~ 4. Kapitel ~
In dem die sich Leute nach zwei seltsamen
Gestalten umdrehen
Kaum hatte sie an Arweths Seite das Flughafengebäude mit seinen grellen Neonlichtern betreten, fühlte sie sich wie eine Laborratte im Käfig. Das schrille Stimmengewirr der vorübereilenden Menschen löschte jeden klaren Gedanken aus. Blicke, die sie mit kalter Neugierde taxierten, brannten auf ihrer Haut. Das Lärmen tausender Schuhe auf dem Steinboden der Halle, gepaart mit dem mächtigen Echo der Lautsprecheransagen, die wie eine göttliche Verkündung durch die Terminalhalle donnerten, dröhnte ihr schmerzhaft in den Ohren.
Am schlimmsten jedoch war das Licht. Grell und erbarmungslos stachen die neonbeleuchteten Farben in ihre empfindlichen Augen. Hilflos schnappte Serena nach Luft, die sich zäh in ihre Lungen quälte. Sie roch Schweiß und Tränen, Aftershaves und widerliches Parfüm, das nach Seife stank.
Tränen der Verzweiflung brannten heiß in ihren Augen und verwischten ihr die Sicht. Fest krallte sie sich an Arweths Arm. Wie konnte er nur von ihr verlangen, das hier zu tun? Er wusste doch, wie sehr sie in solchen Situationen litt. Sie fühlte sich nackt und schutzlos inmitten solch großer Menschenmassen.
Selbst das «porch» mied sie, wenn der Club zu gut besucht war und die schwitzenden, drängenden Leiber der Gäste aneinanderstießen und nicht einmal das gedämpfte Licht ihre Masse verbergen konnte. Serena liebte ihre Apartments, die ausgewählte Gesellschaft einiger Freunde und ihre Abgeschiedenheit. Wenn sie reiste, dann mit Arweth oder Jarout durch die Spiegel, aber niemals mit einem Flugzeug oder anderen öffentlichen Verkehrsmitteln. Die Menschen darin machten sie wahnsinnig. Sie verabscheute abgrundtief die, die sie zum Leben brauchte. Oh ja, sie liebte die Jungen, die Jarout ihr manchmal brachte. Und sie mochte jene, die sie selber auswählte und mit in ihre Wohnung nahm. Doch brauchte sie weder den Gestank noch den Lärm oder die schwachsinnigen Worte, die aus ihren Mündern quollen. Nein, sie konnte die menschliche Rasse in ihrer aufdringlichen Gesamtheit nicht ausstehen. Sie waren neugierig, geschwätzig und einfach unerträglich. Sie verstand einfach nicht, warum Arweth so sehr fürchtete, dass ihnen jemand in den Spiegeln begegnen könnte. Außer ihm konnten nur Jarout und Lucas durch die Spiegel reisen und einem der beiden ausgerechnet heute zu begegnen, war sehr unwahrscheinlich. Jarout war vermutlich gar nicht unterwegs und Lucas benutzte die Spiegel so gut wie nie.
»Wartest du auf den nächsten Heiligabend oder können wir weiter?«, fragte Arweth.
»Warum können wir nicht einfach durch die Spiegel gehen, wie immer?« Ihr flehender Tonfall schien ihn nicht im Mindesten zu beeindrucken. Gott, sie hasste diese Menschen. Und sie hasste Arweth, weil er sie zwang, hier zu sein.
»Das habe ich dir doch schon erklärt, mein Schatz. Es geht einfach nicht anders und nun lass es gut sein. Wir sind ja nicht lange unterwegs.«
Dorian Prior war verwirrt. Was war nur mit dieser Nervensäge los? Nicht, dass ihre offensichtliche Angst unerfreulich war. Im Gegenteil. Er war erleichtert, denn zuvor hielt er sie stets für eine kontrollierte, dominante Person. Sicher, er wusste, dass sie gern vor Arweth das kleine, kokette Mädchen mimte und ihre Spielchen mit ihm trieb. Doch die Kälte und Berechnung dahinter wirkten stets so als könne sie Nichts und niemand schrecken. Wie gut sie all die Zeit über ihren Makel verborgen hatte. Wochenlang beobachtete er sie und ihre Dämonenbrut. Er spürte so etwas wie Respekt vor ihr in sich wachsen. Und jetzt war Serenas Selbstbewusstsein und ihre Stärke zu einem Nichts in sich zusammengefallen. Zurück blieb eine gebrochene, armselige Person voller Furcht. Aber das machte weiter nichts. Hauptsache, sie war dann stark, wenn er sie brauchte. Nämlich dann, wenn es an ihr war, Arweth zu töten.
»Wohin gehen wir überhaupt? Du hast mir noch nicht einmal verraten, wohin wir fliegen?«, jammerte sie.
»Köln«, antwortete er knapp. »Und jetzt komm endlich!«
»Köln?« Mit angstvoll geweiteten Augen blieb sie wie angewurzelt stehen. »Was willst du denn dort?«
»Das wirst du sehen, sobald wir da sind«, schnappte er gereizt.
»Aber ...«
»Bitte, Serena. Ich erzähle dir alles unterwegs, aber jetzt setz dich endlich in Bewegung, sonst verpassen wir das Flugzeug.«
Über Heathrow lag derselbe Fluch wie über jedem anderen Flughafen. Das Terminal, an dem sie einchecken mussten, war zugleich auch das entfernteste. Allein deswegen hätte er mindestens so gern wie sie dieses erstaunliche Talent der Spiegelreise benutzt. Doch das ging nicht, denn ausgerechnet das wurde ihm von seinem Schöpfer vorenthalten. Glaubte sie etwa, er lasse sich gern von diesem aufdringlichen Menschenpack hier am Flughafen anstarren? Den Idioten fielen ja beinahe die Augen beim Anblick des groß gewachsenen Mannes mit den weißen Haaren, der schimmernd hellen Hautfarbe und den roten Albinoaugen, aus den Höhlen.
Das war auch für ihn nicht leicht. Dorian Prior war weiß Gott kein auffälliger Mann. Er war nicht groß, weder übermäßig fett noch mager. Sein kurz geschorenes dunkles Haar und die Sonnenbrille, die er in der Öffentlichkeit trug, war schon das Ungewöhnlichste an seiner Erscheinung.
Und jetzt war er als Arweth zur Hauptattraktion einer Freakshow geworden. Ein Monstrum, das seinem Käfig entflohen und auf die Menschheit losgelassen wurde. Nein, die ganze Situation gefiel ihm ganz und gar nicht. Doch anstatt seinen Unmut an ihr auszulassen, zog und stieß er sie. Zerrte sie schweigend weiter als sie bei der Gepäckkontrolle zögerte und bugsierte sie wie ein störrisches Schaf in das Flugzeug. Eine Stunde trennte ihn von seinem nächsten Schritt. Eine Stunde, in der er in aller Ruhe nachdenken musste.
Er durfte einfach keinen Fehler machen. Er konnte sich keinen Trugschluss oder eine falsche Entscheidung leisten. Aber verdammt, worüber machte er sich eigentlich Sorgen? Niemand wusste, wo sie waren oder ahnte auch nur ansatzweise, worum es in diesem Spiel ging. Sie wussten nicht einmal, dass die Show in vollem Gange war. Er war derjenige, der den Verlauf und die Regeln bestimmte. Er war ihnen in seinem Wissen um den nächsten Schritt voraus. Nur er, Dorian Prior, wusste, wie das Ende und der Weg dorthin verlief. Er war der mit der höchsten Karte in einem verdeckten Spiel. Und Schritt für Schritt, Karte für Karte wurde das Spiel interessanter.