blick verschwamm unter zurückgehaltenen Tränen, wie hinter einem dünnen Schleier, «zeige es mir!»

Ja, sie wollte sehen, sie wollte begreifen. Wenn nicht durch Worte, dann auf die Art, die sie so gut verstand, wie nur er selbst.

Sie suchte ja, kam ihm entgegen. Ihr Geist griff mit aller Macht nach dem seinen. Die Kraft, die in ihr lag, erschreckte und faszinierte ihn zugleich. Beinahe, und ohne sein Zutun durchbrach sie die Grenze, und einmal überschritten, ließ er sie ungehindert passieren.

Ja, mein Liebes, ja, komm und sieh selber, erblicke alles. Verstehe mich. Nimm von mir, was du sehen willst. Aimee mit ihren Dunkelteichaugen, Melacars Purpurhimmel und die grünen Täler, die Leuchtende Stadt T´ael. Fühle, wie ich lief, flog, spüre, was es heißt, ein Hirudo zu sein. Nimm meine Entscheidung, dich nicht zu holen. Fühle meinen Schmerz, den ich nicht vergeben kann. Nimm alles. Begreife, und mehr noch ...

«Nein!», gellte sie und stieß ihn mit aller Kraft von sich. «Hör auf!»

Das war zu viel, zu stark. Sie erstickte unter der Flut, die er über sie hereinbrechen ließ. Sein ungehaltener Schmerz und seine Sehnsucht brachen ihr das Herz. Sie stürzte, fiel. Keuchend und am ganzen Leib bebend lag sie am Boden. Sie spürte das Streicheln seiner Hände auf ihrem Haar. Eine sanfte Berührung, mit der er versuchte, sie zu beruhigen und zugleich um Verzeihung zu bitten.

Hilfe suchend, wie eine Ertrinkende streckte sie beide Arme nach ihm aus und klammerte sich an ihn.

«Hör auf!», schluchzte sie hemmungslos. «Hör bitte auf!»

«Vergib mir, Karen! Vergib mir!», keuchte er, das Gesicht in ihrem Haar vergraben. Er hielt sie so fest umschlungen, dass sie kaum atmen konnte. Das war egal. Sie wollte nicht mehr atmen, nicht mehr denken. Sie wollte sich nur noch ganz dem Schutz seines Haltes ergeben, ohne den sie ihr ganzes Leben gewesen war. Sie wollte ihren eigenen Duft in seinem finden, ihre Haut in seiner, die Kraft ihrer eigenen Gedanken in seinen. Dieser Teil von ihr, der immer fehlte - jetzt endlich wurde er ganz und heil.

Irgendwo tief in ihr, dort, wohin außer ihr nur Lucas mit seinen besonderen Augen sehen konnte, fügte sich etwas zusammen und wurde eins.

Jener Teil in ihr, der nie einen Spiegel sah, erkannte sich nun. In ihm.

Doch das hier war kein Friede, kein Ende allen Zorns, keine heilige Vergebung. Was sie teilten, war Verstehen und der Wille, einander zu begegnen. Dieses Mal nur ohne den Schild seiner Lügen und ohne ihren Groll gegen ihn, der ihr bislang eine so gute Waffe gegen den Schmerz war.

Wie Krieger mit gestreckten Waffen saßen sie sich gegenüber auf dem Boden von Denis Turmzimmer und sahen einander einfach nur an.

Solange, bis Lucas sich erhob und zu dem kleinen runden Tisch neben der Lampe ging.

Die Zeit war gekommen, Karen wissen zu lassen, wie sehr ihm, trotz seiner scheinbar so kaltherzigen Ignoranz, an ihr lag.

Die schwarz gebundene Mappe auf dem Tisch sah so offiziell und abweisend aus, dass sie sein Geheimnis jahrelang sicher behütete. Niemand war auf den Gedanken verfallen, dass darin lag, worüber er manchmal nächtelang brütete. Jedes Mal, wenn er diesen schwarzen Ordner aufschlug und hineinsah, zwang ihn dessen Inhalt der Wahrheit ins Gesicht zu sehen. Ein Gesicht, das er nun berühren und ansehen konnte, und das so sanft und zornig und Angst einflößend sein konnte. Und das er so sehr liebte. In der Mappe waren hunderte Fotografien und steril klingende Berichte über seine Tochter abgeheftet. Bilder und Worte, die andere für ihn zusammentrugen und in denen er beides, Trost und Schmerz fand. Dokumentierte Jahre, die ihm doch nur eine Ahnung von dem was sein könnte, vermittelten.

Wie schwer dieses schwarze Ungetüm war. Wie sein Herz? Nein, die Schuld seines Herzens wog tausendmal schwerer. Und die Furcht vor Karens möglicher Reaktion darauf, dass er sich seines Fehlers wohl bewusst gewesen war und dennoch nichts änderte, ließen es noch viel schwerer werden.

Und selbst jetzt fragte er sich noch, ob er sie davon wissen lassen sollte. Vorhin schien ihm, das noch eine so gute Idee zu sein, und jetzt? Doch er musste ehrlich sein. Wollte er die Halbwahrheiten und Lügen beenden, dann alle und nicht nur jene, die ihm erträglich schienen.

Langsam ging er zurück, setzte sich neben Karen und legte den Ordner vor ihr auf den Boden.

Sie sah ihn an. Er lächelte. Unsicher, aber auch voll Zuversicht. Ebenso erschien ihr das neue Gefühl zu sein, das sie mit ihrem Vater verband. Zerbrechlich, und zugleich wie ein festes Band, das stark genug war, um ihm überall hin zu folgen. Verwundert sah sie den dicken Ordner an, den er nun wieder aufnahm und wie um sein Gewicht zu prüfen, in den Händen wog.

Was wollte er ihr geben? Oder besser noch, welche Informationen konnte dieses Ding enthalten, die sie nicht schon längst aus Lucas selbst erfuhr? Sie wusste alles, was sie wissen musste. Sie wusste, dass er sie liebte und das von ganzem Herzen und auch, dass er aufrichtig versuchen wollte, alles Versäumte an ihr gutzumachen. Mehr wollte sie nicht. Seine Liebe und nur die.

«Sieh dir das hier bitte an!», sagte er leise und streifte die Gummibänder, die die Mappe zusammenhielten, herunter und legte sie aufgeklappt in ihren Schoß.

 «Was ist das?», fragte sie schnupfend. Mit dem Pulloverärmel wischte sie sich über das Gesicht und tupfte die schon halb getrockneten Tränen aus den Augen. Angewidert sah sie die dunklen Blutflecken auf dem hellen Stoff des Pullovers. Rund um ihren Hals war auch alles voll. Hastig riss sie sich den schmutzigen Fetzen vom Leib und schleuderte ihn weit von sich.

«Wenn du willst, hole ich dir was zum Anziehen?», fragte Lucas, als sie am schwarzen T-Shirt zupfte, das sie unter dem Pullover trug.

«Ist schon gut, ich hab ja noch was drunter. Das reicht erst mal», erwiderte sie und schlug eilig die Mappe auf.

Während des Kampfes war nur wenig von Jarouts, Lucas und ihrem Blut durch den Pulloverstoff gesickert. Damit konnte sie leben.

«Ich, ehm, dieses, wie soll ich es nur erklären? Darin ist alles, was ich dir zu sein wagte. Alles, was ich für Dich tun konnte, war aus der Entfernung auf dich aufzupassen. Gegen den Willen der Familie, gegen meine Feigheit ... alles.» Wie hilflos er klang. Was war das, was sie sich ansehen sollte und das ihn so ohnmächtig und ausgeliefert fühlen ließ? Ungeduldig blätterte sie die ersten Seiten um, auf denen eine Art Inhaltsverzeichnis mit Zahlen und Daten aufgeführt war. Lucas beobachtete sie mit ängstlichem Blick. Sie blätterte weiter.

Fassungslos hielt sie den Atem an. Da waren ja Fotos von ihr. Sorgfältig, in Schutzhüllen abgeheftete Aufnahmen von ihr. Sie sah sich selbst als Kind, kaum älter als drei Jahre, im Garten hinter dem Haus ihrer Mutter. Ähnliche Bilder waren zu Hause in den Alben, zu Dutzenden lagen sie auf dem Dachboden. Karen in niedlichen Kleidchen mit Lutscher und putzigen Zöpfen, später in Schuluniform auf dem Weg zur Schule. Im Teenagerschlabberlook mit dreizehn, Hand in Hand mit Fred McClure, kichernd mit Melissa und Sally. Karen allein, Karen mit Aimee, Karen mit Peter und auf etlichen alle drei zusammen. Hunderte Fotografien, die chronologisch jeden Abschnitt ihres Lebens dokumentierten. Das Einzige, was die Bilder in Lucas Mappe von den Dachbodenbildern unterschied war, dass sie heimlich aufgenommen waren. Auf beinahe jedem war eine Hausecke, ein Stück Zaun, Blätter oder ein Autodach zu sehen. Verstecke, in denen der Fotograf in Deckung gegangen war.

Sie schüttelte ungläubig den Kopf. Das konnte doch nicht wahr sein? Vor jeder Schutzhülle war eine Seite mit einem Bericht. 14. April 1987 stand als Datum auf der Seite, die gerade aufgeschlagen vor ihr lag. Das war ja gerade mal zehn Tage nach ihrem Geburtstag. Sie war neun Jahre alt geworden - unglaublich. Stirnrunzelnd blätterte sie weiter.

Das Journal endete ... im letzten Jahr und mit einem Bild von ihr auf dem Friedhof von Dorkin, wo Aimee beerdigt lag.

Minutenlang starrte sie dieses Bild an. Lucas hatte sie also die ganze Zeit über, von ihrer Geburt an, beobachtet, oder beobachten lassen. Was war mit ihrer Suche nach ihm - hatte er auch davon gewusst? Und seinen Sohn ... oh mein Gott, Karen hör auf mit dem Scheiß, dachte sie und sah ihn an. Wie paranoid wollte sie noch werden. Nein, sein Blick war ehrlich und versuchte, nichts zu verbergen. Er zeigte ihr diese Fotografien und die Berichte, um ihr klar zu machen, dass er ...

«Ich war immer in deiner Nähe, Karen. Ich weiß, nicht auf die Art, wie du mich gebraucht hättest, aber auf die einzige Art, auf die ich es sein konnte», sagte er leise. Seine Stimme klang rau und gepresst, als kämpfe er gegen aufsteigende Tränen.

«Keine Angst, das sind nur Fotos. Ich habe sie immer angewiesen, kein Gespräch oder Sonstiges zu belauschen. Nur Aufnahmen und welche Schule du besuchst, wie deine Freunde aussehen, ob du Reitunterricht nimmst oder Geige spielen lernst.» Lucas lächelte schräg, als wolle er sagen: Du weißt schon. Der ganze Kram. Was Väter eben so interessiert. «Das war, was ich wissen wollte. Ich wollte wissen, ob du es gut hast und in Sicherheit bist. Nur zweimal wagte ich mich selber in deine Nähe. Ich fürchtete, du könntest mich spüren, und so war es ja auch.»

«Sicher. Ich hatte es sehr gut, und in Sicherheit war ich auch immer», unterbrach sie ihn. Karen konnte nicht verhindern, dass ihre Worte einen etwas bitteren Beiklang bekamen. Aber was sagte er gerade. Er fürchtete, sie könne ihn spüren, und so war es auch? Wann? Wo? Sie erinnerte sich nicht.

«Das weiß ich, Karen, das weiß ich doch. Aimee und Peter haben sich so gut um dich gekümmert. Du, ihr habt immer so glücklich ausgesehen.» Er seufzte. War das der Grund, aus dem er sie nicht wie Jarout zu sich holte? Wollte er etwa die glückliche Familie nicht trennen?

Vorsichtig legte Karen die Mappe beiseite und rutschte näher an Lucas heran. Unsicher streckte sie ihre Hand aus. Sie wollte ihn so gern berühren. Durch sein leuchtendes Haar streichen, seine Weichheit spüren und den Glanz um ihre Finger spielen sehen. Sie wollte die kalte Haut seines Gesichts fühlen, in dem sie jede Minute ein weiteres Stück ihres eigenen Gesichts entdeckte.

Doch sie wagte nicht, ihn anzufassen. Ihre Angst, von dem, was hinter seiner glatten Stirn nur darauf wartete von ihr angesehen zu werden, wieder so heftig überwältigt zu werden wie vorhin, war zu groß.

Lucas griff nach ihrer Hand und nickte mit ernstem Blick. Nervös nagte sie an ihrer Unterlippe. Konnte sie, durfte sie ... All ihren Mut zusammennehmend hob sie ihre rechte Hand ganz langsam an seine Wange. Wie jung er aussah. Nicht die kleinste Falte in der makellos weißen Haut. Lediglich um die Augen und in den Mundwinkeln erschienen Lachfältchen, als er sie jetzt mit strahlendem Blick, in dem soviel Zuneigung lag, dass sie ganz hingerissen von seiner Schönheit war, anlächelte.

Wie Stein so kalt war er. Doch darunter? Karen legte beide Hände fest an seine Wangen und tauchte ihren Blick in seine eisblauen, beinahe weißen Augen.

«Was wird jetzt sein, Vater? Sag es mir. Was wird jetzt sein?»

Und wie ein prächtiger Teppich breitete sich in unendlich sanfter Fülle all das vor ihren Augen aus, was er nicht in Worte zu fassen vermochte. Die Liebe, die er in sich trug und die solange darauf warten musste, sich ihr zu zeigen, floss in stetem Strom. Wie ein Gesang trug er sie beide mit sich fort. Ohne zu verschlingen oder zu fordern.

«Wird es immer so sein?», hauchte Karen und schmiegte sich in den Schutz seiner kalten Arme.