~ 6. Kapitel ~

 

In dem Undenkbares möglich scheint

 

Ungeduldig rückte Karen näher ans Fenster. Durch die beschlagene Scheibe war nur wenig zu erkennen. Als sie die Kondensschicht mit dem Pulloverärmel abwischte, senkte sich sofort wieder Feuchtigkeit auf das kalte Glas. Die Luft in dem Taxi war unangenehm stickig. Die Polster stanken nach kaltem Rauch und säuerlicher Schweißgeruch stach in ihre Nase. Der Fahrer war ein dickbäuchiger Glatzkopf, der seine ausdünnende Haartracht vergeblich unter einer speckigen Mütze zu verstecken suchte. Er redete ununterbrochen und scherte sich keinen Deut darum, dass seine Gäste kaum ein Wort verstanden. Sein Reichtum an Schimpftiraden und Anekdoten über andere Autofahrer schien schier unerschöpflich. Um zu erkennen, dass er ein hoffnungsloser Nörgler war, brauchte sie sein wirres Kauderwelsch nicht einmal zu verstehen. Erst, als sie die Stadt hinter sich ließen und auf dunkler, einsamer Landstraße fuhren, versiegte auch sein Redeschwall.

Sie waren auf dem Weg zu jenem Ort, an den er die blonde Frau und den Albino gebracht hatte. Karen war erstaunt, wie deutlich er sich die Erinnerungen an die beiden bewahrt hatte. Als sie ihn auf dem Flughafen ansprachen und Karen Serena und ihren Begleiter in ihm sah, waren sie mehr als nur ein schemenhaftes Traumbild.

Dass Arweth dabei besonders deutlich erschien, verwunderte Karen nicht. Auf jeden Normalsterblichen wirkte der Albino wie ein Freak, eine Missgeburt. Entweder das, oder sie hielten ihn für einen Geist. Was sie nicht verstand war, wie Arweth mit Serena auf dem Flughafen hatte sein können. Er war doch in Genf, im Haus der Familie, bei Lucas. Hatte er sich heimlich fortgeschlichen? Hatte sie sich geirrt und etwas Falsches gesehen?

»Wir sind gleich da«, verkündete der Fahrer. Als keiner seiner Fahrgäste reagierte, versuchte er sich mutig in ihrer Landessprache. Dabei wies er auf ein gelbes Ortsschild, das sie gerade passierten. Calman nickte unsicher. Er verstand, was der Taxifahrer meinte oder glaubte es verstanden zu haben.

»Gut, dann halten Sie hier und erklären uns den Rest des Weges«, sagte er und versuchte, dem Mann seine Worte durch Handzeichen verständlich zu machen. Karen warf ihm einen entsetzen Blick zu. Wie sollte der Fahrer ihnen erklären, wie sie ihr Ziel erreichten? Er konnte ja nicht einmal einen guten Tag auf Englisch wünschen. Und Calmans Deutsch war gelinde gesagt auch nicht besser. Sollte sie ihm diese Information auf ihre Art entlocken? Doch als sie hielten, zauberte Calman einen Zettel hervor und deutete dem Fahrer, den Weg aufzumalen. Lachend schüttelte Karen den Kopf. So ging das natürlich auch.

»Nun denn«, meinte Calman und betrachtete stirnrunzelnd die Rückseite von Turners Zettel, auf der nun eine krakelige Landkarte entstanden war.

»Ich denke, das muss reichen.« Und an den Fahrer gewandt, sagte er freundlich: »Vielen Dank für Ihre Mühe. Hier!« Er hielt ihm drei Geldscheine entgegen. »Der Rest ist für Sie.«

Misstrauisch nahm der Mann die Dollarscheine entgegen. Ehe er protestieren konnte, wischte ihm Calman die nächtliche Fahrt mit ihnen aus der Erinnerung und schickte ihn auf den Rückweg.

»Mist, ich hab Hunger«, maulte Jarout und sah sehnsüchtig hinter dem davonfahrenden Taxi her.

»Ich auch, aber dafür haben wir jetzt keine Zeit«, antwortete Calman. Karen versuchte diesen schaurigen Dialog zu überhören.

»Kommt jetzt, ich frier‘ mir hier noch den Hintern ab.« Fröstelnd zog sie ihre Jacke zu, stapfte einige Schritte weiter und wartete dann, dass die beiden ihr folgten.

Etwa zehn Minuten lang liefen sie in die vom Fahrer beschriebene Richtung. Nach einer weitläufigen Kurve kamen die ersten Häuser in Sicht. »Hier links müssen wir rein. Am Ende der Straße soll es sein«, verkündete Calman. Ein scharfer Wind war aufgekommen, der die regenfeuchten Blätter raschelnd vor sich hertrieb. Auch die Wolken stoben unter seinen tilgenden Schwingen auseinander. Der beinahe volle Mond zeigte sein bleiches Gesicht. Wie ein Gaukler lugte er durch den Wolkenfetzenvorhang und beleuchtete den schlammigen Weg vor ihnen.

»Seht mal, dort hinten!«, rief Jarout und deutete nach rechts in die dichtstehenden Bäume am Straßenrand.

»Was denn?« Calman konnte nichts in den unsteten Schatten erkennen.

»Doch, ich seh’s auch.« Karen versuchte den schwachen Lichtschein zwischen den Bäumen zu fixieren.

»Sieht aus wie ein Feuer oder so was«, meinte ihr Bruder und huschte in Richtung Wald. »Nein, dafür ist es viel zu schwach. Und es flackert auch nicht«, widersprach Karen. Sie rannte hinter ihm her. Auf seine gute Nachtsicht vertrauend, folgte sie ihm von der Straße tiefer in das Gehölz.

»Hey, werdet ihr gefälligst warten!« Grimmig hastete Calman durch das dichte Unterholz, das sich mit dornigen Klauen gegen den Eindringling zur Wehr setzte. »Was zum Teufel ist denn in euch gefahren?«, schimpfte er.

Erst, als sie stehen blieben, holte er sie ein. Der Wald endete hier in einer Lichtung auf der zwei Gebäude standen. Das größere sah aus wie eine alte Kirche oder Dorfkapelle.

Der beinahe schwarze Stein und die schlichte Bauweise verliehen ihr etwas Mittelalterliches. Doch wo war der Lichtschein, dem sie gefolgt waren?

»Mach das bloß nicht noch mal«, flüsterte Calman und packte Jarouts Schulter. Doch der schüttelte seine Hand ab und wies auf das Wohngebäude. Auf den ersten Blick sah es aus wie ein altes, aber durchschnittliches Familienhaus. Ein Haus, um das sich scheinbar schon lange Zeit niemand mehr gekümmert hatte und das dem Verfall preisgegeben war. Die ehemals weißgekalkten Mauern waren fleckig von Moos und zerfressen vom Alter. Das Dach war an mehreren Stellen dringend reparaturbedürftig und der Giebel eingedrückt. Auffällig jedoch war, dass sämtliche Fenster mit dicken Brettern und reichlich Dachpappe vernagelt waren. Als bloßer Schutz vor Einbrechern schien eine derartig wehrhafte Sorgfalt übertrieben.

»Da hat wohl jemand echt Schiss vor ungebetenen Gästen«, meinte Jarout mit belustigtem Unterton.

»Oder vor Tageslicht«, entgegnete Calman, dem aufgefallen war, wie neu das Holz über der schwarzen Dachpappe aussah. »Das ist nicht das erste Haus mit derart sorgfältig abgedichteten Fenstern, das ich sehe.«

»Wenn du’s sagst.« Karen war sicher, dass ihr Freund einige Erfahrung mit derartigen Dingen aufweisen konnte. Allerdings konnte er sich ebenso gut irren. Dieses Haus stand schließlich weit außerhalb der Ortschaft. Dass die Eigentümer ihren unbewohnten Besitz sicherten, war nur verständlich. Doch dann entdeckte sie die dünnen, grauen Rauchsäulen, die sich aus dem Schornstein stahlen. Die schmalen Fäden stiegen nur wenige Zentimeter hoch, ehe der Wind sie ergriff und davon fegte.

»Sieh mal«, flüsterte sie und schubste Calman in die Seite. Mit der rechten Hand wies sie hinauf zu den unscheinbaren Schwaden, die sie alle auf den ersten Blick übersehen hatten. »Da scheint jemand zuhause zu sein.«

»Hm«, brummte Calman.

»Worauf warten wir noch?«, raunte Jarout. »Gehen wir nachsehen.«

»Auf gar keinen Fall. Erst werde ich Arweth informieren«, hielt Calman dagegen.

Jarout warf Calman einen zweifelnden Blick zu. Demonstrativ übertrieben drehte er den Kopf erst nach links, dann nach rechts. »Aber, oh mein Gott, die haben uns gar keine Telefonzelle hier zurückgelassen. Himmel, was machen wir denn nun?«

»Idiot«, murmelte Calman. »Lass deine dämlichen Scherze und gib mir dein Handy.«

Grinsend kam Jarout dieser Aufforderung nach und warf Calman das zigarettenschachtelgroße, schwarze Telefon zu, der es geschickt auffing. So kann’s gehen, dachte Jarout. Mitten im Wald in sturmdurchwehter Nacht ändert sogar ein Geizkragen mit Strahlenangst seine Meinung. Er konnte nie verstehen, warum Calman bakterienverseuchte Telefonzellen bevorzugte.

»Sie werden nie erlauben, dass wir dort einfach so reingehen«, seufzte Karen. Mit zusammengekniffenen Augen sah sie zu dem Haus hinüber. Jetzt war sie so weit gekommen, sollte sie da etwa zulassen, dass Lucas ihr den spannendsten Moment verbot? Sie überlegte, ob sie einfach loslaufen sollte. Doch gleich verwarf sie diesen Gedanken wieder. Calman hätte sie auf halber Strecke eingeholt. Nein, das musste sie geschickter anstellen.

Sie warf einen prüfenden Seitenblick auf ihre Begleiter. Calman lauschte mit versonnenem Blick am Telefon. Jarout scharrte ungeduldig mit den Füßen und blickte immer wieder von Calman zum Haus. Vielleicht klappt das ja doch, überlegte Karen und schlich einige Schritte nach rechts.

Dabei ließ sie Calman und ihren Bruder nicht aus den Augen. Hoffnungsvoll schielte sie zum Haus und maß die Entfernung. Wenn ich’s noch einige Meter weiter in diese Richtung schaffe, könnte ich ... Der Gedanke brach jäh ab und sie blieb wie angewurzelt stehen. Der Anblick einer Gestalt vor der Haustür ließ sie erstarren. Bleich und durchscheinend wie soeben erdachte Fantasie stand dort eine Frau in strahlend weißem Kleid. Der leichte Stoff reflektierte das Mondlicht, das gerade zwischen den dunklen Wolken aufleuchtete.

Im nächsten Augenblick war das Licht und mit ihm auch die Frau verschwunden. Die schwarzen Schatten schienen sie verschluckt zu haben. Doch gleich darauf tauchte sie wieder auf. Jetzt erkannte Karen beinahe erleichtert, dass sie keinesfalls ein Bewohner des Hauses war, der ihre Anwesenheit bemerkt hatte. Vielmehr war sie sicher, dass die Frau überhaupt nicht real im üblichen Sinne war. Der immer heftigere Wind berührte weder ihr Kleid noch ihre langen, dunklen Haare. Sie schien wie in einem Kokon zu wandeln. Oder wie in einer eigenen Welt, dachte Karen.

Karen tat einige unsichere Schritte aus dem dichten Wald hinaus auf die Wiese, die das Haus umgab. Sie wollte näher heran an dieses Bild, das sie zu rufen schien. Aber was wollte die Frau ihr mitteilen? Wollte sie, dass sie zu ihr kam? Oder war ihr Erscheinen eine Warnung, sich fernzuhalten? Kaum setzte Karen den ersten Schritt auf das offene Feld, zerrte der heftige Wind wie mit gierigen Klauen an ihr.

Brandiger Gestank lag in seinem eisigen Hauch. Ein Geruch wie nach verkohltem Holz. Oh, mein Gott, dachte Karen. Sie ist es. Die Frau, von Denis‘ Leinwand und dieselbe, die das Plasma auf der Zeitung hinterlassen hatte. Im selben Moment, wie zur Antwort auf Karens Erkenntnis, erhob sich eine riesige Feuerwand hinter der Frau. Geblendet riss Karen die Arme hoch, um sich vor der erwarteten Hitze zu schützen. Doch die Flammen loderten kalt und waren gleichermaßen ein Trugbild wie die Frau. Ebenso unerwartet, wie sie aufgetaucht waren, verschwanden die grellen Feuerzungen wieder. Diesmal war auch die Frau fort. Verwirrt suchte Karens Blick in der plötzlichen Dunkelheit nach ihr, doch sie blieb verschwunden. Statt dessen drängte sich ein anderes Bild in ihr Blickfeld. Sie sah einen Mann, der nackt mit unterschlagenen Beinen auf einem Holzfußboden kauerte. In der Hand hielt er ein glänzendes Amulett, das erst leicht silbrig schimmerte und schließlich grell weiß aufloderte. Mit angehaltenem Atem beobachtete Karen, wie sich die Gestalt des Mannes veränderte. Er schien zu wachsen. Seine Glieder wurden länger und kräftiger, das schwarze Haar wand sich wie ein Teppich aus Abertausenden Insekten auf seinem Kopf und färbte sich weiß. Es wurde länger und wuchs, bis es ihn wie ein Mantel aus schlohweißer Seide einhüllte. Er hob den Kopf und schien sie direkt anzustarren. Karen erkannte Arweth, den Ältesten, Calmans Bruder.

»Bist du denn von allen guten Geistern verlassen?« Unbemerkt hatte sich Calman ihr von hinten genähert und riss sie nun zornig am Arm herum. Bestürzt schnappte Karen nach Luft. Sie war viel zu erschrocken, um sich zu rechtfertigen.

»Was hast du da?« Calmans Hand griff nach etwas vor ihrer Brust. Mit einem Ruck streifte er das lederne Band über ihren Kopf. In der Hand hielt er eine runde, silberne Plakette. »Woher hast du das?«

Karen, die sich nur zusammenreimen konnte, dass dieser Gegenstand ein Geschenk der Frau an sie war und sich auf irgendeine Weise aus ihrer Erscheinung materialisiert hatte, sah ihn ausdruckslos an. »Ich hab’s im Gras liegen gesehen«, log sie. Sie wollte ihm nicht von dem erzählen, was sie gesehen hatte. Warum, konnte sie sich nicht erklären, doch eine innere Stimme riet ihr, diese Vision vorerst für sich zu behalten.

»Und da bist du losgelaufen, um es dir zu holen« schimpfte Calman. »Bist du denn noch ganz bei Trost? Was wäre, wenn dich jemand von dort drinnen gesehen hätte?« Er hielt die Silberplatte dichter vor sein Gesicht, um sie genauer anzusehen.

»Das ist doch unmöglich«, flüsterte er atemlos und wendete das Amulett.

»Was denn?«

»Komm erst mal wieder mit zurück!« Energisch zog er sie mit sich.

»Hast du Lucas erreicht? Was sagt er?«

Erst als sie den schützenden Wald erreichten, antwortete er. »Sie sind nicht zuhause«, murmelte er, während er immer noch den Silberanhänger musterte.

»Und kein Schwein weiß, wo sie hin sind. Ist das nicht großartig?«, motzte Jarout. »Hey, was hast du da?«

Er wollte Calman das Amulett aus der Hand schnappen, doch der hielt das Schmuckstück außer Reichweite, sodass Jarouts Finger ins Leere griffen und er einen Schritt nach vorn stolperte. Fluchend gewann er sein Gleichgewicht zurück und warf Calman einen wütenden Blick zu. Seine bernsteinfarbenen Augen glühten im Dunkeln wie die eines lauernden Wolfes.

»Das gehört Arweth. Maratos schenkte jedem seiner Kinder ein solches Amulett. Arweth verlor seines vor vielen hundert Jahren«, erklärte Calman.

»Aber wie kommt es hierher?«, fragte Karen, worauf Calman ihr einen hilflosen Blick zuwarf und fragend die Schultern hob. Sie schüttelte den Kopf. Was sie gesehen hatte, musste mit dem Amulett zu tun haben. Gehörte es wirklich Arweth? Die Geisterfrau, wie Karen ihre Erscheinung nannte, hatte es ihr gegeben. Ein weiterer Hinweis, eine Botschaft.

»Vielleicht hatte es Serena bei sich«, meinte Jarout. Als die anderen ihn fragend ansahen, fuhr er fort: »Na, kann doch sein. Ich meine, ihr kennt sie doch auch. Vielleicht hat sie das Ding Arweth gestohlen und heimlich selber getragen. Und dann hat sie’s hier verloren.« Er machte eine bedeutungsvolle Pause und ließ seinen Blick zum Haus wandern. »Oder sie hat es hier zurückgelassen, damit wir wissen, dass sie da drin ist oder hier war.«

»Ziemlich weit her geholt, aber eine bessere Erklärung fällt mir auch nicht ein«, murmelte Calman und steckte das Amulett in seine Manteltasche.

»Und, was machen wir jetzt?«, fragte Karen. »Wir können schließlich nicht die ganze Nacht hier bleiben. Erstens erfriere ich und zweitens bleiben uns nicht einmal mehr zwei Stunden bis Sonnenaufgang.«

»Wir wissen nicht, mit wie vielen wir es zu tun haben«, gab Calman zu bedenken. »Vielleicht versteckt sich eine ganze Gruppe in dem Haus. Mit zweien oder drei würden Jarout und ich fertig werden, gegen mehrere anzutreten, wäre ein zu großes Risiko.«

»Dann gehen wir in die Spiegel und sehen nach«, schlug Jarout vor.

Karen nickte widerstrebend. Dass dieser Vorschlag von ihm und nicht von ihr kam, ärgerte sie.

»Er hat recht. Wir können nicht einfach unverrichteter Dinge abziehen, Calman. Zumindest müssen wir nachsehen, ob Serena da drin ist und wenn ja, mit wem. Sind es mehrere Hirudo, können wir immer noch Hilfe holen.«

Calman war einverstanden. Er hoffte nur, dass die beiden sich auch tatsächlich an diese Abmachung hielten.

»Also gut, suchen wir nach einem geeigneten Einstieg«, meinte er und quittierte die verwirrten Blicke mit schiefem Lächeln. Offenbar hatten sie nicht damit gerechnet, ihn so leicht überzeugen zu können. »Na los, wo bleiben euer Abenteuergeist und frohgemute Zuversicht? Zur Not legen wir eines der Fenster frei.«

Gefolgt von Jarout und Karen huschte er aus dem schützenden Dickicht in Richtung Haus.