21.

Das Fahrwerk der Cessna setzte auf der gepressten Erde mit der Grasnarbe auf. Sam Quarry ließ die Maschine über die improvisierte Landebahn rollen, lenkte mit den Pedalen und drehte das Flugzeug geschickt herum. Schließlich stieg er aus und warf sich den Rucksack über die Schulter. Nachdem er Keile unter die Räder geschoben hatte, öffnete er die Außentür der alten Mine. Dann stapfte er im Licht seiner Taschenlampe und vereinzelter Glühbirnen den Tunnel hinunter.

Ein paar Minuten später traf er sich mit Carlos und Daryl.

»Habt ihr euch um Kurts Leiche gekümmert?«, fragte er.

Daryl senkte den Blick, doch Carlos antwortete: »Wir haben ihn im Südschacht begraben und ein Gebet für ihn gesprochen. Es war alles sehr pietätvoll.«

»Gut.« Quarry schaute zu seinem Sohn. »Hast du irgendwas daraus gelernt, Junge?«

Daryl nickte steif. »Verliere nie die Kontrolle.«

Quarry schlug seinem Sohn auf den Rücken und grub dann die starken Finger in die Haut des jungen Mannes. »Wenn du noch mal die Beherrschung zu verlieren drohst, denk an den Preis, den Kurt bezahlt hat. Vergiss das nie. Niemals. Denn ich hätte genauso gut Kurt davonkommen lassen können. Dann hätten er und Carlos das Vaterunser über deinem Loch im Dreck gesprochen. Hast du verstanden?«

»Ja, Daddy.«

»Ein kleines Stück von mir ist mit ihm gestorben«, sagte Quarry. »Vielleicht sogar mehr als nur ein kleines Stück. Durch diese Tat habe ich mich selbst zur Hölle verdammt. Vergiss auch das nicht.«

»Ich dachte, du glaubst nicht an Gott«, sagte Daryl leise, während Carlos zuschaute und seinen Christophorus-Anhänger befingerte.

»Vielleicht glaube ich nicht an Gott, aber an den Teufel.«

»Ja, Daddy.«

»Ich erwarte, dass die Regeln befolgt werden, die ich aufstelle. Nur so läuft der Laden. Klar?«

»Jawohl, Sir«, sagte Carlos, der aufhörte, an seinem Medaillon herumzufingern und es wieder unter seinem Hemd verschwinden ließ.

Quarry verließ die Männer und ging weiter. Eine Minute später saß er Willa gegenüber, die eine Cordhose und ein Wollhemd trug, beides von Quarry zur Verfügung gestellt.

»Hast du alles, was du brauchst?«, erkundigte er sich.

»Ich hätte gerne ein paar Bücher«, sagte Willa. »Es gibt hier nichts zu tun, darum würde ich gerne lesen.«

Quarry lächelte und öffnete seinen Rucksack. »Das dachte ich mir schon.« Er nahm fünf Bücher heraus und reichte sie dem Mädchen. Willa musterte sie eingehend.

»Magst du Jane Austen?«, fragte Quarry.

Willa nickte. »Sie ist zwar nicht meine Lieblingsautorin, aber bis jetzt habe ich auch nur Stolz und Vorurteil gelesen.«

»Das war das Lieblingsbuch meiner Tochter.«

»War?«

Quarry versteifte sich ein wenig. »Sie liest nicht mehr.«

»Ist sie tot?«, fragte Willa mit der entwaffnenden Offenheit der Jugend.

»Einige nennen es so.« Quarry deutete auf die anderen Bücher. »Ich weiß, dass du sehr klug bist. Also habe ich auf den ganzen Müll verzichtet. Du bist vermutlich darüber hinaus. Aber lass mich wissen, ob dir die Bücher gefallen oder nicht. Ich habe noch jede Menge.«

Willa schaute sich die Bücher an. »Kann ich auch Papier und Stift haben? Ich schreibe gerne. Und es würde mich ablenken.«

»Klar.«

»Haben Sie mit meinen Eltern gesprochen? Sie haben gesagt, Sie würden mit ihnen reden.«

»Ich habe ihnen eine Nachricht geschickt, dass es dir gut geht.«

»Werden Sie mich umbringen?«

Quarry zuckte zusammen, als hätte Willa ihn geschlagen, und irgendwie war es auch so. Es dauerte eine Weile, bis er seine Sprache wiedergefunden hatte. »Wie kommst du denn auf die Idee?«

»Manchmal geben Entführer ihr Opfer nicht mehr frei. Sie bringen es um.« Willa hielt den Blick ihrer großen Augen fest auf Quarry gerichtet. Offensichtlich hatte sie nicht die Absicht, das Thema einfach auf sich beruhen zu lassen.

Quarry rieb sich mit der schwieligen Hand übers Kinn. Dann schaute er sie an, als sähe er sie zum ersten Mal. Es war die gleiche Hand, die Kurts Leben beendet hatte, also hatte das Mädchen vielleicht gar nicht mal so unrecht. Ich bin ein Mörder.

»Ja«, erwiderte Quarry schließlich, »ich verstehe, wie du auf diesen Gedanken kommst. Aber wenn ich vorhätte, dich umzubringen, könnte ich einfach lügen. Was also kümmert es dich?«

Willa war auf dieses kleine Logikduell vorbereitet. »Aber wenn Sie mir sagen, dass Sie mich töten wollen, ist es vermutlich die Wahrheit. Warum sollten Sie lügen?«

»Verdammt, manche Leute sind einfach klüger als ihnen guttut.«

Willas Unterlippe zitterte leicht, als sie sich von Einstein wieder in den verängstigten Teenager zurückverwandelte, der sie war. »Ich will nach Hause. Ich will meine Eltern sehen, und meinen Bruder, meine Schwester. Ich hab nichts falsch gemacht.« Tränen traten ihr in die Augen. »Ich hab nichts falsch gemacht. Deshalb verstehe ich auch nicht, warum Sie das tun. Ich verstehe es einfach nicht!«

Quarry senkte den Blick. Er konnte nicht in diese großen, verweinten Augen voller Angst blicken. »Es geht hier nicht um dich, Willa. Es ist nur ... Nur so kann das funktionieren. Ich habe mir viele Möglichkeiten überlegt, und das hier ist die einzige Chance, die ich hatte, die einzigen Karten, die ich ausspielen konnte.«

»Worauf sind Sie denn so wütend? Wem wollen Sie es heimzahlen?«

Quarry stand auf. »Wenn du mehr Bücher haben willst, lass es mich wissen.«

Er floh aus dem Raum und ließ Willa mit ihren Tränen alleine. In seinem ganzen Leben hatte er sich noch nie so geschämt.

Ein paar Minuten später beäugte Quarry Diane Wohl, die ihm gegenüber auf den Fersen in einer Ecke ihrer »Zelle« hockte. Auch mit ihr hätte er Mitleid haben sollen, aber dem war nicht so. Willa war ein Kind. Sie hatte nie die Möglichkeit gehabt, eigene Entscheidungen zu treffen oder Fehler zu machen. Diese Frau hier hatte beides getan.

»Darf ich Ihnen eine Frage stellen?«, fragte Wohl mit zitternder Stimme.

Quarry setzte sich an den kleinen Tisch in der Mitte des Raumes. Ein Teil von ihm war noch immer bei Willa; aber er sagte: »Bitte sehr.«

»Darf ich meine Mutter anrufen? Ich will sie nur wissen lassen, dass es mir gut geht.«

»Das geht leider nicht. Heutzutage kann man alles zurückverfolgen. Die Regierung hat ihre Augen sogar im All. Tut mir leid, aber so ist das nun mal.«

»Können Sie ihr wenigstens sagen, dass ich okay bin?«

»Kann ich machen. Geben Sie mir die Adresse.«

Quarry reichte Diane einen Stift und Papier. Diane legte die Stirn in Falten, als sie die Adresse niederschrieb und das Papier zurückgab. Dann fragte sie: »Warum haben Sie mir Blut abgenommen?«

»Ich brauchte es.«

»Wofür?«

Quarry schaute sich in dem kleinen Raum um. Es war zwar kein schickes Hotel, aber Quarry hatte schon an schlimmeren Orten gewohnt. Er hatte sich bemüht, der Frau alles zu bieten, was sie brauchte, um sich einigermaßen wohlzufühlen.

Ich bin nicht böse, dachte Quarry. Wenn er sich das noch öfter sagte, würde er es irgendwann vielleicht sogar glauben.

»Darf ich Ihnen auch eine Frage stellen?«

Diane schien überrascht, nickte aber.

»Haben Sie Kinder?«

»Nein. Warum?«

»Nur so.«

Diane rückte näher an ihn heran. Wie Willa, so hatte auch sie sich umgezogen. Quarry hatte die Kleider mitgebracht, die Diane bei Talbot's gekauft hatte. Sie passten ausgezeichnet.

»Werden Sie mich gehen lassen?«, fragte sie.

»Das hängt davon ab.«

»Von was?«

»Wie es läuft. Ich kann Ihnen allerdings versichern, dass ich von Natur aus nicht gewalttätig bin. Aber ich kann nicht in die Zukunft blicken.«

Diane setzte sich Quarry gegenüber an den Tisch und verschränkte die Hände.

»Ich habe nicht die leiseste Ahnung, was ich in meinem Leben getan haben könnte, das Sie zu dem hier hätte verleiten können. Ich kenne Sie ja nicht mal. Was habe ich getan, womit ich das hier verdient habe?«

»Ich wüsste da schon was«, sagte Quarry.

Diane hob den Blick. »Was denn? Sagen Sie es mir!«

»Denken Sie selbst darüber nach. Zeit genug haben Sie ja.«