88.
Willa saß Sean, Michelle und Gabriel gegenüber. Sie hatte die Hände in den Schoß gelegt und den Kopf gesenkt. Sie befanden sich in dem Haus, das Tuck gut eine Meile von ihrem alten Zuhause entfernt angemietet hatte. Das alte Haus stand inzwischen zum Verkauf. Keiner von ihnen wollte dorthin zurück. Tuck saß neben seiner Tochter und hatte schützend den Arm um sie gelegt.
»Es tut mir leid, dass deine Ma gestorben ist«, sagte Gabriel, ohne Willa direkt anzusehen. Er trug ein neues weißes Poloshirt und Jeans, und in der Hand hielt er eine Baseballkappe der Atlanta Falcons, die Sean ihm als Ersatz für die Kappe gekauft hatte, die im Feuer verbrannt war. Die andere Hand hatte er in die Tasche gesteckt und die Finger um den einzigen Gegenstand geschlossen, der das Inferno überlebt hatte: die Lady-Liberty-Münze, die Sam Quarry ihm auf den Nachttisch gelegt hatte, bevor er Atlee für immer verlassen hatte.
»Mir tut das mit deiner Mom auch leid«, sagte Willa. »Du warst sehr tapfer in der Mine. Ich glaube, ohne dich wäre ich jetzt nicht mehr am Leben.«
Gabriel schaute zu Sean. »Er hat mich rausgezogen. Ohne Mr. Sean hätte ich es nicht geschafft.«
Willa schaute sich in ihrem vorläufigen Heim um, ehe sie sich wieder Gabriel zuwandte. »Er hatte eine Tochter. Sie hieß Tippi.«
»Ja. Sie war sehr krank. Mr. Sam hat mich ihr immer vorlesen lassen.«
»Jane Austen. Er hat es mir erzählt.«
»Hat er dir viel von ihr erzählt, Willa?«, fragte Sean.
»Nicht viel, aber ich wusste, dass er viel an sie denkt. So etwas weiß man einfach.« Sie schaute zu ihrem Vater. »Ich habe einmal versucht zu fliehen. Fast wäre ich dabei vom Berg gefallen. Er hat mich gerettet. Mr. Sam hat mich im letzten Moment festgehalten.«
Tuck war sichtlich nervös. »Das ist jetzt alles Vergangenheit, Willa. Du musst nicht mehr daran denken. Es ist vorbei.«
Willa knetete ihre Hände. »Ich weiß, Dad, aber ein Teil von mir ...« Sie beugte sich vor. »Er hat seine Tochter verloren, nicht wahr? Er hat Tippi verloren.«
Michelle und Sean warfen sich einen raschen Blick zu. »Ja«, sagte Sean. »Aber ich glaube, dein Dad hat recht. Du solltest nicht mehr so viel darüber nachdenken.«
Tuck musterte Gabriel. Es war offensichtlich, dass es dem Mann nicht gefiel, mit jemandem aus Quarrys Umfeld im gleichen Zimmer zu sein, auch wenn es sich bei diesem Jemand nur um einen kleinen Jungen handelte. »Der Junge wohnt also bei euch, ja? Und? Klappt es?« Sein Tonfall ließ erkennen, dass er nicht daran glaubte.
»Es funktioniert großartig«, antwortete Michelle im Brustton der Überzeugung. »Wir haben ihn für nächstes Jahr hier in der Schule angemeldet. Er kommt in den Algebra-Leistungskurs, obwohl er erst in der siebten Klasse ist, und seine Fremdsprachenkenntnisse sind phänomenal«, sagte sie stolz.
»Spanisch und Indianisch«, fügte Sean hinzu.
»Das ist toll«, sagte Tuck, obwohl er es nicht so meinte.
»Ja, das ist wirklich toll«, sagte Willa und schaute wieder zur Gabriel. »Du musst sehr klug sein.«
Gabriel zuckte mit den Schultern. »Weiß ich nicht. Ich muss aber noch viel lernen, und hier oben ist alles ...«
»Anders?«, sagte Willa. »Da kann ich dir helfen.«
Tuck stieß ein hohles Lachen aus. »Warte mal, Liebes. Du wirst selbst genug zu tun haben. Außerdem bin ich sicher, dass Mr. King sich gut um den Jungen kümmern wird.«
Michelle blickte zu Willa. »Danke für das Angebot, Willa. Das war wirklich nett von dir.« Dann schaute sie ihrem Dad in die Augen. »Und wer weiß, vielleicht werdet ihr zwei eines Tages ja richtig gute Freunde.«
Später nahm Tuck Sean und Michelle beiseite, während Willa Gabriel ihr Zimmer zeigte. »Ich kann euch gar nicht sagen, wie dankbar ich euch bin für das, was ihr getan habt. Willa hat mir alles erzählt. Meine Güte! Es ist ein Wunder, dass sie überlebt hat ... dass überhaupt einer von euch überlebt hat.«
»Du willst das vermutlich nicht hören, aber es war Sam Quarry, der in die Mine zurückgegangen ist und Willa gerettet hat. Wäre er nicht gewesen, wäre sie jetzt nicht hier.«
Tuck lief rot an. »Ja ... nun ... Hätte dieses Arschloch erst gar nichts getan, wäre Willa überhaupt nicht in der Mine gewesen, und Pam würde noch leben.«
»Da hast du recht. Hast du in letzter Zeit mit deiner Schwester gesprochen?«
Tuck furchte die Stirn. »Nicht allzu viel. Dan wollte Willa auf eine kleine Tour bei seiner Wahlkampagne mitnehmen. Aber ...«
»Aber du hast dir gedacht, das sei ein wenig zu ausbeuterisch?«, sagte Michelle.
»So was in der Art, ja.«
»Die Kinder brauchen dich jetzt, Tuck«, sagte Sean. »Du solltest deinen Partner, David Hilal, eine Zeit lang die Firma leiten lassen.« Er hielt kurz inne. »Aber halte dich von seiner Frau fern.«
Bevor ein überraschter Tuck etwas darauf erwidern konnte, legte Sean ihm die Hand auf die Schulter und fügte hinzu: »Und solltest du auch nur in die Nähe von Cassandra Mallory kommen, schneide ich dir die Eier ab, du verdammter Hurensohn.«
Tuck lachte auf, bevor ihm klar wurde, dass Sean es todernst meinte.
Als sie später zu ihrem Wagen gingen, kam Willa zu ihnen gelaufen. Sie reichte ihnen drei Umschläge.
»Was ist das?«, fragte Michelle.
»Dankbriefe«, antwortete Willa. »Für alles, was Sie für mich getan haben.«
»Liebes, das musstest du doch nicht tun.«
»Meine Mom hat immer gesagt, man müsse Dankbriefe schreiben. Außerdem wollte ich es.«
Gabriel hielt seinen Umschlag fest, als wäre er das wertvollste Geschenk, das er je bekommen hatte. »Das ist nett von dir, Willa. Danke.«
Willa schaute mit großen Augen zu ihnen auf. »Ich hasse Mr. Sam für das, was er meiner Mom angetan hat.«
Gabriel senkte sofort den Blick und wich einen Schritt zurück.
Michelle sagte: »Ich weiß, Süße. Ich glaube zwar nicht, dass er das beabsichtigt hat, aber es war trotzdem seine Schuld.«
»Aber kurz bevor er mich freigelassen hat, hat er mir gesagt, wenn man jemals lieben will, muss man auch bereit sein zu hassen. Ich nehme an, das heißt, wenn jemand einem Menschen wehtut, den er liebt, dann hasst er diesen Menschen. Das ist nur natürlich.«
»Da hast du wohl recht«, sagte Sean ein wenig nervös. Er wusste nicht, worauf das hinauslief.
»Ich glaube, Mr. Sam hat seine Tochter geliebt.«
»Das glaube ich auch«, erwiderte Michelle leise und rieb sich das linke Auge.
»Ja, das hat er«, sagte Gabriel. »Das steht fest.«
»Und weil jemand ihr wehgetan hat, hat er sie gehasst.«
»Das stimmt vermutlich«, sagte Sean.
»Aber dann hat er gesagt, man müsse den Hass auch wieder loslassen, sonst würde einen das innerlich zerreißen, und man könne nicht mehr lieben.« Willa schaute zu Gabriel, als sie das sagte. Die beiden Kinder blickten einander lange in die Augen.
»Ich glaube, Mr. Sam hatte recht, Willa. Das gilt für uns beide.« Eine Träne fiel auf Gabriels neues Hemd, und auch Willa rannen Tränen über die Wangen.
Michelle drehte sich weg, und Sean atmete durch, als Willa sie mit großen, traurigen Augen anschaute.
»Deshalb werde ich ihn jetzt nicht mehr hassen«, sagte das kleine Mädchen.
Michelle stieß ein Schluchzen aus und trat einen Schritt zurück. Sie versuchte sich hinter Sean zu verstecken, der ebenfalls Mühe hatte, die Tränen zurückzuhalten.
»Okay, Willa«, sagte Sean mit heiserer Stimme. »Das ist vermutlich eine gute Idee.«
Willa umarmte alle drei und lief dann wieder ins Haus.
Sean, Michelle und Gabriel standen eine Weile einfach nur da. Schließlich sagte Gabriel: »Sie ist eine wirklich gute Freundin.«
»Ja«, pflichtete Michelle ihm bei. »Das ist sie.«
***
Am Wahltag wurde Dan Cox, gestärkt durch seinen Heldenmut und der dramatischen Rückkehr seiner geliebten Nichte, zum zweiten Mal ins Amt gewählt. Sein Vorsprung war der größte, den es bei einer Präsidentschaftswahl je gegeben hatte.
Zwei Monate nach der Amtseinführung veröffentlichte Martin Determann, der Tag und Nacht an der Story seines Lebens gearbeitet hatte, einen neunseitigen Exklusivartikel in der Washington Post. Auf der Grundlage von Quarrys langjährigen Ermittlungen hatte Determann ein professionelles Stück investigativen Journalismus verfasst, das von soliden Beweisen untermauert war. Tatsächlich war seine Story so gut recherchiert und belegt, dass sie auf der ganzen Welt aufgriffen wurde. Weitere Recherchen von anderer Seite brachten noch weit mehr Geheimnisse aus Dan Cox' Vergangenheit ans Tageslicht.
Determann wurde für den Pulitzer-Preis nominiert.
Das Ergebnis war eine wahre Flutwelle der Wut gegen Dan und Jane Cox. Der Volkszorn war so groß, dass ein gedemütigter Cox sich an einem düsteren Apriltag in einer Rede aus dem Oval Office an das amerikanische Volk wandte und verkündete, dass er mit Wirkung des folgenden Tages, zwölf Uhr mittags, von seinem Amt zurücktrete.
Und das tat er dann auch.