~ 2. Kapitel ~
In dem man wahrhaft königlich speist
Dorian Prior erwachte beim vierten Schlag der Kaminuhr. Ein weiterer folgte. Die Sonne war bereits hinter dem Horizont verschwunden. Er musste sich beeilen aufzustehen, ehe Serena erwachte. Während des Tagschlafs sah er, wie hungrig sie war. Schon rechnete er damit, dass sie jeden Moment vor seiner Tür stand und ungeduldig nach ihm rief. Sie sich im Schlaf vom Leib zu halten und auch dort Arweths Gestalt zu bewahren, war schwer genug. Wenigstens im Wachen wollte er die Oberhand behalten.
Hastig schlug er die warme Bettdecke zurück und setzte sich auf. Er vermisste seinen alten Schlafplatz, von dem er nur das Bettzeug und einige kleinere Gegenstände Tage zuvor hierher gebracht hatte. Während er sein schwarzes Hemd zuknöpfte, ging er zu einem der Fenster, um nachzusehen, ob der Lichtschutz keine Lücke aufwies. Die Scheiben waren, wie bei den übrigen Fenstern im Haus, mit dicken Brettern und Dachpappe vernagelt.
Diese Maßnahme war keinesfalls übertrieben. Ein kleiner Sonnenstrahl und schon landete er unversehens in Melacar, was lediglich zu Scherereien führen würde. Da nur wenige Tore zurück in die Welt der Sterblichen führten und keines davon in diesem Land lag, konnte er nicht so einfach zurückkehren.
Zufrieden wandte er sich von den Fenstern ab. Die Männer, denen er den Auftrag erteilt hatte, das Haus auf diese Weise zu verbarrikadieren, waren misstrauisch. Doch großzügige Bezahlung beruhigte ihre verwirrten Geister. Sie hatten gute Arbeit geleistet. Gegen das Gerede im Dorf konnte Dorian Prior nur wenig unternehmen. Aber wenn die Leute sich letztlich doch entscheiden sollten, ihre Schnüffelnasen in seine Angelegenheit zu stecken, wäre er schon lange wieder abgereist.
Er wandte sich zur Tür. Im Augenwinkel sah er einen kleinen Schatten über den Dielenboden huschen. Trippelnde Schritte, kratzende Krallen. Mit einem Griff, der zu schnell für das menschliche Auge war, packte er zu. Seine stahlharten Finger wurden zu Klauen, die sich erbarmungslos in pelzbedecktes Fleisch gruben.
Glaszarte Knochen brachen, ein hohes Fiepen schrillte kurz und grell in die Stille des Raumes. Dorian Prior seufzte leise, als ihm salziges Blut aus dem aufgebrochenen Tierleib die Kehle hinab rann. Gleichgültig schleuderte er den zur Gänze leer gesogenen Rattenkadaver in die hintere Zimmerecke und leckte sich die Reste des warmen Blutes von den Fingern.
Widerliches Vieh, dachte er. Und wie ähnlich Ratten den Menschen waren, wusste er nicht erst seit heute.
Mit einem leichten Flackern seiner Lider entflammte er die kleine Petroleumlampe neben der Tür. Einmal mehr freute er sich darüber, wie gut er mit seinen Talenten umgehen konnte. Arweth war bestimmt nicht besser darin als er. Schließlich war ihr Lehrer auch derselbe. Maratos war gewiss kein geduldiger Mentor, aber ein sehr eindringlicher. Außerdem wusste er, wofür er seine Zeit opferte. Und das Resultat war die Mühe wert. In Dorian Prior hatte er seinen gelehrigsten Schüler gefunden.
Maratos, Herr von T’ael, Schöpfer Melacars, der Erste unter den Dämonen hatte sich seiner angenommen, als er in das Reich der Verdammten hinabgefallen war. Und mit List und wohlüberlegten Schmeicheleien machte sich Dorian Prior diese Gunst nutzbar.
Zu gegebener Zeit wollte er auch Maratos in den heiligen Flammen brennen sehen. Oh ja, als Agent des Herren unter den Teuflischen zu verweilen, war riskant. Mehr als ein Mal war Maratos nahe daran gewesen, Priors Spiel zu durchschauen. Doch mit Gottes Kraft an seiner Seite konnte Dorian Prior den Dämon von seiner Ergebenheit überzeugen. Oh ja, er spürte die erhabene Macht des Herrn in sich. Solange er mit ihm war, konnte ihm nichts geschehen. Mit einem Mal konnte er es kaum mehr erwarten aufzubrechen, um eine arme sterbliche Seele zu erlösen.
Auch heute Nacht käme er als Erlöser der Menschen in die Welt. Er brannte darauf, Serena sein Wirken zu offenbaren und sie damit gänzlich auf seine Seite zu bringen. Jetzt stand er vor ihrer Zimmertür und fragte sich, ob er anklopfen oder einfach eintreten sollte. Derartige Feinheiten gehörten zu den Dingen, die er während der Beobachtung von Arweth und Serena nicht herausgefunden hatte. Er beschloss, sich auf seinen Instinkt und das gesammelte Wissen zu verlassen. Der Arweth, den er zu kennen glaubte, würde an die Tür pochen und ohne eine Antwort abzuwarten eintreten. Genau das tat Dorian Prior und fand Serena bereits angezogen auf dem Bett sitzend. Aus hellwachen Augen blickte sie ihm entgegen.
»Ich habe auf dich gewartet. Du hast dir Zeit gelassen.«
Sie lächelte verführerisch, stand auf und kam zu ihm. Mit einer Umarmung und ihrer Hand an seinem Geschlecht, das sofort gegen seinen Willen auf diese zarte Berührung reagierte, verzieh sie ihm seine Verspätung.
Ihr überraschtes Gesicht verwirrte ihn. Was war jetzt schon wieder? Was war ihm entgangen? Sie schliefen doch miteinander oder etwa nicht? War seine unbeabsichtigte Reaktion falsch? Langsam, und ohne den Blick von seinem Gesicht abzuwenden, sank sie auf die Knie. Warum hört sie nicht einfach damit auf? Oh Herr, warum nur? Er wollte diese Hure nicht beschlafen. Jetzt nicht und nie, aber sie taten es doch, oder? Sie durfte nicht misstrauisch werden.
Er keuchte den angehaltenen Atem in einem gepressten Stoß heraus, als sie jetzt mit ihrer Hand in den geöffneten Reißverschluss seiner Hose fuhr und seinen angeschwollenen Penis hervorzog.
»Komm, du weißt, wie ich es mag«, flüsterte sie und zog ihn zum Bett. Schnell raffte sie ihr Kleid bis auf die Hüfte. Dann beugte sie sich vor. Er musste tun, was zu tun war. Er musste der Situation gehorchen. Was blieb ihm anderes übrig? Oh, Herr, du weißt, dass ich keine andere Wahl habe.
Ihre Hand half ihm einzudringen, mit bebender Stimme keuchte sie: »So ... lange ... schon ... nicht ... mehr. Oh, Arweth ich will ... härter!«
Mit jedem Stoß wurde ihre Stimme lauter. Ihr Hintern bockte hart gegen seine Hüften. Rücksichtslos entzog sie sich ihm. Wütend wollte er sie zurückziehen. Doch da hatte sie sich bereits auf den Rücken gedreht und zerrte ihn wieder in sich hinein. Sie küsste sein Gesicht immer wieder, bohrte ihre spitze Zunge in seinen Mund und riss mit ihren messerscharfen Fängen seine und ihre eigenen Lippen auf. Als er ihr Blut schmeckte, kam er. Heiß und in heftigen Stößen verströmte sein Samen in ihr.
Bilder durchbrachen seinen Geist. Er erinnerte sich an seine Frau, die er niemals auf diese Art berührt hatte. Er sah die unzähligen Frauenleiber vor sich. Mit Seilen ließ er sie von Querbalken hängen. Er gedachte ihrer flachen, hängenden, dicken, vollen, jungen und runzeligen Brüste. Sah ihre Bäuche, ihre gefolterten Schenkel, die Jungen und die Alten. Fackelschein, Feuersglut, Schreie. Aufgebockte, gestreckte Leiber, mit den wie Blumen geöffneten Lippen oben und unten. Er sah die gebeugten, stoßenden Männerleiber seiner Helfer. Nie wagte er, diese Frauen anzurühren. Sie waren besudelt. Ihre Seelen und Leiber waren unrein. Ekelhaft und verabscheuungswürdig.
»Um Gottes willen, Arweth!« Ihr Schrei weckte ihn aus seinen Visionen. »Hör auf damit! Nicht!« Sie klang entsetzt und ihre Hände krallten schmerzhaft an seinen Haaren. Im nächsten Moment versetzte sie ihm einen kräftigen Tritt gegen die Brust.
»Bist du wahnsinnig?« Sie spreizte die Beine und offenbarte tiefe Bisswunden. Grellrot floss das Blut über ihr weißes Fleisch und sickerte dickflüssig auf das Laken.
»Vermutlich«, erwiderte er kalt, hob ihr Kleid auf und warf es auf Bett.
Seine Hochstimmung war verflogen. Jetzt widerte sie ihn an. Er selbst widerte sich an. Wie konnte er sich nur zu so etwas hinreißen lassen? Selbst wenn diese Sauerei seinem Ziel diente, wollte er sie niemals wieder anrühren.
»Zieh dich an und komm! Ich hab’ Besseres zu tun, als dich zu besteigen.«
Seine Worte trieben Serena heiße Tränen in die Augen. Ihr Gesicht verzerrte sich als habe er ihr ein Messer in den wunden Leib getrieben.
Gut, dachte er grimmig. Jetzt wird sie einsehen, dass ihre Hexenkünste an mir vergebens sind. Und jetzt wusste er, wie er sie sich gänzlich zu eigen machen konnte. Er machte kehrt, ging zu ihr zurück und packte sie hart an den Gelenken der zur Abwehr erhobenen Hände. Sein ernster Blick zwang sie, ihm in die Augen zu sehen. Der Kuss, den er ihr mit gebleckten Fängen auf die kalten Lippen presste, war hart und fordernd. Hilflos erwiderte sie seinen Kuss. Sie gehörte ihm, würde ihm diese und jede andere Rücksichtslosigkeit verzeihen.
Gierig sog Dorian Prior die eisige Nachtluft ein, als sie einige Minuten später das Haus verließen und gemeinsam die Landstraße betraten. Die Nacht war erfüllt mit verlockenden Düften und nicht nur Serena war hungrig. Mit ihrem sicheren Gespür für die Jagd war sie jedoch die Erste, die einen einzelnen Menschen witterte. Eine Frau, die in ihrem kurzen Kleid frierend an einer schlecht beleuchteten Bushaltestelle stand. Ihrem Aufzug nach zu urteilen, wartete sie nicht auf den Bus.
Serena wollte schon auf sie losgehen, doch Dorian hielt sie zurück. »Es werden mehr kommen. Warte noch«, flüsterte er. Sie antwortete mit einem protestierenden Grollen, gehorchte jedoch, als er sie in den Schatten eines Baumes zog.
Minuten vergingen. Auch er wurde ungeduldig, doch er war sicher, dass sie nicht vergebens warteten.
Und tatsächlich tauchte hinter der Kurve ein Auto auf. Der Fahrer bremste ab und hielt vor dem hölzernen Unterstand. In der Stille hörten sie die laut klackenden Schritte hochhackiger Schuhe, als das Mädchen zu dem Wagen ging. Mit ihrer Stimme wehte würziges Aroma herüber. Der Duft der kleinen Hure und derer, die im Auto saßen. Drei männliche Sterbliche. Jung, erhitzt, bereit geerntet zu werden. Serena drängelte wieder und jetzt ließ er sie laufen. Die Männer für sie, das Mädchen für ihn. Schnell war das Schicksal der Menschen besiegelt. Serena war eine geübte und vor allem sehr hungrige Jägerin. Zwei von ihnen leerte sie innerhalb eines Herzschlags, ohne einen Tropfen zu vergeuden.
Während sie hinter dem flüchtenden Dritten hersetzte, widmete sich Dorian Prior dem Mädchen, das ohnmächtig in seinen Armen lag. Beinahe liebevoll betrachtete er ihr bunt bemaltes Gesicht. Die geschlossenen Lider waren mit einem dicken Film blauer Tusche verschmiert, die Lippen glänzten fettig rot. Ihr strohiges, blondes Haar stank nach Bleiche. Sie war noch so jung, stellte er verwundert fest. Und ihr Blut schmeckte nach dem ungeborenen Leben ihres Kindes.
Ich entbinde dich davon, zu sündigen. Sei frei davon, zu lügen. Sein in Gedanken gesprochener Segen drang bis hinab in ihre tief gesunkene Seele. Immer tiefer grub er seine scharfen Zähne in die ungeschützte Kehle. Ihr Blut floss heiß und überreich. Dorian Prior genoss den Geschmack der Sühne. Er befreite sie, er segnete sie. Ich entbinde sich davon, zu betrügen und deinen reinen Leib zu beschmutzen und mit ihm jeden, der dich berührt. Ich entbinde dich, geh, gehe hin in Frieden ...
Serena kam zurück. Ihre Wangen leuchteten rosig und sie war ein wenig außer Atem. »Komm, wir suchen noch eine für dich«, schlug sie vor und küsste ihn auf die Wange.
»Nein, ich habe alles, was ich brauche«, erwiderte er und legte den schlaffen Körper des Mädchens behutsam auf das gefrorene Gras. Sorgfältig bedeckte er sie mit ihrem Mantel. Sie zu begraben, überließ er anderen. Ein Priester, um sie zu segnen. Ihre Familie, um für sie zu beten und an ihrem Grab zu weinen.
Mit brennendem Blick sah er zu Serena auf. »Lass uns zurück ins Haus gehen! Ich möchte mich noch mit dir unterhalten, ehe ich nach Köln fahre. Ich habe dort etwas zu erledigen. Und wenn ich zurück bin, werden wir dafür sorgen, dass die Verräter auf den Pfad der Tugend zurückkehren.«