~ 7. Kapitel ~

 

In dem Maskeraden fallen

 

Lucas konnte sich nicht erinnern, jemals mit derart hoher Geschwindigkeit durch die Spiegel gereist zu sein. Er und Arweth hatten keine Stunde von Genf bis hierher gebraucht und jetzt fühlte er sich wie nach einer Fahrt in einer außer Kontrolle geratenen Achterbahn. Ihm war schwindelig und er musste sich an der Wand neben sich stützen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren.

Mit grimmig aufeinander gepressten Lippen riss Arweth die Tür des alten Hauses auf. Das morsche Holz krachte lautstark gegen die Hauswand, Splitter flogen.

»Wo bist du, du Bestie?«, donnerte der Älteste und stürmte wutentbrannt in den Hausflur. Eine Tür nach der anderen barst unter den brutalen Tritten seiner schwarzen Stiefel. In seiner Raserei war Arweth ein wahrlich Furcht einflößender Anblick. Halb bewundernd, halb besorgt hielt sich Lucas auf immer noch ein wenig wackligen Beinen in respektvollem Abstand. In der schummerigen Dunkelheit loderten Arweths Augen wie Dämonenfeuer. Die weißen Haare wirbelten einem Schneesturm gleich um seine riesenhafte, schwarz gekleidete Gestalt. Wie ein rasender Wintergott wütete er in einem alles verschlingenden Rausch. Arweth schien außer Kontrolle und Gnade dem, dem sein Zorn galt.

Lucas blieb nichts weiter übrig, als Arweth zu folgen und darauf achtzugeben, nicht über die Trümmer dieser Zerstörungswut zu stolpern.

»Komm raus! Du wolltest mich? Hier bin ich«, brüllte Arweth. Polternd rannte er die knarrende Holztreppe hinauf ins obere Stockwerk. Lucas hörte ihn schreien: ein Heulen wie ihn ein um die Beute betrogener Wolf ausstoßen mochte.

»Er war hier, der Bastard. Ich rieche ihn, ich rieche sie beide«, rief Arweth.

Wutschnaubend kam er aus einem der Zimmer gestürmt. Dass er Dorian Prior nicht wie erwartet antraf, steigerte seinen Zorn. Einen Zorn, den Lucas sehr gut nachempfinden konnte. Auf dem Weg durch die Spiegel hatte Arweth ihm berichtet, was damals vor vierhundert Jahren an diesem Ort geschehen war.

Und jetzt, hier wo seine Tochter Phoebe gestorben war, erwachte Arweths Schmerz und der Wunsch nach Rache zu neuem Leben. Arweth glaubte, ihren Mörder getötet zu haben. Nun wusste er, dass jener Mann namens Dorian von Salmbach, der als Prior bekannt war, lebte, er Malcolm getötet und Serena in seine Gewalt gebracht hatte. Längst erkaltete Wut flammte wieder in Arweth auf und brannte ihr siedendes Gift heiß in sein Herz.

»Wir warten«, keuchte er. »Wir warten hier auf ihn. Ja, der Morgen bricht bald an und er wird zurückkommen und dann sind wir hier. Verdammt soll ich sein, wenn dieser Bastard die kommende Nacht erlebt.« Blind vor Zorn raste Arweth vorbei an Lucas zur Treppe und weiter in den Hausflur. Er beugte sich vor, um die Haustür zu schließen, blickte hinaus in die sturmdurchwehte Nacht und erstarrte. Als Lucas sich neben ihn drängte und ebenfalls sah, was Arweth erblickte, glaubte er, ihm müsse das Herz stehen bleiben.

Karen, Jarout und Calman drängten sich gegen die grauschwarze Mauer auf der windgeschützten Seite der alten Kapelle, die nicht weit von dem Wohnhaus stand. Er wollte nach ihnen rufen, doch Arweth presste ihm eine Hand vor den Mund und deutete auf das kleine Fenster an der Stirnseite des Bethauses.

»Dort ist er drin«, zischte Arweth. »Komm, lass uns eine alte Rechnung begleichen.« Mit angezogenen Schultern huschte er hinaus in den Nachtwind. Lucas verharrte noch lange genug, um Calman und Jarout in dem hohen Seitenfenster der Kapelle verschwinden zu sehen. Karen versuchte aufgebracht, ihnen zu folgen. Immer wieder sprang sie zu dem Fenstersims hoch und versuchte Halt zu finden. Mit einem zornigen Tritt gegen die Steinmauer gab sie schließlich auf. Lucas beschloss, sie abzufangen, ehe sie um das Gebäude herum und durch das Portal laufen konnte. Einen leisen Fluch auf den Lippen rannte er los.

 

 

»Mein Bruder? Ja, der ist auch einer von ihnen«, sagte Dorian Prior und starrte mit zornig rot glühenden Augen in die Dunkelheit der Kapelle. Die Kerzen, bis auf eine, waren gelöscht, damit sie nicht abbrannten. Schließlich brauchte er sie morgen und nicht heute Nacht. »Oh, nein«, hörte er Serena neben sich hauchen. Dass sie ihn nach Arweths Bruder fragte, weckte seinen Erfindungsreichtum. Warum sie nicht noch ein wenig anstacheln, indem er behauptete, eine Verschwörung höchsten Grades sei im Gange?

»Er ist sogar einer der schlimmsten«, behauptete er, ein selbstzufriedenes Grinsen unterdrückend.

»Warum, was hat er getan?« Serenas Stimme klang müde und dennoch voll wutentbrannten Mitgefühls für das Leid ihres geliebten Vaters.

»Oh, Calman ist derjenige, der zusammen mit deinem kleinen Freund, Jarout, steten Kontakt zu Maratos hält. Calman, Lucas Sohn und Prior, der Lucas in meiner Gestalt täuscht, sind Maratos‘ Minister des Schreckens. Sicher planen sie, Lucas zu töten und die Familie zu übernehmen. Das wird ihnen die Macht über alle unserer Art geben. Und was sie dann anstellen, kannst du dir ja vorstellen. Sie werden mit Maratos‘ Hilfe jeden umbringen, der sich ihrem Plan in den Weg stellt.«

»Aber wenn sie Jarout nun belügen und nur benutzen, dann kann er doch gar nichts dafür ...«

»Unsinn!«, brauste Dorian Prior auf, dass seine Stimme donnernd von den steinernen Mauern widerhallte.

Erschrocken fuhr Serena aus seiner Umarmung. »Schsch«, machte Prior und legte ihr seine Hand auf die Wange. »Ist schon gut. Es regt mich nur so sehr auf.«

Aufgebracht erhob er sich von der Sitzbank und begann vor dem Altar auf und ab zu wandern.

»Sie alle sind schuldig und haben den Tod verdient. Vor allem Prior und seine Helfer. Dessen musst du dir immer bewusst sein. Schwankst du, wenn wir gegen sie antreten, sind wir verloren.«

»Ja, aber, Jarout ...«

»Oh, Serena, Serena, begreifst du denn nicht?« Leidenschaftlich ergriff er ihre Hand. »Wir müssen unser Volk retten und diese teuflische Brut vernichten. Ist ihnen erst einmal gelungen, die Macht vollends an sich zu reißen, werden sie die Alten töten und eine Herrschaft des Grauens in der Menschenwelt errichten. Aber vor allem wird Prior als Erstes dafür sorgen, dass wir, du und ich, hingerichtet werden.«

»Das, das ist so verwirrend«, jammerte Serena und fuhr sich mit den Händen an den Kopf. »Ich weiß schon gar nicht mehr, was ich glauben soll.«

 

Was sie glauben sollten, wusste Karen ebenso wenig. Zwar war die Sicht durch die Spiegelfläche des Fensters so verwaschen als schaue sie durch eine Milchglasscheibe, doch sah sie immer noch deutlich genug, dass sie die Personen im Halbdunkel des Kapelleninneren erkennen konnte. Nachdem sie in dem Haus nur Dunkelheit und leere Zimmer vorgefunden hatten, waren sie zu der kleinen Kapelle gegangen, um dort nachzusehen, ob jemand darin war. Und tatsächlich. Serena und Arweth saßen auf einer der Bänke und redeten miteinander. Die beiden zu beobachten und vor allem zu hören, was sie sagten, war, als lausche sie einem verrückten Traum.

Schockiert fragte sie sich, ob das wirklich möglich sein konnte. War der Arweth im Haus der Familie tatsächlich ein Fremder, der sich eingeschlichen hatte, um Lucas zu töten? Sie hatte in ihrer Vision gesehen, wie sich ein Mann in Arweth verwandelt, seine Gestalt angenommen hatte. Sah sie jetzt vor sich den echten Arweth, der Serena an diesen Ort entführt, um mit ihr gegen diese Verschwörung zu kämpfen? Aber warum hatte er dann Malcolm getötet? Gehörte der auch dazu?

Oh, Karen, so ein Blödsinn! schimpfte sie sich selbst. Ohne zu zögern traute sie Jarout den gemeinsten Verrat zu, aber zwischen Serena und Arweth war auch die Rede von Calman. Und Calman hätte die Familie niemals verraten. Ängstlich warf sie dem Ältesten einen Seitenblick zu und erkannte erleichtert die Verwirrung in seinem Gesicht. Würden Arweths Behauptungen stimmen, sähe Calman dann nicht vielmehr wütend aus, weil sein Vorhaben entlarvt war? Sie dachte an die Geisterfrau, die sie bis hierher geführt hatte. Was wollte sie ihr damit zu verstehen geben? Wer war sie und warum mischte sie sich so nachdrücklich ein?

Jetzt stupfte Calman Jarout mit der Hand in den Rücken und deutete ihm, sie aus dem Fenster zu bringen. Als sie wieder vor der Kapelle unter dem hohen Fenster standen, packte Jarout Karen bei den Schultern. Mit festem Blick sagte er: »Du glaubst diesem Arschloch doch nicht etwa, oder?«

Irritiert versuchte sie sich aus Jarouts Griff zu befreien. Er kannte ihre Meinung über ihn. Die Worte irgendeines echten oder falschen Arweth konnten die auch nicht mehr verschlechtern.

»Hey, ich habe nichts mit irgendeiner Verschwörung zu tun. Ich weiß rein gar nichts von so einem Scheiß«, beharrte Jarout.

»Schon gut, ich glaub’ ihm auch nicht«, rief Karen aus und löste sich mit einem heftigen Ruck von ihrem Bruder.

»Und das Calman was damit zu tun haben soll, ist ebenso ein Blödsinn«, rief sie aus. Karen erwartete, dass Calman etwas sagte, doch sein Blick ging ins Leere. Er starrte auf den grauschwarzen Mauerstein vor ihnen, als versuche er durch ihn hindurch zu sehen. Vorsichtig berührte sie seine Schulter und mit einem Beben, das seinen ganzen Körper durchfuhr, klärte sich seine Sicht.

»Das da drinnen ist nicht mein Bruder«, verkündete Calman mit rauer Stimme. Da verstand Karen, was Calman versuchte, als er so abwesend wirkte. Zu Arweth hätte er sofort gedanklichen Kontakt herstellen können. Offensichtlich war ihm das jedoch nicht gelungen. Dann stimmte auch Karens Vision von dem Mann, der sich in Arweth verwandelt hatte. Blieb die Frage, wer der Doppelgänger war und was er mit Serenas Entführung und Malcolms Tod bezweckte?

»Dann schwebt Serena in Lebensgefahr«, rief Jarout. »Wir müssen sie sofort da raus holen.« Er schickte sich an, auf den Fenstersims zu klettern.

»Nein, kommt nicht infrage.« Calman verstellte ihm den Weg.

»Was willst du? Auf Papa Lucas warten, damit er dir hoheitsvoll grünes Licht gibt. Willst du zusehen, wie der Irre Serena umbringt, wenn er keine Lust mehr hat, ihr Märchen zu erzählen?« Jarout war so laut geworden, dass Karen sicher war, dass er sie jetzt verraten hatte.

»Nicht so laut, verdammt!«, schimpfte sie und legte ihm kurz eine Hand auf den Mund. Zu Calman gewandt sagte sie: »Ich verstehe dich nicht. Wenn du sicher bist, dass der Mann nicht Arweth ist, dann müssen wir etwas unternehmen. Wir können doch nicht bis morgen Nacht warten.«

»Er ist nur einer und wir sind zu zweit. Und Karen ist auch nicht wehrlos. Mit dem werden wir leicht fertig«, flüsterte Jarout. Grimmig starrte er Calman an. Warum zögerte er? Sie waren gekommen, um Serena zu finden und ihr zu helfen. Fragen nach dem wie und warum konnten sie immer noch stellen, wenn alles vorbei und sie in Sicherheit war.

»Wir haben keine Zeit zu verlieren, Calman«, drängte Jarout.

Das stimmt, dachte Karen. Ihnen blieb nicht einmal mehr eine Stunde bis zum Sonnenaufgang. Wenn sie jetzt nicht handelten, dann nie. Dagegen musste sie etwas unternehmen. Sie war nicht nur hierher geführt worden, um Serena zu helfen. Höheres stand auf dem Spiel. Zwar verstand sie nicht, was das war, aber sie war sicher, dass es entscheidend sein musste, wenn sich der Geist der Fremden so sehr anstrengte. Ihr kam ein verrückter Gedanke und noch ehe er zu Ende gedacht war, setzte sie ihn auch schon in die Tat um. Sie musste handeln, wenn sie wollte, dass etwas geschah. All ihre Kraft zusammennehmend konzentrierte sie sich auf das Fenster über sich.

Karen blickte hinauf und sah die acht Rechtecke, in die die Scheibe aufgeteilt war, erzittern. Sie klirrten leise in ihren metallenen Rahmen, die sich immer mehr verbogen, als schmelzen sie unter steter Hitze. Erschrocken erkannte Karen die durchscheinende Gestalt der Frau, die ihr mit sanftem Lächeln und brennendem Zorn in den Augen erschien. Sie stand auf dem Fenstersims und ihr Anblick bestärkte Karen. Anstatt ihre Konzentration irritiert abzubrechen, hielt sie die Spannung und ließ das Glas mitsamt Rahmen nach innen explodieren. Das ohrenbetäubende Krachen berstenden Metalls und splitternden Glases riss sie aus ihrer Anspannung. Einen Augenblick lang war sie wie betäubt, doch nur einen Atemzug darauf hellwach, als Calman sie erschrocken zu Boden riss.

»Heilige Scheiße!«, hörte sie Jarout rufen und grinste. Verdammt, er konnte froh sein, dass sie nicht wirklich wütend war.

Aus dem Inneren der Kapelle vernahm sie Serenas erschrockenen Aufschrei und gleich darauf die laute Stimme eines Mannes, der ihr befahl, still zu sein und sich hinter ihm zu halten. Hastig befreite sich Karen aus Calmans Arm und rappelte sich auf. Mit einem Satz war Jarout auf dem Sims und durch das zersprungene Fenster verschwunden.

»Du bleibst hier!«, befahl Calman und sprang Jarout nach.

»Den Teufel werd’ ich«, schrie Karen und versuchte ebenfalls auf den Sims zu gelangen. Aus der Kapelle drangen wutentbrannte Schreie. Krachend polterten Holzbänke zu Boden von metallenem Klirren gefolgt.

Fluchend gab Karen ihr aussichtsloses Unterfangen auf und rannte zum Portal, dessen Flügeltüren weit offen standen und wild im Wind schwangen. Karen stieß einen gellenden Schrei aus, als sie von hinten gepackt und fest gehalten wurde. Zwei Arme schlangen sich um sie und hoben sie hoch. Hysterisch trat sie mit beiden Beinen nach dem unsichtbaren Angreifer und versuchte die Hand in ihrem Blickfeld mit den Zähnen zu packen.

»Karen, Karen! Ich bin’s, Lucas.«

»Lucas?«

»Ja.«

Ihre Gegenwehr erstarb, als sie die Stimme ihres Vaters erkannte. Gegen den Lärm des Sturmes und der schlagenden Türflügel hörte sie Kampflaute aus der Kapelle dringen. Die Hölle schien ihr Inferno in Gestalt wilder Bestien auf diesen Ort auszuschütten. Immer noch in Lucas Armen gefangen, sah sie Serena, wie sie sich mit gebleckten Fängen auf Calman stürzte. Erst glaubte Karen, Arweths Doppelgänger wäre derjenige, der sie abfing und gegen die vorderste Bankreihe schleuderte. Da erkannte sie, dass dieser Arweth völlig anders gekleidet war, als der, den sie zuvor in der Kapelle sah.

Serena schrie wie eine Furie und sprang mit einem Satz wieder auf die Beine. Auch sie erkannte, dass nun der angebliche Verräter vor ihr stand. Zähnefletschend rannte sie los, um sich auf ihn zu stürzen. Jarout warf sich dazwischen. Vergeblich, denn ohne große Kraftanstrengung katapultierte sie ihn mit einem einzigen Fausthieb den Gang hinunter. Krachend schlug er auf dem Boden auf und blieb regungslos liegen.

»Lass mich los!«, forderte Karen. »Wir müssen ihnen helfen.«

Verzweifelt sah sie, dass sich Calman von der Seite her ein weiß flirrender Schatten näherte und im nächsten Moment streckte ihn ein überraschender Hieb zu Boden.

»Nein!«, schrie Karen. Lucas jedoch hielt sie erbarmungslos fest.

»Wir dürfen nicht eingreifen«, rief er ihr zu. »Arweth will es so. Dorian Prior gehört ihm!«

Prior, dachte sie, der, den sie suchten. Arweth kannte ihn also. Aber das war jetzt nebensächlich. Wie konnte Lucas nur tatenlos dabei zusehen, wie er und Serena einen nach dem anderen niederschlugen?

»Das ist mir scheißegal!«, kreischte sie und versetzte Lucas einen kräftigen Tritt zwischen die Beine. Hirudo hin oder her, er war ein männliches Geschöpf und ließ sie erschrocken los, als brennender Schmerz seine Sinne betäubte.

Stolpernd rannte Karen durch das Portal und den Gang hinauf. Sie hörte Lucas ihren Namen rufen, ehe sich die schwere Eichentür mit einem Schlag wie von Geisterhand hinter ihr schloss und den heulenden Wind und jeden weiteren Eindringling aussperrte.

Plötzlich herrschte unwirkliche Stille, in der nur noch Serenas keuchende Atemzüge zu hören waren. Sie klangen wie das Fauchen einer tollen Katze. Zitternd vor Anspannung lauerte sie neben Arweths Doppelgänger und wartete auf sein Wort, das ihr den Angriff befahl.

Erschrocken verharrte Karen. Was jetzt? dachte sie und blickte sich hilflos um. Wo bist du, Geisterfrau? Sag mir, was ich tun soll! Doch sie erhielt weder eine Antwort, noch erschien ihr das geringste Anzeichen dafür, dass ihre Besucherin in der Nähe war. Entweder konnte sie sie nicht hören, oder ließ sie jetzt einfach im Stich.

Erschrocken wirbelte sie herum, als sie eine eisige Berührung am Rücken spürte. Ein Schrei blieb ihr in der Kehle stecken. Vor ihr stand die Frau. Sie sah so real aus, dass Karen glaubte, sie berühren zu können und zugleich wirkte sie so unwirklich, dass jede Faser ihrer Gestalt wie aus Licht gemacht schien. In ihrem langen, schwarzen Haar meinte Karen Sterne funkeln zu sehen.

»Wer bist du?«, fragte Karen leise.

»Ich bin die, die deine Hilfe braucht«, antwortete die Frau. Karen hörte sie in ihrem Kopf, wie sie Calman hören konnte, wenn er ihr einen Gedanken schickte.

»Du hast mir all diese Botschaften geschickt, nicht wahr?«, wisperte Karen, woraufhin die Frau nickte. Karen fiel auf, dass vollkommene Stille herrschte, während sie miteinander sprachen. Das Kampfgeschehen direkt neben ihnen schien weit entfernt und um einiges unwirklicher als die Geisterscheinung vor ihr. Sie sah Calman, der sich wieder aufgerappelt hatte und sich mit wirbelnden Tritten gegen Serenas Angriff zur Wehr setzte. Karen sah Arweth oder Prior, der ihm von hinten in den Rücken sprang und den anderen Arweth, der ihn zurückriss, ehe seine scharfkantigen Fänge Calmans Hals in Fetzen reißen konnte. Doch all das schien zweitrangig, so sehr vereinnahmte sie die Geisterfrau und deren Worte.

»Ich brauche dich, deine Kraft«, hörte Karen die Stimme in ihren Gedanken.

»Was kann ich tun?«, fragte sie mit ihren Gedanken.

»Öffne dich und lass mich ein«, war die Antwort. Verwirrt schüttelte Karen den Kopf. Sie einlassen? Meinte sie damit etwa, sie solle sie in ihrem Körper aufnehmen? Die Frau nickte wieder. Sie lächelte sanft, wie um Karen zu beruhigen und ihr zu versichern, dass sie nichts Übles im Schilde führte und ihr kein Leid zufügen wolle. Aber wie konnte Karen zulassen, dass diese Frau in ihren Körper und ihren Geist eindrang? Wie sollte sie wissen, dass sie ihr vertrauen konnte?

»Schon einmal hast du es zugelassen, weißt du das nicht mehr? Im Haus der Familie, als ich dir das Bild des Wächters zeigte. Und ich ging, ohne dich zu verletzen. Bitte, ich brauche dich. Es muss ein Ende haben. Dorian Prior muss Einhalt geboten werden ... sonst ... alle werden sterben und sterben und wieder ... immer noch mehr ... Rache ... hört nie auf ...«

Die Stimme wurde mit jedem Wort schwächer und auch die Erscheinung verblasste, flackerte auf wie eine ersterbende Kerzenflamme, festigte sich wieder, waberte und verschwamm. Karen versuchte nachzudenken, doch Furcht machte jeden klaren Gedanken unmöglich. Sie warf einen verzweifelten Blick auf Calman, der jetzt ebenso wie Jarout, wie leblos auf dem kalten Steinboden lag. Arweth und sein Doppelgänger standen sich vor dem Altar gegenüber. Serena lauerte mit gebleckten Zähnen darauf, angreifen zu können.

Nein, das darf nicht geschehen, dachte Karen bestürzt. Ihr blieb keine andere Wahl, wollte sie ihrer aller Leben retten. »Also gut, tu, was immer auch notwendig ist«, dachte sie an die Geisterfrau gewandt und schloss die Augen. Sie hoffte nur, dass ihre Entscheidung die richtige war. Doch ihr blieb keine Zeit mehr für Zweifel oder Bedauern. Schon fühlte sie sich wie von unzähligen Regentropfen benetzt. Wie feine Fäden aus purem, warmem Licht drangen sie prickelnd in ihre Haut, glitten tiefer in sie hinein und breiteten sich als sanftes Drängen in ihr aus. Das Gefühl, willenlos zu schweben erfasste sie und sie meinte, in tiefen Schlaf zu gleiten. Dass ihr Körper sich in Bewegung setzte, spürte Karen nicht. Ihr Bewusstsein war weit, weit fort.

»Du wolltest mich und hier bin ich. Lass es uns zu Ende bringen, Prior«, knurrte Arweth. Seine offensichtliche Wut, die ihn wie ein wabernder Hitzeschleier umflorte, trieb ein höhnisches Grinsen in das Gesicht des Angesprochenen.

»Ja, und dass du so viele nette Freunde mitbringst, habe ich gar nicht erwartet. Tut mir leid, dass ich euch keinen besseren Empfang bereiten konnte. Ihr hättet anrufen sollen«, spottete Prior.

»Sie haben nichts damit zu schaffen und sind nicht auf meinen Befehl hier. Im Gegensatz zu dir, habe ich Lüge und Tarnung nicht nötig«, antwortete Arweth. »Was soll die Maskerade, Prior? Denkst du, irgendjemand nimmt dir diese Scharade ab?«

Dorian Prior lachte verächtlich. »Nun, eine scheint mir jedoch klug genug, sich nicht täuschen zu lassen. Sie!« Er wandte sich an Serena. »Du glaubst mir, nicht wahr?«

»Allerdings, mein Vater«, zischte Serena. »Er ist der wahre Täuscher, der uns alle vernichten will. Er und diese Bande von Verrätern.« Mit zornig gerunzelten Brauen blickte sie erst zu Calman und dann zu Jarout, die sich nicht regten.

»Was sprichst du da, Serena?«, fuhr Arweth dazwischen. »Was hat er dir für einen Unsinn eingeredet?«

Da entdeckte Serena Karen in den Schatten der Portalsäulen neben ihrem ohnmächtigen Bruder. »Sieh einer an, Karen.«

»Wer ist das?«, wollte Dorian Prior wissen. Sein unruhiger Blick huschte hektisch von Serena zu Karen, von Karen zu Arweth und wieder zurück.

»Lucas Tochter. Das Haustier der ehrenwerten Familie«, spottete Serena.

»Nein, verdammt, ganz sicher nicht«, fluchte Prior. Das Mädchen, dessen Gestalt er nur schemenhaft in den dunklen Schatten erkennen konnte, jagte ihm einen Schauer über den Rücken. Das lange, dunkle Haar, die schmale, groß gewachsene Gestalt und das wallende Gewand – sie sah genauso aus wie in seiner Erinnerung. Er wusste nicht, dass nur er sie so sah. Für Arweth und Serena war sie Karen und nicht die Frau mit dem schwarzen Rabenhaar und dunkelglühenden Jadedaugen.

Plötzlich flammten gleichzeitig alle Kerzen auf, die er für Arweths Empfang bereitgestellt hatte. Gemessenen Schrittes, das Haupt stolz erhoben, trat die Frau in den Lichtkreis. Geblendet von der unerwarteten Helligkeit stand Dorian Prior starr vor Schreck, konnte sich nicht rühren und kaum atmen.

»Das ist unmöglich«, stammelte er. Sein Atem ging schwer und keuchend. »Du ... du bist tot!«

Die Frau lächelte kaum merklich. Ihre grünen Augen schimmerten wie fein geschliffene Smaragde. Umkränzt vom dunklen Nimbus ihres schwarzen Haars, erstrahlten die zierlichen, milchweißen Gesichtszüge in dem goldgelben Kerzenschein. Ungerührt setzte sie ihren Weg fort. Immer näher kam sie ihm. Mit angstgeweiteten Augen starrte er ihr entgegen.

Die Kirche, Serena, Arweth, alles um ihn herum verschwamm zu einer unwirklichen Vision. Wie in Zeitlupe sah er Serena angreifen. Die Fänge gebleckt, sprang sie der Frau in den Rücken, selbst jetzt noch überzeugt vom Glauben in ihn und seinen Lügen. Doch falscher Glaube und Wut vermochten nichts auszurichten. Serenas Angriff ging ins Leere. Unfähig, die Wucht ihres Laufes aufzufangen, krachte Serena zu Boden und wurde von einer unsichtbaren Macht gegen den Altar gestoßen, wo sie benommen liegen blieb.

Der unergründliche Blick der weiß gekleideten Frau bohrte sich in Priors, hielt ihn gefangen, versengte ihn mit ihrem grün lodernden Feuer. Er versuchte zu schreien und die Arme zum Schutz hoch zu reißen, doch er war wie gelähmt und konnte nur hilflos mit ansehen, wie sich ihre Hand zum tödlichen Schlag erhob.

Was war nur geschehen? Verzweifelt schloss er die Augen, um den eigenen Tod nicht kommen sehen zu müssen. Wie konnte sie nur entkommen? Hexe, dachte er, verfluchte Dämonenfut! Ich, ich habe dich verbrannt. »Du bist tot!«, kreischte er.

Zitternd vor Angst spürte er die sanfte Berührung ihrer eiskalten Hand an seiner Wange. Der Duft ihrer Haut war betörend. Die Berührung ihrer Finger brannte wie Feuer und als sie ihn in ihre Arme schloss, glaubte er zu verglühen.

Erstaunt riss er die Augen auf. Das Antlitz der Hexe verblasste. Dahinter lag ein ihm fremdes Gesicht. Entsetzte blickte er in den tief dunklen Blick obsidianschwarzer Augen in das von flammend rotem Haar umkränzte Gesicht. Wer war dieses Mädchen? Wohin war die Hexe verschwunden? Verzweifelt versuchte er sich zu bewegen, doch ihre Augen hielten ihn unerbittlich. Hexenaugen. Sie waren überall, füllten sein ganzes Denken und Sein aus. Verfluchtes Weib, dachte er rasend. Das durfte nicht sein! Das durfte nicht geschehen! Er war der Ritter des Herrn, folgte seiner Mission, stand für ihn gegen all seine Feinde. Er hatte so sorgfältig geplant, sich gar um die verlorenen Seelen seiner Peiniger bemüht. Und jetzt das! Sollte sein Leben denn so enden?

Wie zu Antwort erhob sich Karens Hand in sein Blickfeld. Behutsam hielt sie den filigranen Hals einer kleinen Phiole zwischen den Fingerspitzen. Er kannte diese Phiole und er wusste nur allzu gut, was sie enthielt. Er selbst hatte sie aus der Welt der Hirudo mitgebracht und in seinem Hort in London ... vergessen! Hilflos, unfähig sich zu wehren oder auch nur um Hilfe zu rufen, verfolgte er die Bewegung ihrer Hand. Langsam kippte sie das Fläschchen. Dickflüssig und zäh wie Honig tropfte das tödliche Gift auf seine Brust.

Gedämpfte Stimmen drangen an sein Ohr. Sie riefen. Nach ihm? Er lauschte angestrengt. Nein, er konnte nicht verstehen, was sie sagten. Sie wurden lauter, neue Stimmen kamen hinzu, fügten sich zu einem Kanon chaotischen Singsangs. Hart spürte er seinen Kopf auf den kalten Steinboden schlagen, als ihre Arme ihn freigaben.

Sein Körper bäumte sich auf, mit blinden Augen starrte er in das gleißende Licht, das plötzlich um ihn herum erstrahlte. Warum spürte er keinen Schmerz? Das um’tejesh verbrennt uns doch, dachte er verwundert. Maratos hatte ihm Leid für seine Peiniger versprochen. Doch als er an sich herunterblickte, sah er ein weißglühendes Strahlen, das sich von innen her ausbreitete und ihn mit flackernden Lohen umschlang. Die berauschende Pracht des Lichts nahm ihm die Erinnerung an Zorn und Willen, fegte seine Verwunderung hinweg und löschte jeden Gedanken aus, sodass er schließlich sich selbst gänzlich in dem warmen Leuchten verlor. In einer befremdlichen Mischung aus Schrecken und stillem Wissen, gab er sich hin. Er spürte weder Bedauern noch Verlust, als er fühlte wie jener zarte Strang, der ihn ans Leben band, zerriss.

Verwirrt, als erwache sie aus einem geisterhaften Traum, fand Karen sich in Arweths Armen wieder. Nur wenige Schritte von ihnen entfernt lag der leblose Körper des Fremden. Neben ihm kniete die Frau, ihre Besucherin. Alles überstrahlende Helligkeit hüllte sie und den Leib des Toten ein. Lächelnd blickte die Frau zu Karen hinüber. Sie sah aus wie ein Engel. Ihr sanftes, zartes Gesicht, das lang wallende Haar, das weite, strahlend weiße Gewand war ganz und gar eingehüllt in wahrhaft himmlisches Licht.

Was war nur geschehen? Das Letzte, woran Karen sich erinnerte war, dass die dunkelhaarige Frau plötzlich neben ihr stand. Auch entsann sie sich noch deutlich, von ihr umarmt worden zu sein. Die sanfte Berührung war kaum mehr als ein Windhauch gewesen. Damit jedoch endete ihre Erinnerung. Wie sie dorthin gelangt war, wo sie nun saß, war ihr ein Rätsel. Verstört sah Karen Arweth an, doch er beachtete sie gar nicht. Sein schneeweißes Gesicht war wie versteinert.

»Phoebe«, flüsterte er und Karen sah die Frau kaum merklich nicken. Das war also ihr Name. Phoebe. Aber woher kam sie und warum half sie ihnen? War sie womöglich tatsächlich ein Engel? Karen wagte kaum diese Frage in Gedanken zu formulieren, so lächerlich, so unmöglich schien ihr diese Vorstellung.

Fassungslos sah sie mit an, wie das Licht schwächer wurde und mit ihm auch Phoebe. Mit jeder Sekunde verblasste die Gestalt mehr und mehr, bis sie schließlich ganz verschwunden war. Zurück blieb der leblose Körper des Mannes und die kalte Gewissheit, dass alles eventuell Göttliche diesen Ort verlassen hatte.