2. Kapitel
Niemand sah sein Gesicht aus der Schaufensterscheibe auftauchen. Zunächst zögernd und bereit einen schnellen Rückzug anzutreten, schob er erst sein rechtes Bein und kurz danach Schulter und Arm derselben Seite heraus.
Schnell sah Jarout sich so der Länge nach zur Hälfte gespalten um, ob er beobachtet wurde. Als klar war, dass er nicht auffiel, zog er auch die andere Hälfte seines Körpers nach und trat auf die Straße hinaus.
Das Glas waberte noch einen Moment lang wie eine aufgewühlte Wasserfläche, ehe es sich schloss und harmlos wie zuvor die Leuchtschriften der Neonreklamen und die Lichter der Geschäfte, Restaurants und Pubs reflektierte.
Menschen zogen in stetem Strom an ihm vorbei. Erstaunlich, wie ihm immer wieder gelang, ganz einfach so aus einem Spiegel oder einer Fensterscheibe aufzutauchen, ohne dass ihn wenigstens einer von diesen vielen bemerkte. Doch in ihrer Masse, jeder von ihnen viel zu sehr damit beschäftigt, seinen eigenen kleinen Gedanken und Träumen nachzuhängen, fiel das nicht auf.
Tief sog er die Luft ein. Ah, was für ein Duft! Sie waren zu viele, um einzelne unter ihnen auszumachen. Doch gerade das gefiel ihm ja so. Sie waren wie ein einziges, riesiges Wesen, zusammengesetzt aus zahllosen kleinen, das sich die Straße entlangrollte und dabei seine Duftmarke setzte.
Beschwingt betrachtete er sein Spiegelbild in der Scheibe und was er sah, war das lächelnde Gesicht eines jungen, zwanzigjährigen Mannes, wie sie zu Hunderten nachts hier herumliefen. Äußerlich war er wirklich nichts Besonderes. Ein schmales Gesicht mit gerader Nase, hoher Stirn und energischen Augen, gerahmt von schulterlangem, in der Mitte der Stirn gescheiteltem, dunklem Haar.
Seine langen Beine steckten in engen, schwarzen Jeans. Aus der mit Schafsfell gefütterten Lederweste quoll ein übergroßer, bordeauxroter Pullover, dessen zu lang geratene Ärmel über seine Hände fielen und den einzigen Schmuck, den er trug, verbargen: zwei breite, mit scharfen Klingen versehene Silberringe an den Zeigefingern. Schlampig hätte Blanche ihn genannt, könnte sie ihn so sehen. Aber im Gegensatz zu ihr fiel er lieber so wenig wie möglich, und vor allem nicht unnötig, auf. So konnte er zu einem Teil dieses Menschentieres werden, ohne Misstrauen zu erregen.
Den Mund zu einem breiten Grinsen verzogen, das seine hellen Augen blitzen ließ, würdigte er seine dennoch ausgesprochen attraktive Erscheinung. Zu unauffällig wollte er schließlich auch nicht sein. Sie sollten ihn schon anschauen und sich fragen, wer wohl dieser gut aussehende Junge ist und ob er vielleicht schon jemanden für diese Nacht gefunden hatte. Er liebte es, wenn sie sich ihm anboten.
Halb im Gehen gewandt, überprüfte er noch schnell den korrekten Sitz der Ringe und warf einen letzten zufriedenen Blick über die Schulter.
Ja, ja, ein schönes Äußeres erleichterte das Leben ungemein, wenn es wirklich drauf ankam. Dieser ganze verlogene - Es-kommt-nicht-auf-das-Äußere-an - Scheiß ging ihm schon immer auf die Nerven. Jedenfalls, seit er kapiert hatte, dass die wenigsten Leute sich dafür interessierten, was jemand im Kopf hat, wenn sie sich von seinem Körper angezogen fühlten. Was das angeht, ist die Evolution des intelligenten Homo sapiens in der Steinzeit versumpft, meinte er.
Er war zweifelsohne aufgrund seines Aussehens zu einer sehr glücklichen und befriedigenden Existenz auf der Sonnenseite des Lebens bestimmt, und was einem das Schicksal schenkte, sollte man nutzen. Nimmt man allerdings den Begriff »Sonnenseite« wörtlich, so traf das auf ihn allerdings nicht zu. Die Sonne hatte er noch nie in seinem Leben gesehen. Doch er erinnerte sich noch gut daran, dass er während seiner Kindheit durch teils trotzige, teils neugierige Versuche einen Blick auf sie zu riskieren, seine Mutter beinahe in den wohlverdienten Wahnsinn getrieben hatte.
Jetzt, als erwachsener Hirudo, wusste er natürlich die Nächte zu schätzen und auch all die anderen Vorteile und Vergnügungen, die sie ihm boten.
Am liebsten waren ihm die hellen Vollmondnächte des Sommers. Wenn die hereinbrechende Dunkelheit die Nebel aus den Tiefen der Themse sog und in die Straßen der Stadt trieb, in denen sie einen Schleier der Irrealität webten.
Auch diese Nacht stand der Mond voll und perlweiß über Soho. Eine leichte Brise tanzte ihren milden Reigen durch die Straßen, die voll wie ein Fluss waren. Wie immer boten die menschenvollen Straßen ein üppiges Angebot duftender Leiber, die nur darauf warteten, begutachtet und ausgewählt zu werden.
Ah, dieser Mond! Jedes Mal aufs Neue brachte er Jarout dazu, wie hypnotisiert innezuhalten. Mit seinem Silberlicht fing er seinen Blick ein und weckte den beinahe unwiderstehlichen Drang, unter ihm zu tanzen und ihn sehnsüchtig anzurufen.
Nicht nur auf ihn wirkte er. Auch die Menschen in den Straßen waren in diesen Nächten verändert, ja fremd.
Das bleiche Silberlicht lockte sie aus ihren Wohnungen und Häusern. Ihre Abenteuerlust und Triebe waren angeheizt. In Nächten wie dieser benahmen sie sich ausgelassener, aggressiver und rastloser als gewöhnlich.
Die schweren Düfte ihrer Körper hingen unsichtbar und zäh wie unter einer Glasglocke in der Luft. Ihr Blut floss schneller und füllte ihnen prall die Adern. Nie ist ihr Leben derart intensiv und verführerisch, als wenn dieser Mond scheint.
Genießerisch ließ er seinen Blick langsam über lachende, rosige Gesichter gleiten und blieb an zwei Mädchen hängen, die auf dem Sims eines Pubfensters saßen.
Ihre rosig weiße Haut schimmerte wie Perlmutt und ihre schwarzen und braunen Haare wehten im leichten Wind, der durch die Straße zog und ihr Gelächter zu ihm trug.
Runde, glatte Schenkel in zerrissenen Jeans und klobige Boots an den kleinen Füßen. Keck hervorstehende Brustwarzen unter ihren dünnen Shirts. Große, kirschrote Münder, in denen perlfeine Zähne schimmerten. Ihre Augen funkelten, als sie lachend, kokettierend die Köpfe zurückwarfen. Die beiden erregten ihn. Ihr Anblick betörte ihn, und ihr unwiderstehlich, berauschender Geruch lockte ihn. Er stellte sich vor, sie zu berühren, sein Gesicht in ihre Bäuche hineinzuwühlen - weich und tief. Sich an ihre Hüften zu pressen, in sie einzudringen, gierig und sie dann aufbrechen ... quellendes Fleisch, süßes Blut, ihr fließendes Leben, dessen Fluss ihn trunken machte.
Jetzt stand eine von ihnen auf und ging davon. Sie winkte ihrer Freundin zum Abschied. So leicht und sorglos.
Mit kleinen, forschen Schritten stapfte sie an ihm vorüber und würdigte ihm keinen Blick. Ihr Geruch! Eine Mischung aus Meersalz, parfümiertem Haar, Make-up und der saubere, heilige Milchduft ihrer straffen Haut streifte seine Nase, und wie einen Hund an der Leine zog es ihn hinter ihr her.
Eine innere Stimme warnte ihn, den eigentlichen Grund seines Aufenthaltes nicht zu vergessen, aber sofort tat er derartige Einwände als irrelevant ab.
Er würde sich nicht lange aufhalten. Auf eine Chance wie diese zu verzichten, dem Ruf ihres Blutes nicht nachzugeben, wäre geradezu ein Sakrileg. Die Nacht hatte gerade erst begonnen, und ihm blieb noch genügend Zeit, sich später seinem eigentlichen Ziel zu widmen. Außerdem war er nie besonders gut gewesen, was Selbstdisziplin angeht. Heute war ganz bestimmt nicht die Zeit damit anzufangen, wenn sich ihm eine derart günstige Gelegenheit bot.
Das Mädchen bog in eine Seitenstraße ein, die zu einer unbeleuchteten Hinterhofgasse führte. Geschickt bahnte er sich seinen Weg im Slalomkurs durch die entgegenkommenden Menschen und folgte ihr.
Blasses Mondlicht tanzte auf ihrem schwarzen Haar und warf spielerische Schatten auf ihren festen Körper. Sie hörte seine Schritte nicht, die immer dichter an sie herankamen. Dann war er ihr so nahe, dass er sie berühren konnte. Ein weiterer Atemzug ihres Aromas, und seine Hände schossen vor.
Die scharfen Klingen seiner Ringe erstickten ihren überraschten Aufschrei. Wie leblos sackte sie gegen ihn, und er ließ sie an sich herab auf den nassgrauen Asphalt gleiten. Die Schneiden bohrten sich tief in ihre Kehle, die jetzt eine zerfetzte Wunde war.
Gierig, und ohne weitere Kontrolle über seine Instinkte, senkte er seine Lippen in den heiß sprudelnden Quell ihres Blutes. Seine Hände arbeiteten fieberhaft daran, ihren Körper von der störenden Kleidung zu befreien, wobei die kleinen Messer immer noch mehr Wunden in die weiche Haut rissen.
Rotes Blut rann dick und dunkel über ihre Brüste und den Bauch. Ihr Herz pumpte immer mehr aus ihr heraus. In so heftigem Schwall, dass er Mühe hatte, alles aufzunehmen. Ihre noch lebendigen, in panischer Angst geweiteten Augen, folgten hektisch flehend jede Bewegung. Doch ihre durchtrennten Stimmbänder brachten lediglich kläglich pfeifende Laute hervor, die außer ihm niemand hörte.
Hektisch öffnete er seine Hose und riss ihre schlanken Schenkel weit auseinander. Auch hier gruben die Ringe ihren blutigen Weg, und seine Zunge leckte genießerisch alles auf.
Dann riss er ihr Becken zu sich heran, suchte, fand und stieß brutal in sie hinein. Seine Zähne brachen die Haut ihrer linken Brust auf, während er wie besessen vor Anstrengung und Genuss keuchend, immer wieder hart in sie hineinglitt.
Den Mund in ihre Kehle vergraben suchte sein Blick den Mond. Den wollte er sehen, wenn ... Er biss zu, einem reißenden Wolf gleich rammte er seine Zähne in ihre Kehle, um den erstickten Aufschrei zu unterdrücken, als er kam.
Ihr köstliches Blut floss in pulsierenden Strömen. Oh ja, es war mehr als gewöhnlich. Doch allmählich, wie um es seiner nachlassenden Lust gleichzutun, stockte ihr Herzschlag. Ihre Haut wurde dünn wie Pergament, und ihr Körper fiel in sich zusammen. In der Hoffnung, noch einen Rest ihres warmen Blutes hervorzubringen, schob er seine Hüften noch einige Male vor. Doch sie war ausgesaugt. Bis auf den letzten Tropfen geleert. Angewidert stieß er sie fort.
Sie hatte ihre Jugend verloren. Anstatt des ihn um den Verstand bringenden jungen Mädchens lag eine in sich zusammengefallene und ausgetrocknete Leiche in einer schmierigen Pfütze aus Regenwasser und Abfallsud.
So war es immer. Waren sie erst einmal blutleer, widerten sie ihn an. Aber ihr Blut schenkte ihm Leben und ihr Leben wurde Teil von seinem.
Sein Vater, Lucas, lehrte ihn trinken. Doch ohne nennenswerten Erfolg. Lucas tötete niemals auf seine Art. Das Blut der Menschen zu nehmen war für Lucas eine unangenehme Notwendigkeit, und die berauschende Lust, die er an seinen Opfern fand, bereute er, sobald er fertig war und sich satt abwandte.
Auch tötete Lucas nicht und wenn, dann höchstens aus Versehen. Zu allem Überfluss ließ er sich auch noch von seinem schlechten Gewissen quälen. Seit Jarout ohne seinen Vater auf die Jagd ging, war niemanden mehr da, der versuchte, ihn zurückzuhalten oder zu belehren. Im Gegensatz zu den anderen Mitgliedern seiner Familie befreite er sich völlig von Lucas, der trotz seines verweichlichten Benehmens von allen übrigen Hirudo als Oberhaupt respektiert wurde. Sie achteten ihn. Vor allem wegen seines Vaters, Golan von Byzanz. Doch damit war bald schon Schluss. Durch einen banalen Zufall war Jarout auf eine Spur gestoßen, die ihn zunächst stutzen ließ, aber auch seine Neugierde weckte.
Das war vor zwei Monaten gewesen. Da lauschte er zum ersten Mal, in der Spiegelfläche eines Kerzenhalters verborgen, dem Gespräch zweier Menschen.
Sie saßen sich an einem Tisch gegenüber und hingen schweigend ihren Gedanken nach.
Ein Mann mit schütterem Haar und dem knochigen Gesicht eines vorzeitig gealterten Mittvierzigers. Auf der anderen Seite ein junges Mädchen mit auffallend großen, dunklen Augen und dickem, rotem Haar, das ihr kleines Gesicht, mit den für die Inseln so typisch keltischen Zügen, umschmeichelte. Zunächst erschienen ihm die beiden uninteressant. Er war nicht in der Stimmung, sich mit ihnen zu amüsieren. Doch gerade, als er weiterziehen wollte, sagte das Mädchen etwas, was ihn aufhorchen ließ. Sie sprach Lucas Namen aus, Lucas Vale.
Alles Weitere, über das sie redete, war verwirrend und von ihm nicht nachvollziehbar. Doch was er heraushörte war, dass ihre Mutter Lucas kannte und sie seine Tochter war. Das war unglaublich! Sprach sie von demselben Lucas Vale, den auch er als seinen Vater kannte? Nach wenigen Minuten und einigen weiteren Sätzen war ihm klar, dass dem tatsächlich so war. Doch sie erzählte das Leben eines anderen.
Immer wieder berichtete der Lucas, den er kannte, von seiner Kindheit und erzählte ihnen Geschichten aus seinem mehr als 1300 Jahre währenden Leben.
Ihre Worte reduzierten seine Zeit auf vierzig Jahre, denn als Hirudo konnte er keine Kinder gezeugt haben. Er musste als Mensch ihre Mutter geschwängert haben, und das machte seine Abstammung mehr als ungewiss. Vielleicht war er nur ein gewöhnliches Halbblut und hatte den Alten namens Golan nie gekannt, aber selbst das war jetzt irrelevant. Sein Betrug war unglaublich! Das war schlichtweg die Krönung ihres ohnehin nicht sonderlich guten Verhältnisses.
Endlich, und wie durch Fügung des Schicksals war Jarout damit das Instrument zu Lucas Vernichtung in die Hände gefallen. Er brauchte etwa zwei Wochen, um gründlich nachzudenken und das, was anfänglich nicht mehr als eine schwammige Idee war, zu einem Plan reifen zu lassen, bevor er zu dem Mädchen zurückkehrte.
Sie war ganz ohne Zweifel die Tochter seines Vaters. Durch ihr Äußeres und ihre Talente unverkennbar sein Kind. Sein verlassenes Kind. Sein enttäuschtes, verzweifeltes Kind, das sich Nacht für Nacht in der Stadt herumtrieb und nach dem Vater suchte.
Ihre Ähnlichkeit zu Lucas war wirklich erstaunlich. Sie war schließlich keine Hirudo. Und doch verfügte sie offensichtlich über gewisse Fähigkeiten, wie Jarout sie von anderen Mitgliedern der Familie kannte, insbesondere von Lucas.
Wie eine präzise geführte Klinge ließ sie ihren Geist in die Gedanken anderer Menschen gleiten und durchforschte auch den kleinsten Winkel nach einem Zeichen, das sie zu Lucas führen könnte. Und das machte sie mit derselben Rücksichtslosigkeit und Emotionskälte wie er selbst. Ein Verhalten, das Lucas nur bei dieser speziellen Betätigung an den Tag legte. Vielleicht ließ auch einfach nur ihre unschuldige Naivität sie glauben, dass die Fähigkeit auch Berechtigung bedeutete, in das Intimste einer Person einzudringen, ohne vorher um Erlaubnis zu fragen. Allerdings gewann Jarout nicht sehr oft den Eindruck, dass sie wirklich arglos war.
Ein Ereignis gegen Ende der dritten Woche bewegte ihn dann endlich, aus dem Spiegel zu kommen. Genauer gesagt provozierte Jarout den Auslöser dazu selber, denn er bat Lucas, ihm nochmals von der Zeit zu erzählen, die er in Amerika verbrachte. Er wollte sie noch einmal hören, diese Lügen über den Indianerstamm, der ihn als großen Schamanen verehrte, weil er sie mit seinen übernatürlichen Talenten und körperlicher Kraft beeindruckte.
Seine detaillierte Beschreibung und die prächtigen Ausführungen seiner Erlebnisse brachten das Fass endgültig zum Überlaufen. Noch am selben Abend war Jarout, auf diese Art in die richtige Stimmung gebracht, nach London zurückgereist, um Karen zu suchen.
Ganz nahe kam er ihr, sodass er sie hätte berühren können, wäre seine Hand aus dem Schutz der Spiegel gekrochen. Sein Herz klopfte laut vor Erregung, und sein Entschluss stand endgültig fest. Er wollte sie zum Haus der Familie bringen und durch sie, als lebenden Beweis seiner Lügen, den Betrug, den Lucas an ihnen allen begangen hatte, aufdecken.
Während er die zerfetzten Kleidungsstücke seines Opfers aufsammelte, überlegte er, wie er Karen auf eine geeignete Art und Weise gegenübertreten sollte. Schließlich konnte er sich ja nicht einfach vor sie hinstellen und einen blödsinnigen Text aufsagen. Von wegen: Tag, Karen, ich bin dein Halbbruder und ein Vampir und blablabla ...
Nein, ganz sicher nicht - viel zu plump. Dazu musste eine elegantere Methode her.
Er warf den zerstörten Körper des Mädchens in einen der Müllcontainer, die ganz hinten in der Gasse standen, und klappte den Deckel zu. Eine wesentlich einfachere Methode, als die von Lucas, der die lästige Angewohnheit hatte, die Überreste derer, die zufällig und natürlich nur ganz aus Versehen starben, zu vergraben. Jarouts Meinung nach, war das die reinste Zeitverschwendung. Bisher war noch keines der Mädchen, die er genommen hatte, als großer Mordfall in der Presse aufgetaucht. Im Grunde blieb ja auch nichts von ihnen übrig, was auftauchen konnte, und das bestätigte doch nur sein Verhalten. Warum die Sache also schwieriger machen als nötig?
Da fiel ihm etwas ein. Etwas derart Abgegriffenes und wenig Originelles, dass die Idee schon wieder beeindruckend genial war.
Zufrieden grinsend ging er zurück auf die Straße, die sich bereits weitgehend geleert hatte, was bedeutete, dass es auf Mitternacht zu ging. Gewöhnliche Spaziergänger und weniger Mondsüchtige waren in ihre sicheren Wohnungen zurückgekehrt, und die anderen hatten ihren Platz in einer der vielen Bars oder Diskotheken gefunden.
Er beschloss, seine Suche nach Karen von hinter den Spiegeln aus fortzusetzen und schlüpfte schnell und unbemerkt in die nächstbeste Schaufensterscheibe.
Durch den milchigen Vorhang der Spiegelscheibe konnte er die Straße gut überblicken, ohne selbst gesehen zu werden. So viele Menschen! Er bedauerte das telepathische Talent seines Vaters, das ihm jetzt in dieser unübersichtlicher werdenden Situation hätte helfen können, nicht auch geerbt zu haben. Im Grunde wusste er ja nicht einmal, ob Karen in dieser Nacht unterwegs war. Normalerweise wäre er nochmals zu ihr gegangen, ehe er in die Stadt aufbrach. Doch nach dem Missgeschick von vorhin wollte er lieber nichts riskieren.
Seiner Sache zu sicher, war er unvorsichtig gewesen. Bei seinem letzten Besuch beging er den Fehler, sich aus dem Spiegel zu wagen, um Karen näher zu betrachten, während sie schlief. Und dann war er nicht schnell genug verschwunden, sie wachte auf und sah ihn. Seine Befürchtung war, dass sie seine Anwesenheit jetzt spüren konnte, sobald er noch einmal in ihre Nähe kam.
Oh, Halt ...! Sein suchender Blick blieb an jenem roten Haarschopf hängen, der ihm schon so vertraut geworden war.
Mit untergeschlagenen Beinen saß Karen neben dem Eingang eines Nachtclubs am Berwick. Sie saß dort wenige Meter von der Stelle entfernt, an der die beiden Mädchen gesessen hatten, mit dem Rücken an die graue Hauswand gelehnt. Warum hatte er sie vorhin nicht entdeckt? Er war doch erst vor wenigen Minuten hier gewesen.
Sie wirkte erschöpft. Vermutlich war sie schon den ganzen Abend unterwegs. Die schwüle Nachtluft trieb ihr feine Schweißperlen auf die Stirn, und ihr lockiges Haar ringelte sich in dunklen, feuchten Strähnen auf der Haut, an ihrem Hals und in den Ausschnitt ihres Kleides hinein.
Ihr Gesicht verriet wie müde sie war, und nun konnte er endlich auch das sehen, worauf er gewartet hatte. Hoffnungslosigkeit - ein Gefühl, das sie bisher erfolgreich unter Kontrolle halten konnte. Frustration, Wut, Getriebensein, all das erlebte er schon bei ihr. Aber echte, lähmende Hoffnungslosigkeit noch nie.
Ihr anfänglicher Enthusiasmus war nun endgültig verschwunden und äußerst wirkungsvoller, enttäuschter Erwartung gewichen.
Vermutlich stellte sie sich alles viel einfacher vor. Aber was, in wessen Namen auch immer, erhoffte sie sich denn? Dass Lucas Vale zwanzig Jahre lang an ein und demselben Ort blieb? Oder das, wenn sie durch Zufall an einen von seiner Art geriet, derjenige ihr dann auch noch verriet, wo sie ihn finden konnte?
Sie mochte zwar über diverse Talente verfügen, aber offensichtlich war sie auch völlig unfähig. Ohne seine Hilfe kam sie keinen Schritt weiter, stellte er zufrieden fest und schlüpfte schnell in eine kleinere Spiegelfläche, die verborgen neben einem Hauseingang lag. Von dort aus konnte er in aller Ruhe nach einem geeigneten Kandidaten für die kleine Inszenierung, die er für sie plante, Ausschau halten.
Groß musste er sein, und hässlich - in beiden Kriterien ihn bei Weitem übertreffen. Ersteres war schwierig, aber hässlich waren sie alle.
Also los. Er glitt aus dem Spiegel heraus und ging festen Schrittes auf eine Gruppe von drei Männern in schwerer Lederkluft zu. Dem Größten von ihnen tippte er energisch auf die Schulter. Der aufdringliche Schweiß- und Ledergestank, der von der Gruppe ausging, bereitete ihm Übelkeit, und er hielt einen wohlbedachten Abstand. Der Widerling drehte sein bärtiges Gesicht zu ihm und glotzte ihn von oben herab an. Perfekt! Groß und eklig.
«Was?», brummte der Kerl.
Na, wir sind aber übel drauf, was? dachte Jarout und brachte vorsichtshalber noch einen weiteren halben Meter zwischen sich und den Herrn der Fliegen, wie er dieses abstoßende Exemplar spontan taufte.
«Ein Geschäft», erwiderte er knapp, wohl wissend, dass Höflichkeit hier nicht gefragt war, und zog drei Geldscheine aus seiner Hosentasche. «Interessiert?»
Zusammengekniffene Augen und ein gierig vorgereckter Hals verrieten unbedingtes Interesse.
«Siehst du das Mädchen dort drüben?» Jarout wies mit einem Nicken auf Karen.
«Meinst die Rothaarige?»
Jarout nickte leichthin. «Ich bin ihr Freund, und sie fand was Besseres. Meint sie jedenfalls, und ich glaube, du kannst mir helfen, sie vom Gegenteil zu überzeugen. Du machst sie an, und ich rette sie. Ich will ihr ein wenig imponieren.»
Seine Kumpane stießen sich mit den Ellenbogen an und grinsten anzüglich. Widerlich fand Jarout. Doch einmal angefangen wollte er die Sache nun auch beenden.
«Für zehn Pfund sollte es doch möglich sein, dass du sie ein wenig belästigst? Darin bist du bestimmt gut, nicht wahr? Und dann komme ich und spiele den Beschützer, klar?»
Der Typ stierte das Geld an, und Jarout zückte zähneknirschend zwei weitere Scheine, die er ihm zusammen mit den anderen mit spitzen Fingern in die speckige Jackentasche steckte. «Nun, was meinst du?», fragte Jarout. Der Kerl nickte. Ein feuchtes, ausgesprochen dämliches Grinsen, teilte seinen Bartwuchs und zeigte die Folgen des jahrelang viel zu sparsamen Einsatzes von Zahncreme.
«Du machst nicht viel Worte, he?», meinte Jarout.
«Mann, du dafür um so mehr!», antwortete der Bärtige und stapfte schnurstracks auf Karen zu.
Abwartend schlich Jarout ein Stück hinterher und gab vor, unbeteiligt ein Filmplakat zu studieren.
Die Stimmen der Leute zwischen ihnen waren zu laut, als dass er den Wortwechsel der beiden verstehen konnte. Doch was er sah, reichte vollkommen aus, um den Ablauf einschätzen zu können.
Der Kerl baute sich vor ihr auf und beugte sich, zu seinen Kameraden zurückgrinsend, langsam zu ihr herab.
Er flüsterte ihr irgendetwas ins Ohr, woraufhin sie etwas tat, womit er und auch Jarout nie im Leben gerechnet hatte. Sie verpasste ihm eine schallende Ohrfeige. Nicht eine dieser Damenohrfeigen, sondern einen derart heftigen Schlag, dass sein Kopf zur Seite flog.
Atemlos beobachtete Jarout wie er wohl auf eine derart schlagfertige Antwort reagierte. Jarout gefiel die Wut, die er in Karens Augen entdeckte. Aber noch besser gefiel ihm, dass ihr Zorn gleich darauf in Angst umschlug und sie sich mit furchtsamen Blicken nach möglicher Hilfe umsah. Sie war sicher nicht weniger erschrocken und überrascht als der Geohrfeigte selbst. Vermutlich war sie selber schockiert, zu einer derart unvorsichtigen Reaktion fähig zu sein.
Der Bärtige stierte sie eine Weile völlig fassungslos an. Doch kaum war er wieder da, packte er sie an beiden Handgelenken und riss sie grob an sich.
«Du ... Schlampe ... helfen.»
Sein Gebrüll drang in abgeschnitten Fetzen zu Jarout. Niemand reagierte auf das, was vor sich ging. Ein paar hastige, einige brüskierte Seitenblicke, doch niemand hielt an oder griff ein.
Dein Einsatz! dachte Jarout und setzte sich in Bewegung. «Hey, was soll das?» Mit hartem Griff packte er die Schulter des Hünen. Doch der beachtete ihn gar nicht und schüttelte seine Hand mit unerwartetem, nachdrücklichem Schlag ab.
«Helfen Sie mir, bitte! Dieser Scheißkerl ...», fluchte Karen, und landete prompt auf dem Boden, weil ihr »neuer Freund« sie grob beiseite schleuderte und sich Jarout zuwandte.
«Willst wohl Ärger, was?», knurrte der Widerling, während er sich drohend vor Jarout aufbaute. «Das ma klar iss, das hier geht dich 'n feuchten Scheiß an!»
Jarout war jetzt bewusst, dass die Sache ernster als beabsichtigt wurde.
«Ich bin mir nicht ganz sicher, ob die Lady sich freiwillig in deine Höhle zerren lassen wird. Eben sah mir das jedenfalls nicht danach aus, und nur das interessiert mich.»
«Spiel nich den Helden! Vergiss dein Geschäft, Sunny. Sie gefällt mir, und du hältst dich da gefälligst raus, wenn du nich deinen nächsten Imbiss mit 'nem Strohhalm schlürfen willst, klar?»
«Ich fürchte, da bist du auf dem Holzweg. Im Gegenteil!»
Jarout spürte, wie ihn echte Wut packte. Diese fiese Ratte glaubte wohl, er hätte es hier mit irgendeinem dieser Idioten zu tun, die sich für gewöhnlich bei seinem verlausten Anblick vor lauter Angst ins Hemd machten.
Blitzschnell umklammerte er den fetten Hals mit beiden Händen und hob ihn so hoch, wie es ihm eben der Länge seiner Arme wegen möglich war, was mindesten vierzig Zentimeter waren. Einige Schaulustige waren jetzt stehen geblieben, um zu gaffen. Jarout konnte ein leises Knurren nicht unterdrücken, als er sein Opfer mit dem Rücken gegen die nächste Hauswand rammte. Seine Finger bohrten sich tief in das fleischige Doppelkinn des Mistkerls und schnürten ihm die Luft ab.
«Rühr sie ja nie wieder an!» Zu jeder Silbe rammte er ihm brutal sein Knie in den Schritt, und bei jedem Stoß winselte die Ratte mit schmerzverzerrtem Gesicht auf.
Dabei brachte Jarout sein Gesicht so nah an ihn heran, dass der Bärtige seine scharfen Reißzähne deutlich sehen konnte und sein stinkendes Gesicht sie gleichzeitig vor neugierigen Blicken verbarg. Jarout witterte den beißenden Gestank von Urin, und da tropfte es auch schon aus Mister Großkotz Hosenbein auf die Straße.
«Und noch was! Komm mir nie wieder unter die Augen, verstanden! Wenn ich mit jemandem ein Geschäft abwickle, erwarte ich dessen Einhaltung, und jetzt verpiss dich, du Stück Scheiße!» Jarout lockerte seinen Griff und ließ ihn fallen «Oh, Pardon, das hast du ja schon getan.»
Schnell drehte sich Jarout suchend nach Karen um. Sie war weg, und er und der keuchende Idiot neben ihm, waren Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit.
Das hast du ja großartig hinbekommen, fuhr es durch seinen Kopf. «Shit, verdammt!», fluchte er laut.
Er versuchte ruhig zu bleiben. Wohin konnte sie gelaufen sein? Weit war sie bestimmt nicht gekommen. Gerade wollte er loslaufen, als ihn eine leichte Berührung an seinem Rücken zusammenzucken ließ. Nicht schon wieder das Arschloch! dachte er. Mit wütendem Blick wirbelte er herum, bereit diesem Idioten den Rest zu geben. Doch da stand Karen. Bis jetzt hatte sie sich abseits gehalten, um ihnen nicht in die Quere zu kommen. Er hatte sie nicht gesehen, weil die ganzen Leute herumstanden.
Erschrocken wich sie einen Schritt zurück, doch ihr Blick hielt seinem trotzig stand.
«Hm?!», murmelte sie.
«Hm?» Er musste lachen, als erleichterte Reaktion, dass er sie nicht aus den Augen verloren hatte. «Was soll das denn heißen?»
«Danke!»
Ihm gefiel dieses leise Danke. Verriet die sanfte Zurückhaltung doch eine Menge über sie. Keine unnötigen Worte, kein überschwängliches Geplänkel. Das gefiel ihm.
«Keine Ursache», antwortete er und rückte seine Kleidung in gespielt übertriebener Geste zurecht, «so was mach ich doch ständig», grinste er, «bist du okay?»
Sie nickte. «Nichts passiert.»
«Gut, eh! Vielleicht, also, ich dachte mir ... hast du ... ich meine nur, wenn du willst. Da vorne ist eine prima Bar, und vielleicht darf ich dich auf den Schreck hin einladen?»
Mit einem Mal fühlte er sich schrecklich verlegen. Ob das nun an ihrem prüfenden Blick, oder an seiner eigenen Anspannung lag, jedenfalls beschlich ihn das sichere Gefühl, dass sie in genau diesen Sekunden alles und vor allem ihn durchschaute. Doch er war überrascht, dass sich ihre Nähe ganz anders anfühlte, so als wenn Lucas in ihn hineinsah. Ihre Berührung war ein zartes Tasten, das seine Sinne betäubte und ihm einen wohligen Schauer den Rücken hinab jagte.
«Vielleicht?», flüsterte sie.
Als er sich zum Gehen wandte, folgte sie ihm.
Die Show begann.