12. Kapitel

 

Wie jeden Abend begann er auch diesen mit seinem »Ritual«. Schweigend und ungesehen streifte er stundenlang durch die dunklen Zimmer des Hauses, bedachte jedes sorgsam mit seinem Besuch und ließ nicht ein einziges aus - wie ein Vater das seidige Haar seiner Kinder streichelte, fuhr er hier und da sanft über einige Möbel, schimmerndes Holz, weiche Polster, und erfreute sich ihres friedlichen, immerwährenden Schlafes.

Seine Liebe galt ihrem Dasein. Ihr Anblick lehrte ihn die Schönheit der unsichtbaren Dinge. In jedem zuvor unbeachteten Detail bargen sich neue kleine Wunder, und wie freute es ihn, dass er der Erste war, der sie bemerkte.

Er war sich ziemlich sicher, dass noch niemandem vor ihm die filigranen Wimpern an den Augen der Statue an der Treppe auffielen. Er sah sie.

Zu erkennen, wie sich die feinen Mosaiksteinchen der vielen Kleinigkeiten zu einem perfekten Ganzen zusammenfügten, schien ihm wie eine Offenbarung.

Heute Nacht stimmt was nicht! dachte er. Das Haus verriet ihm, das irgendetwas anders war als sonst. Eine seltsame Spannung lag in den zahllosen Gängen und Zimmern, als lauschten die Wände selbst erwartungsvoll und mit angehaltenem Atem. Und tatsächlich! Kaum erreichte er den hinteren Teil der östlichen Promenadengalerie, hörte er eine fremde Stimme, die zusammen mit der seines Bruders im »Grünen Zimmer« flüsterte. Erst hörte er Jarouts Lachen, dass die Stille in den Fluren störte und dann die Stimme einer Frau. Eine Fremde.

Was will sie hier? fragte er sich. Und wie kam Jarout dazu, ihr zu erlauben, in Mamas Zimmer zu sein? Dass sein Bruder überhaupt wagte, jemanden von außerhalb hierher zu bringen, irritierte ihn. Keine Fremden, warnte Lucas immer. Und jetzt? Kaum, dass Lucas nicht zu Hause ist, tändelte Jarout mit einer Fremden in seinen Fluren herum. Ihre Stimme war jung und ungeduldig. Jarout schien aufgeregt, doch auf eine ungewohnte und selten freudige Art. Wenn er so guter Stimmung ist, vielleicht wird er mich dann einladen, heute Nacht mit ihm zu kommen? dachte er. Er mochte die Reisen durch die Spiegel so sehr - die feinen Farben, die man dort sah, so viele Geheimnisse, Gesichter und Stimmen.

Viele, viele Wochen schon war Jarout immer nur allein gegangen, und wenn er ihn dann und wann fragte, ob er nicht endlich in dieser Nacht wieder mitdürfe, dann wimmelte sein Bruder ihn nur mürrisch ab und meinte, er habe Wichtigeres zu tun, als ihn »Gassi« zu führen.

Solange Zeit nicht rauszukommen, war nicht weiter schlimm. Er konnte mittlerweile auch für mehrere Tage, ohne sich zu nähren, auskommen, genau wie Blanche, Lucas und Seamus.

Das Einzige, was ihn verstimmte, war, dass Jarout ihn wieder einmal spüren ließ, wie wenig ihm im Grunde an seiner Gesellschaft lag. Er war ihm nicht mehr als eine unwillkommene Last.

Warum nur behandelte Jarout ihn so? Ein kleiner Trost war, dass er mit anderen nicht viel besser umsprang. Jarout war zwar freundlicher zu ihnen, aber nur, um sie nicht zu verärgern und weil er sich vor ihnen fürchtete. Leiden konnte er sie aber dennoch nicht.

Umso erstaunlicher erschien ihm dann auch der ungewohnte Klang heute Abend in Jarouts Stimme. Zunächst konnte er nicht gleich benennen, was so besonders daran war, doch er lauschte weiter, und nach einer Weile kam er darauf - Jarout wollte gefallen. Nicht nur zum Schein, denn normalerweise, wenn er bei anderen etwas erreichen wollte, schlug er immer einen unschuldig schmeichelnden Ton an, der entfernt an das hinterhältige Säuseln eines Schlangenbeschwörers erinnerte. Nein, Jarout wollte dieser Frau ernsthaft gefallen.

Ob sie wohl eine von uns ist? Eine Hirudo? fragte er sich. Auf jeden Fall muss sie etwas Besonderes sein, wenn Jarout sie mitnimmt und so eindringlich umwirbt. Die Neugier siegte. Er musste sie unbedingt sehen.

Vorsichtig schlich er Schritt um Schritt durch den Gang näher heran und versteckte sich hinter der kleinen Kommode neben der Tür, um das Gesprochene deutlicher zu verstehen.

Doch mit einem Mal verstummten ihre Stimmen. Und als Nächstes sah er seinen Bruder aus dem Zimmer stürzen und eilig davonlaufen. Was war geschehen? Ein über alle Schwächen erhabener Jarout, der fluchtartig die Bühne verließ? Das kam ungefähr genauso häufig vor wie Schneefall mitten im August. Behutsam näherte er sich der halb offenen Tür und schob sein Gesicht am Rahmen vorbei.

Da saß sie. Auf dem Bett. Ihre Hände lagen reglos mit den Innenflächen nach oben in ihrem Schoß. Zwei offene Blüten, weiß und zart, mit feinen Gelenken und schlanken Gliedern, die aus dunkelroter Satinspitze wuchsen. Er kannte dieses Kleid. Er konnte sich noch sehr gut daran erinnern, wann seine Mutter es zuletzt trug. Das war an jenem letzten Abend gewesen, den sie in Paris ausgegangen war, bevor sie ihn mit sich in ihr Exil nahm, um den Unruhen, die in den Straßen über ihnen tobten, zu entfliehen.

Drei Wochen lang versteckten sie sich in den stinkenden, feuchten Katakomben nahe den Abwasserkanälen. Solange, bis Blanche die Wut packte, weil sie den Gestank und auch die anderen, die mit ihnen nach unten gegangen waren, nicht länger ertragen konnte.

Wild entschlossen, ihren sogenannten Freunden auf immer den Rücken zu kehren und niemals wieder nach Paris zurückzukommen, schleifte sie ihn mit sich auf ein Schiff. Ihr erklärtes Ziel war die »Neue Welt«. Amerika. Und dieses Zauberland war viele Monate weit von dem einzigen Ort entfernt, den er als sein zu Hause kannte. Eine erschreckende Zeit, die er niemals vergaß, egal wie lange das auch her sein mochte.

Und nun sah er das Mädchen in diesem Kleid dort sitzen, und es passte ihr noch nicht einmal. Aber diese Farben. Wie eine einzige, vollkommen in sich stimmige Komposition reinster verklärter Schönheit.

In den dunklen Smaragd und Jadefarben des Zimmers leuchtete ihr lohfarbenes Haar, die milchhelle Farbe ihrer Haut und der glänzende dunkelrote Stoff wie das flammende Rot einer einzelnen Mohnblume inmitten unscheinbarer Wiesenblumen.

Und als sie dann mit ihren weißen Händen dieses unbeschreibliche Haar zurückstrich und ihm ihr kleines Gesicht, mit den fein geschwungenen Wangenknochen, dem energischen Kinn und der geraden Nase, mit den zart gekerbten Nasenflügeln, zuwandte, und als ihre dunklen Augen sich in seinen Blick bohrten, war alles Weitere schon entschieden.

Er musste sie haben! Gerade so, wie sie jetzt dort saß. Mit diesem zornigen Blick, den zu Fäusten geballten Händen und dem Flammenhaar. Nur wenige Stunden. Nur solange, bis er brauchte, diesen Anblick zu malen. Sie auf immer in leuchtenden Farben auf eine Leinwand gebannt, genauso unvergleichlich, wie sie ihm in diesem Augenblick schien.

«Und wer bist Du?», fragte sie mit zornig funkelnden Augen. Schrecklich. Ganz deutlich lag ungeduldige Wut in ihren Worten. Doch nur Furcht und Verwirrung ließ sie so aufgebracht klingen. Damit versuchte sie zu verbergen, was sie wirklich bewegte. Er war wirklich gut darin, solche Feinheiten zu erkennen, und nur selten irrte er sich.

«Du brauchst keine Angst vor mir zu haben», versuchte er es, auch wenn er gleichzeitig wohl mehr Angst vor ihr hatte, als sie vor ihm.

«Ich habe keine Angst, verdammt!», fauchte sie und reckte trotzig ihr kleines Kinn vor. «Es steht mir nur bis hier», schimpfte sie und zog mit der Handkante einen Strich einige Zentimeter über ihrem Kopf in die Luft, «dass Jarout Vale mich ständig einfach so stehen lässt und mir dann irgendwelche neuen Verwandten über den Weg laufen.»

«Das tut mir leid. Ich glaube, er hat es nicht so gemeint. Ich meine, ich konnte hören, dass er dich wirklich gut leiden kann. Oh, nicht, dass du denkst, ich hätte gelauscht. Es war nur ...»

Er trat einige Schritte weiter ins Zimmer und merkte, dass sie sich anspannte, so als wolle sie sich auf eine schnelle Flucht vorbereiten.

«Bitte, lauf nicht weg! Mein Name ist Denis.» Er musste selber dem Drang widerstehen, die Flucht zu ergreifen, doch dieses Bild ... «Ich bin Jarouts Bruder, Denis», fügte er eilig hinzu.

«Ach?!», war alles, was sie darauf sagte.

Gott, er musste diesen Augenblick haben. Er konnte nicht einfach vergessen, und aus dem Gedächtnis würde ein Bild von ihr niemals so werden, wie es sein sollte. Verzweifelt überlegte er, wie er sie danach fragen sollte, mit ihm zu kommen. Oh, bist du ein Idiot Denis Rodin. Ein Idiot! dachte er.

«Was ist? Habe ich eine Warze auf der Nase oder wächst mir ein drittes Auge?»

«Hä?», machte er, doch dann begriff er. «N ... nein. Natürlich nicht.»

«Dann hör gefälligst auf, mich anzustarren!» Ihre Augen verengten sich misstrauisch. «Oder hast du etwa Hunger?»

«Gott bewahre, nein? Ich würde es nie wagen, dich ... niemals!» Er war zutiefst entsetzt, dass sie daran dachte, er könnte auch nur in Erwägung ziehen, sich ihr zu nähern, um ...

«In Ordnung. Es tut mir leid, wenn ich dich gekränkt habe. Ich bin nur wütend.»

«Wegen Jarout, nicht wahr?», fragte er vorsichtig.

«Vor allem wegen Jarout, aber auch ein bisschen meinetwegen.»

Ihr Blick wurde weicher. Sie lächelte jetzt sogar.

«Du bist also Denis.»

Das war keine Frage, sondern eine Feststellung. Jarout konnte sich bestimmt nicht verkneifen, ihr von seinem dummen Bruder zu erzählen, und dass er ihn dabei nicht im vorteilhaftesten Licht erscheinen ließ, konnte er sich denken.

«Wo ist er denn hin?»

«Jarout? Woher soll ich das denn wissen? Er ist weg, einfach so, genau wie heute Morgen.»

Denis wagte ein kleines Stück näher zu treten.

«Kommt er heute noch zurück?»

«Ich weiß nicht, aber gnade ihm Gott, wenn nicht ...», murmelte sie. Dann lachte sie, und er beobachtete verzückt, die ebenmäßig Reihe ihrer Zähne, die im gelben Kerzenlicht glitzerten. Sie war keine Hirudo. Er war erleichtert und schockiert zugleich.

Jetzt, frag sie jetzt! dachte er und nahm allen Mut zusammen.

«Ich habe eine Idee. Was hältst du davon, mir Model zu sitzen. Ich ... will dich ... ich würde dich gern ... malen ... äh, ja, malen. Das kann ich ... Ich ehm, male Menschen und Tiere und Wiesen und so.» Ach halte die Klappe, Denis! dachte er.

Ihr Lachen erstarb und sie sah ihn völlig entgeistert an. Einen schrecklichen Moment lang fürchtete er, sie könnte ihn ohrfeigen.

Doch dann legte sie ihren Kopf schief und sagte ganz ernst die beiden wohl wunderbarsten Worte, die er je hörte:

 «Warum nicht?»